Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Was uns nottut

Ideal des Staates

Über die eigenste Form der Heimstatt für die Weisheit, wie sie mir vorschwebt, will ich hier nichts äußern. Nur so viel noch, im Zusammenhang mit dem bereits Gesagten: von vornherein ist klar, dass ihre Verwirklichung nicht Sache des Staates ist, noch sein kann. Der Staat kann seinem bloßen Begriff nach keine Menschen brauchen, sondern nur Organe, und dies wird sich immer deutlicher erweisen, je näher er seiner eigenen Vollendung kommt. Schien es zeitweilig anders, so lag dies an seiner spezifischen Unvollkommenheit. Was vom in seiner Art vollendetsten Staatswesen der letzten Zeit, dem deutschen galt, wird im höchsten Maß vom Ideal des Staates überhaupt, dem sozialistischen (falls es zu diesem kommen sollte) gelten, wie es von den ausgebildetsten Staatsformen der Vergangenheit, der griechischen Polis, der römischen res publica in beschränkterem Maß, und im höchsten bisher meines Wissens dargestellten vom Reich der Inkas gegolten hat: die Zwecke des Staats werden den Einzelnen absolut regieren. Da dieses nun aber das genaue Gegenteil von dem bedeutet, was der Menschheit als Ideal voranschwebt, so ergibt sich hieraus mit Notwendigkeit ein wachsender Prestigeverlust des Staats als solchen auf der ganzen Welt1. Und da ferner ein Zurückgehen auf frühere, rudimentärer Formen (wie solche in England zum Teil noch heute, zum Heile dieses Reichs, bestehen) unmöglich ist, weil historische Prozesse unumkehrbar sind und der moderne Staat dem bloßen Begriff nach allen früheren überlegen ist, so muss dies dahin führen, dass der Staat sich immer mehr auf die Aufgaben beschränken wird, für die er unentbehrlich ist — auf die Auswirkung der Zweckeinheit der nationalen Gesamtheit im Sinn der Selbstbehauptung und des natürlichen Wachstums. Alles andere im Staat wird immer unabhängiger vom Staat leben, möglichst in sich selbst gegründet, möglichst Selbstzweck sein, was in neuer Gestaltung einer Wiederherstellung des früheren optimalen Gleichgewichtszustandes zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit zuführen wird. Dass wir dazu zeitweilig durch extremen Etatismus hindurchmüssen, ändert nichts am Ziel des Prozesses: hierbei handelt es sich um die gleiche provisorische Zusammenfassung aller Kräfte zur Erreichung eines bestimmten Zwecks — hier der sozialen Reform — wie sonst im Krieg.

Das Ziel der jüngsten Entwicklung ist überall der Abbau des Staats, nach Sprengung seines überkommenen Begriffs, und seine Ersetzung, nach innen zu, durch einen wirklichen Volksorganismus, dergleich jedem lebendigen, im Zusammenwirken vielfacher selbständiger, voneinander unabhängiger Organisationseinheiten bestände, und nach außen zu durch das, dessen Wesen die vorläufige Idee des Völkerbunds zu fassen sucht: eine einheitlich übernationale Zusammenfassung dessen, was seinem Wesen nach alle Menschen über die Volks- und Ländergrenzen hinaus verknüpft. Diese Entstaatlichung, alles, was nicht notwendig zum Staate gehört, wird nun in Deutschland, falls dieses seinem Heile zu fortschreiten soll, am ausgesprochensten vor sich gehen müssen. Erstens, ganz allgemein, weil Deutschland von allen Reichen am meisten verstaatlicht war und der Staat hier daher am meisten geschadet hat. Zweitens, weil die weitere Verstaatlichung dessen, was diesem Prozess verfallen kann und muss, hier wohl im äußersten Maß, im Sinn des Sozialismus stattfinden dürfte, wodurch sich der wesentlich außerstaatliche Charakter aller sonstigen notwendigen Gemeinschaftsbildungen besonders deutlich erweisen wird. Drittens, weil dem deutschen individualistisch-partikularistischen Temperament entsprechend, das hierin zumal dem französischen entgegengesetzt ist, alle Vereinheitlichung Nivellierung nach unten zu bedingt, weshalb eine Reuniversalisierung der Universität z. B. aus der Fachschule und dem Forschungsinstitut zu dem, was sie vor hundert Jahren war, ein aussichtsloses Unternehmen bedeutete.

Endlich, weil auf Grund des parasitär realistischen Charakters des deutschen Geistes ein Teilhaben an mächtigen äußeren Verbänden den deutschen Menschen leichter als irgendeinen anderen entseelt, fragmentarisiert und zum bloßen Organe macht, weshalb jede Entwicklung nach einer Synthese des Lebens zu auf der Grundlage des Individualismus und des Partikularismus stattfinden muss. Ja, dieser Prozess der Entstaatlichung wird in Deutschland, allen augenblicklich herrschenden Tendenzen zum Trotz, schon aus äußeren Gründen früher und ausgesprochener, als irgendwo anders stattfinden müssen, weil der Deutsche Staat, dank dem unglücklichen Ausgang des Weltkrieges, recht eigentlich dem Ausland verfallen ist, so dass alles, was ihm gehört, in der Idee wenigstens, gepfändet oder pfändbar erscheint, was vom Privatbesitz genau nur insoweit gilt, als der Staat darauf besteht, es für sich in Anspruch zu nehmen — und daher gar nicht in der Lage sein wird, alles Notwendige und Wünschbare von sich aus in Angriff zu nehmen. Andererseits aber sind die Bedürfnisse für Geist und Seele vom ganzen Abendland in Deutschland wiederum die größten. So müssten denn, der Natur der Dinge nach, in Deutschland zuerst nichtstaatliche Gebilde entstehen, die als Privatanstalten dem dienten, was die Nation zu ihrer Entwicklung am dringendsten braucht. Unter diesen sollte an erster Statt die Schule der Weisheit in die Erscheinung treten.

1 Genau ausgeführt habe ich diesen Gedanken sowie das mir vorschwebende neue Idealverständnis zwischen Volk und Staat in meinem Buch Politik, Wirtschaft, Weisheit.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Was uns nottut
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME