Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Was uns nottut
Eine neue Synthese von Geist und Seele
So sinkt die westliche Menschheit unaufhaltsam aus dem Kosmos ins Chaos zurück. Das kann nicht anders sein, eben weil die Seelenwelt zersetzt ist oder sich zersetzt. Der Weltkrieg wurde gemäß der Definition, dass Krieg Krieg ist (a = a), nach rein militärischen Gesichtspunkten, ohne jede anderweitige Rücksicht (also, rein verstandesgemäß betrachtet, ideal) geführt, mit dem Erfolg, dass er die Menschen, wie keiner je zuvor, vertiert hat, weil eben die bloß verstandesgemäße Form keine Möglichkeit bot, die Leidenschaften in geregelte Bahnen zu lenken. Desgleichen begannen die großen inneren Umwälzungen der letzten Jahre im Zeichen millennialer Erwartung: alles sollte, musste besser, vollkommen werden. Tatsächlich aber setzte bald ein Kampf aller gegen alle ein auf der Ebene der niedersten Natur, der um vieles vorsintflutlicher wirkt als der Mythos von den Titanenkämpfen: die Ideale waren freilich hoch, aber alle die seelischen Gebilde, welche jene in konkreten Zusammenhang mit dem Leben, wie es nun einmal ist, hätten bringen können, erwiesen sich als vernichtet, so dass der immer wachen niederen Natur keinerlei Schranken gesetzt erschienen und die Ideale, wenn nicht in Vergessenheit gerieten, so doch jede praktische Wirkungsmöglichkeit verloren. Wir leben heute in einer Periode unaufhaltsam sich steigernder Barbarei. Wie Gestalt überhaupt den Organismus macht, so ist ausgeprägte Form die Grundvoraussetzung jedes höheren Lebens. Das, was dem Verstand als Vorurteil erscheint und dieses häufig auch ist, ist andererseits Körper des Seelenlebens und muss, wo seine Wirkung sich als günstig erwies, so lange als bestmöglicher Körper gelten, bis dass der tiefer erfasste Sinn dem vorhandenen Gehalt eine höhere Körperbildung ermöglicht. Heute nun gibt es wohl vielerlei Verstandesgestaltungen, aber überhaupt keine anerkannte Seelenform; es gibt Millionen, die einer Weltanschauung fanatisch anhängen, aber unter diesen nur ganz wenige, bei denen der Glaubensinhalt das Leben von innen heraus gestaltet hätte. Dies illustriert, schreckhaft deutlich, gerade der Sozialismus, dessen Jüngerschaft in ihrer überwältigenden Mehrheit von sozialer Gesinnung weniger spüren lässt, als gleiches von seinen beschränktesten Gegnern gilt; ohne Zweifel ist es heute die sozialistische, also die Welt, welche die weitestverstandene Solidarität als Ideal bekennt, welche das Schauspiel schrankenlosester Selbstsucht bietet. Es gibt eben keinerlei Hemmungen mehr, die einen Verlass böten, keine Dogmen, keine Glaubenssätze, keine Ehrbegriffe. Und da nur die höchstentwickelte Seele ohne Namen und Form
ihre Vollkommenheit finden kann, so bewirkt dies einen kaum dagewesenen Niedergang alles Seelenlebens.
Was ist hiergegen zu tun? — Überall sieht man Reaktionsbewegungen entstehen. Aus der richtigen Erkenntnis heraus, dass das Frühere besser war als das Gegenwärtige, sieht man viele der Besten einer Restauration jenes zustreben, sei es auf politischem, religiösem oder ethischem Gebiet. Aber dies bedeutet aus zwiefachem Grunde ein Missverständnis. Erstens sind viele der alten Lebensformen so gründlich tot, dass eine Wiederbelebung ausgeschlossen erscheint. Von den zeitweilig erledigten aber, welche, grundsätzlich betrachtet, wiederaufleben könnten, weil ihre Vitalität noch nicht erschöpft ist, werden es sehr viele deshalb nicht tun, weil bis zu ihrer möglichen Wiederauferstehung zu viel Zeit dahingehen dürfte. Im Venedig von 1812 erinnerte man sich kaum mehr der Beherrscherin der Meere: was einer vor seinem 14. Lebensjahre erlebt, bedeutet ihm wenig; so werden Folgen zufälligen Umsturzes leicht zur selbstverständlich anerkannten Voraussetzung. Dies gilt nicht bloß für politische Umstürze, sondern für ganze Kulturwenden. — Zweitens aber könnte eine Restauration des Früheren schon deshalb nicht gelingen, weil der Verstand sowohl im Verurteilen, jenes als auch im Wesentlichen dessen, was er positiv anstrebt, soweit seine Sphäre in Betracht kommt, absolut im Recht ist. Wir sehen geistig wirklich klarer und weiterhin als unsere Vorfahren, die Ideale, welche der emanzipierte Intellekt als Forderungen aufstellt, sind unzweifelhaft hoch, und wer nur die Theorie beachtet, muss anerkennen, dass die Fortschrittler tatsächlich für den Fortschritt kämpfen. Dass sie solchen nicht faktisch herbeiführen, liegt nicht an ihren Programmen, sondern an anderen, außerintellektualen Umständen. Wer nach Restauration eines früheren Zustandes strebt, begeht daher offenbar einen Fehler in der Fragestellung. Wenn eine bestimmte seelische Form, zum Teil auf Geistesblindheit begründet, besser war als die heutige Formlosigkeit, so folgt hieraus nicht notwendig, dass jene wiederherzustellen sei: es folgt hieraus vielmehr, dass die Bestandteile des inneren Menschen, nun deren frühere Harmonie zerstört ist, sich zu neuer Wohlgestalt zusammenschließen müssen. Hat der Verstand eine gegebene Seelenform zersetzt, so ist es Aufgabe, eine neue zu bilden, einer weiteren und tieferen Geisteseinsicht gemäß. Das Ideal wäre ein vollkommenes Seelenleben, welches gleichzeitig vollkommenem Wissen entspräche, also nicht eigentlich ein vorurteilsfreies Menschentum, sondern ein solches, dessen Vorurteile sämtlich zugleich richtig wären. Hier, in der Tat, liegt die Aufgabe. Eine neue Synthese von Geist und Seele tut uns not. Eine Synthese, welche die verschiedenen Teile des Menschen nicht dem zurückgebliebenen, sondern dem am weitesten entwickelten zu, aufs neue ins Gleichgewicht brächte.