Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Morgenländisches und abendländisches Denken als Wege zum Sinn
Erkenntnis
Zunächst sei bekannt: die Aufgabe, so wie ich sie mir hier stelle, schließt ohne Zweifel eine erhebliche Gewaltsamkeit ein. Vielleicht gibt es ein festbestimmbares, in allem Wesentlichen gleichartiges Abendland — sämtliche Asiaten behaupten es, führen auf die Gleichartigkeit aller Europäer des Westens ungeheuere Macht zurück, während die Erfahrung des Weltkriegs uns bewiesen hat, wie unmöglich es unter Umständen nächstverwandten oder -benachbarten Völkern wird, ihren gegenseitigen Mentalitäten gerecht zu werden —, ein einheitliches Morgenland gibt es ganz sicher nicht; nie wird es gelingen, islamisches, indisches, chinesisches Wesen auf einen gegenständlichen Generalnenner zu bringen. Die Welt des Islam ist der unseren nahe verwandt1. Gleich uns vom Judentum ihren geistigen Ausgang nehmend, ursprünglich nichts anderes als eine puristische Fortschrittsbewegung innerhalb der byzantinisch-christlichen und der dieser nächstverwandten und -benachbarten asiatischen Welt bedeutend, hat sie sich seither in von der unseren nur wenig abweichender Richtung fortentwickelt, so dass auch von den abliegendsten Endetappen beider Bewegungen her keine Schwierigkeit gegenseitiger Verständigung besteht. Mit den Indern gelingt solche unschwer bis zu einem gewissen Punkte dem, welcher geistig Deutscher, seelisch Russe ist, und dessen Spiritualität durch den Katholizismus gebildet ward — jenseits jenes Punktes setzt auch für solchen Ausnahme-Europäer das durch seine gewohnten Begriffsmittel Unbewältigbare ein. Nun aber die chinesische Denkart! Gebildete Chinesen denken normalerweise von einer Bewusstseinslage aus welche wir bewusst nicht kennen. Daran gewöhnt, dasjenige, was sie meinen, niemals auf unsere Art zu explizieren, sondern in gleichsam algebraischen Beziehungssymbolen nicht allein zu schreiben, sondern zu denken — Begriffsmitteln, welche die Gedanken sozusagen im Zustand der Geburt erfassen —, verfügen sie nicht allein über eine Kombinationsfähigkeit nach außen zu, sondern über eine innere Fähigkeit, den Geistesprozess im Unterbewusstsein zu erledigen, welche ihnen unsere umständlichen Verständigungsmittel entbehrlich erscheinen lassen. Jenes instinktive unmittelbare Zusammenschauen des Sinns in der Verzweigtheit seiner Verkörperungen, welches bei uns den seltenen Ausnahmegeist charakterisiert, bedeutet selbstverständliches Können jedes gebildeten, der höheren Grade des Schreibens und Lesens mächtigen Chinesen, denn ohne jenes können diese Künste in China überhaupt nicht ausgeübt werden. Eine unmittelbare Verständigung mit Chinesen von unseren gewohnten Ausdrucksmitteln her ist also schon deshalb ausgeschlossen, weil das chinesische Denken sich auf anderer Bewusstseinsebene bewegt. — Sieht man andererseits von den skizzierten Unterschieden ab, so erscheinen östliches und westliches Denken wiederum gleichsinnig, als menschliches Denken überhaupt; dieses ist zunächst eine bestimmte, allen Menschen eigentümliche Lebensäußerungsart, überall der gleichen biologischen Deutung fähig2. Man sieht: es hält sehr schwer, den im Thema vorausgesetzten Unterschied durchaus aufrechtzuerhalten. Nur in einem Zusammenhang gelingt dies: dem der Erkenntnis in philosophischem Verstand; einen Anhaltspunkt gibt es und nicht mehr, von dem aus das morgenländische dem abendländischen Denken als Ganzes und als Einheit gegenüber gestellt werden kann. Nun, um dieses einzigen Ansatzpunktes willen habe ich das Thema gewählt, das ja nur dazu dienen soll, uns über sich selbst hinauszuführen. Wie alle bekannt, steht jeder Orientale, auch der materiellste, dem Äußeren des Lebens grundsätzlich gleichgültiger gegenüber als wir; nie z. B. stellt er sein inneres Unendlichkeitsstreben als Expansionswillen in die Erscheinungswelt hinaus3. Soviel gilt von jedem Eingeborenen des Orients, ist also wohl klimatisch mitbedingt. Der gleiche Umstand gibt nun auch allem philosophischen Denken des Ostens ein gemeinsames Charakteristikum. Während das abendländische selbst im Höchstfall als Mittel zum Zweck erscheint, erscheint es dort typischerweise als allgemeine Lebensform. Hieraus ergibt sich denn eine prinzipielle Unvergleichbarkeit der beiderseitigen gedanklichen Endprodukte, die sich in nicht nur relativer, sondern in absoluter Unübersetzbarkeit äußert. Diese Unvergleichbarkeit ergibt aber ihrerseits das Dasein von zwei geistigen Koordinaten, die auf die Möglichkeit eines neuen, tieferen Bezugszentrums zurückweisen.
1 | Vgl. hierzu und zu den folgenden Ausführungen mein Reisetagebuch. Die Zugehörigkeit des Islam zum westlichen Kulturkreis hat neuerdings C. H. Becker in seiner Studie Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte (Zeitschrift der Deutschen morgenländischen Gesellschaft 76, 1922) im einzelnen erwiesen. |
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2 | Vgl. hierzu den Epilog zu meinem Gefüge der Welt. |
3 | Vgl. hierzu die ersten Amerika Abschnitte meines Reisetagebuchs. |