Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Was uns nottut

Leben in Form des Wissens

Die Grundtonänderung, die allein die verendende europäische Menschheit noch erretten kann, besteht in der Rückbeziehung aller Gestaltung auf den Sinn und in der Zentrierung des bewussten Gesamtlebens in dessen Reich. Diese Aufgabe stellt sich, seitdem es Menschen gibt, zum erstenmal, denn Sinneserfassung im hier geforderten Verstand war früher nicht möglich. Heute stellt sie sich aber gebieterisch, weil nur der angeschlagene tiefere Grundton überhaupt zu neuer Melodiebildung führen kann. Dass dem aber also ist, ist andererseits erfreulich, denn es beweist, dass die heutige Krisis sich in echten Fortschritt auflösen kann, nicht in bloße Veränderung. Hier bleibe man ja nicht bei halber Einsicht stehen. Wenn die Religiosität im Argen liegt, auf der Ebene des Köhlerglaubens nimmermehr eine dauernde historisch-bedeutsame Wiederbelebung erfahren wird, andererseits aber Verstehen des Sinns der Religion den Menschen unmittelbar mit der Gottheit neuverbindet, so bedeutet dies einen unbedingten Fortschritt in der Geistesentwicklung. Wenn die überkommenen Moralbegriffe zersetzt sind, Verständnis für den Sinn des sittlichen Strebens jedoch Gleiches und Besseres erzielt, wie vormals Bindung durch blindgeglaubte Gebote, so bedeutet dies, dass die Menschheit aus der Gebundenheit unaufhaltsam auf die Stufe steigt, auf der vollendete Selbstbestimmung möglich wird. Wenn keine Einzelgestaltung als solche mehr ernstgenommen wird, was zunächst freilich chaotische Zustände zur Folge hat, Verständnis des Sinns der Formen indessen bewirkt, dass ohne Namen und Form ein gleicher Kosmos erzielt wird, wie früher nur vermittels ihrer, so tritt damit zutage, dass die Menschheit reif dazu wird, ihren Seins, und Bewusstseinsmittelpunkt oberhalb der Gestaltung zu haben und damit ihr Dasein ganz und gar im Reich der Freiheit zu begründen. Die Richtung der neuesten Entwicklung führt, in der Idee, unzweifelhaft Höchstem zu. Uns kommt es aber vor allem auf die Verwirklichung des ideell Möglichen an. Diese gelingt nie ohne zielbewusstes Wollen. Deshalb gilt es, innerhalb des Geisteslebens bewusstermaßen den Bedeutungsakzent auf das zu legen, was jetzt vor allem not tut, und praktisch entsprechend zu handeln.

Folgendes ist zu begreifen und in Taten umzusetzen. Die ausschlaggebende Geistesmacht für diese Zeit ist nicht die Religion, sondern die Philosophie. Der offizielle Bedeutsamkeitsakzent ist daher auf diese zu verlegen. Die Philosophie, auf die es ankommt, ist aber ihrerseits nicht das, was sie die letzten Jahrhunderte über gewesen: sie ist keine exzentrische Geistesbetätigung, sondern Leben in Form des Wissens. Das Ziel des Philosophen liegt jenseits aller Kritik, im Bewusstsein jenes tiefsten Lebensgrundes, der alle Gestaltung von innen her bedingt1. Dieser ist zu erreichen. Es ist möglich, durch Selbstvertiefung einen Bewusstheitsgrad zu erringen, der die Hilfskonstruktionen der Vernunft, welcher Logik und Theoretik in hohem Grade überflüssig, den Wahrheitssucher zum ursprünglich Wissenden macht: einen Bewusstheitsgrad, durch den der Geist den Irrungen der reflektiven Erkenntnis physiologisch überlegen wird, wo Denken und Sein insofern eins werden, als jenes, anstatt dieses bloß mehr oder weniger verzerrt zu spiegeln, zu dessen unmittelbarem Ausdrucksmittel wird. Dieses Ziel wird aber damit erreicht, dass das Leben in seiner Ganzheit ins Bewusstsein hineinbezogen, dass die Synthesis a priori jenes in diesem gespiegelt wird; dass der erkennende Geist somit seiner parasitären Stellung verlustig geht, und, verwurzelt in allen Tiefen der Seele, als sein Mittelpunkt den ganzen Menschen regiert. — Diese Form einer lebendigen, nicht abstrakten, Philosophie ist selbständig zu begründen, indem ihr einzig gemäßen äußeren Rahmen. Endlich ist das lebendige Weisentum, auf das es ankommt, sowohl an sich zu ermöglichen, durch vorbedachte Typisierung, als zur erforderlichen Wirksamkeit zu bringen. Es muss dem allgemeinen Bewusstsein klargemacht werden, dass unsere Zeit tatsächlich eine besondere, neue Aufgabe hat. Dann müssen die neuen Gestaltungen erschaffen werden, welche den neuen Sinn in der Welt der Erscheinung unmittelbar wirksam machen. Diese sind unbedingt erforderlich. Neuen Wein in alte Schläuche zu gießen, frommt nur dann, wenn es sich um Wein gleichen Gewächses handelt. Dieses ist hier nicht der Fall.

Das Philosophentum, dessen Aufgabe die unmittelbare Vertretung der Welt des Sinnes wäre, passt weder in den Rahmen der Kirche hinein (was sich von selbst versteht, was ich aber doch ausdrücklich anführe, weil diese vor bald zweitausend Jahren die Erbin der antiken Philosophenschule wurde, so dass in ihr noch am meisten davon fortlebt, wovon jene einstmals das Wirkungszentrum war), noch auch in den der Universität. Diese kann ihrer Natur nach kein Sein vermitteln, sondern nur Wissen und Können. Die Gestaltung, die eine Verknüpfung von Geist und Seele von höchster Wissensbasis aus zum Ziele hätte, die das Gesamtleben, nicht bloß den Geist, neu formte, deren Tradition auf ein Sein, kein bloßes Erkennen und Können ginge, ist erst zu erschaffen. Hiervon demnächst. Zuvor aber noch, rückblickend, das Folgende: jenes Weisentum, auf das es ankommt, wird schon lange als Ziel erstrebt, aber ohne deutliches Erfassen des eigentlich Gewollten, weil für den Begriff des Philosophen als Wissensverkörperers im Westen schon lange jede Anschauung fehlt. Daher herrscht im allgemeinen Bewusstsein über diesen Punkt die seltsamste Unklarheit. Es werden einerseits Denker als Weise verehrt, die solche nicht waren, andererseits wird (seit Schopenhauer) zwar gewaltig gegen die Professorenphilosophie geschimpft, dem Professor jedoch nicht der Weise, sondern der — Privatgelehrte, wenn nicht gar der Literat entgegengestellt, welcher doch in keiner Weise besser und mehr zu sein braucht, als der beamtete Denker. Nur Nietzsches hellseherische Sehnsucht hat das, was eigentlich not tut, klar erkannt. Dieser wahrhaft prophetische Geist hat in Blitzlichtbeleuchtung wieder und wieder den neuen Seinstypus hingezeichnet, welcher den Westen erretten kann. Aber freilich: er hat ihn in so extremer Besonderheit gesehen, so gegensatzbedingt, so verneinungsfroh, dass er als Bild der Erfüllung nur den fördert, der ohnehin schon weiß.

1 Inwiefern Metaphysik Leben in Form des Wissens ist, habe ich in den Prolegomena zur Naturphilosophie, Vortrag V, zuerst gezeigt.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Was uns nottut
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME