Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Erster Zyklus:I. Seins- und Könnenskultur

Verinnerlichung

Allein das Nächstliegende ist nicht notwendig das Weißeste. Wenn eine Aufgabe einem scheinbar über den Kopf wächst, so stellt sich, bevor man jene selbst verwirft oder die Arbeit niederlegt, doch wohl die Frage, ob man ihr nicht gewachsen werden kann. Vergleichen wir nun, dieses gedenkend, das Bild unserer Untergangs­zeit, in welcher die Sachen über die Personen bestimmen, mit beliebigen großen Zeiten der Geschichte, so finden wir, dass solche allemal dadurch ausgezeichnet waren, dass, umgekehrt, Persönlichkeiten die Dinge beherrschten. Dies gilt ohne Ausnahme. Daraus den Schluss zu ziehen, dass es heute einfach an entsprechend begabten Menschen fehlt, liegt nahe. Doch der Schluss trifft nicht zu: nie waren, im Gegenteil, Begabungen vielfältiger am Werk; sollten größte Persönlichkeiten fehlen, so zwingt die Gerechtigkeit doch in Erwägung zu ziehen, dass solche auch zu den größten Zeiten keine Dutzendware darstellten. Nein, die Dinge müssen anders liegen. Zunächst: ist es buchstäblich wahr, dass heute Sachen herrschen, nicht Personen? Das können sie gar nicht. Sprengstoffladungen explodieren nie ganz von selbst, Kalkulationen muss doch irgend jemand anstellen. Auch keine Institution fungiert selbsttätig; persönliche Freiheit hält sie überall im Gange.

Wenn diese nur der Routine zugute kommt, wenn der Einzelne nur Vorgegebenes willenlos vollbringt, so handelt er auch hier, metaphysisch beurteilt, aus freier Wahl, denn er hätte sich zu einer selbständigeren Persönlichkeit entwickeln können. So ist es überall. Jeder Richter darf nicht allein, er muss das Gesetz interpretieren, um es auf den konkreten Sonderfall anzuwenden, und tut er dies scheinbar nur auf Präzedenzfälle hin, so hat doch eben er unter diesen die Auswahl getroffen. Es verantwortet also letztlich überall, unter allen Umständen, der freie Mensch (vgl. S. 93). Und dies ist nicht weniger, sondern desto mehr der Fall, je mehr die Masse — ob lebendig oder tot — zu bestimmen scheint. Wer ein modernes Explosiv zur Entladung bringen kann, dessen Wahlfreiheit bedeutet mehr als die des schwertschwingen, den Wilden. In Zeiten vermeintlicher Volksherrschaft hat der gerade Führende, und sei er an sich noch so klein, viel mehr Möglichkeit, seine persönlichen Neigungen auszuleben, als der als solcher anerkannte Autokrat. Da zwischen seiner Verantwortung und seiner Macht kein Verhältnis besteht, so fühlt er gar leicht nur diese; sie wird zum Werkzeug seines empirischen Ich, das folglich viel mehr mitentscheidet als dort, wo der Mensch bewusst einem großen Ganzen dient und sich durch dessen Gesetze innerlich gebunden fühlt. Doch auch ganz abgesehen vom möglichen Missbrauch: es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der moderne Massenführer, scheinbar beschränkt, tatsächlich über viel mehr Macht verfügt als je ein antiker Heros. Unter diesen Umständen stellt sich das Problem, die Moira der Zivilisation zu überwinden, doch offenbar anders, als man gemeiniglich meint und auch unsere ersten Feststellungen erwarten ließen. Es ist gar nicht wahr, dass die Sachen an sich entschieden — Personen tun es heute mehr denn je. Nur sind diese jenen nicht gewachsen.

Denken wir von hier aus an die Betrachtungen in Worauf es ankommt und Erscheinungswelt und Geistesmacht zurück, so liegt die Lösung des Problems dicht vor uns. Nicht allein, was draußen in seiner Umwelt wird, auch seine persönliche Einstellung hängt letztlich vom Menschen ab. Wenn der Moderne, grundsätzlich Herr aller Dinge, in jedem Einzelfall persönlich letztentscheidend, dennoch ohnmächtig dasteht, dann hat er sich selbst wohl falsch zu den Dingen und zu sich selbst gestellt; dann ist es wohl seine eigene Schuld, nicht die des erschaffenen Apparats, wenn er so ohnmächtig und schlecht geworden ist. So muss es wohl sein. Die Person ist, auf Grund falsch angewandten und schiefen Denkens, der Sache geopfert worden — nur deshalb hat das, was ihn hätte mächtig machen können und sollen, den Menschen ohnmächtig gemacht. Dank falscher Einstellung blieben seine lebendigsten Kräfte außer Spiel. Diese wurden nicht ausgenutzt, auch von den Begabtesten, den Besten nicht. Die herausgestellte Erkenntnis entschied, das Sein, das Wesen sprach nicht mit, und dementsprechend oberflächlich wurde der jeweilige Sinn erfasst, dementsprechend unzulänglich verwirklicht. Auch unter den heutigen komplizierten Verhältnissen wäre der wesenhafte Mensch bei entsprechendem Verantwortungsbewusstsein führend geblieben. So wird es ganz sicher sein. Ist dem nun aber so, dann erhält die Forderung, die sich vorhin als notwendig ergab, dass das Können von entsprechendem Sein getragen werde, einen ethischen Hintergrund, der sie als grundsätzlich erfüllbar erweist.

Es kann und muss deshalb gelingen, unsere mechanische Könnenskultur zum Ausdrucksmittel entsprechender Seinskultur zu erheben; es kann und muss folglich gelingen, uns als bestimmende Persönlichkeiten über die hoch aufgetürmten Sachlichkeiten zu erheben, und das, was der vergangenen Jahrzehnte letzte Instanz war, zu Ausdrucksmitteln zu erobern. Eben solche Eroberung war es ja, welche frühere große Zeiten groß machte. Auch in jedem jener Fälle war es ein in irgendeiner Hinsicht überlegenes Können, welches den äußeren Aufstieg eines Volks oder einer Kultur veranlasste — man denke an die Fertigkeiten der Ägypter, die griechische Geistigkeit, die römische Kriegs- und Verwaltungstechnik bis zu Napoleons Kriegskunst und zur englischen politischen Routine; — aber dieses Können diente in jenen Fällen überlegenem Geist. Heute verfügen wir über reichere Ausdrucksmittel als irgendeine Zeit, nur wissen wir gleichsam nichts mit ihnen zu sagen. Grundsätzlich ist unser heutiges Problem, so neu und einzig es scheine, kein anderes, als welches Antike und Mittelalter, das noch das 18. Jahrhundert gelöst hat. Es ist nur praktisch deshalb schwieriger zu lösen, weil sich das Können dieses Mal in einem bisher unerhörten Grade verselbständigt hat. Zu lösen ist das Problem trotzdem, und zwar in eben dem Sinn, dass beim Innerlichen, beim Menschen angesetzt werden muss. Soviel können wir schon jetzt mit Sicherheit behaupten.

Leider sehen aber noch sehr wenige die Aufgabe so, wie sie gesehen werden muss. Die meisten Denkenden sind sich darüber wohl klar, dass die Weltlage, verfahren wie sie ist, sich immer weiter verschlechtern muss. Aber noch wähnen viele, durch äußere Reformen sozialer oder wirtschaftlicher Art, oder durch eine neue Gewaltorganisation, wie die des heutigen Völkerbunds, oder endlich durch einen neuen Glauben inhaltlicher Art dem Verhängnis steuern zu können. Bestand denn das Verhängnis der Moderne, das seine Entladung in der Weltkatastrophe fand, nicht eben darin, dass die Menschen unter ihren Organisationen und Geistesinhalten standen? dass sie viel kleiner als ihre Ideale waren nicht allein, dass sie zu den Idealen, die sie bekannten, kein inneres Recht hatten? Und wenn nun im Sinn der höchsten reformiert wird — was ergibt sich daraus? Nur eine Vergrößerung der Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit. Solange es keine echten Sozialisten, d. h. Menschen gibt, deren Gemeinschaftssinn die Selbstsucht überwiegt, wird keine Sozialisierung einen Fortschritt einleiten; solange die Menschenherzen von Waffen starren, bleibt es sich gleich, ob die Mächte ihre Rüstungen einschränken oder nicht. Solange ein besserer Glaube nicht von tieferen Menschen bekannt wird, bedeutet er nichts. Äußere Reformen als solche nützen wenig. Täuschen sie gar einen zu hohen sittlichen Zustand äußerlich vor, so erzielen sie lediglich Unverantwortlichkeitsgefühl beim einzelnen — dieser wird bewusst unwahrhaftig und tut, unter konventioneller Maske, desto mehr, was ihm persönlich Vorteil bringt. Zu weit ausgreifende äußere Reformen vergrößern also nur den Abstand zwischen Wirklichkeit und Ideal. Statt dessen sollte sich diese — alias die zwischen Sein und Können, zwischen Sinn und Ausdruck — fortschreitend bis zur Kongruenz verringern. Dies kann nur gelingen, wenn beim Menschen angesetzt wird. Also ist die Zeitaufgabe, auch von hier aus betrachtet, eine der Verinnerlichung.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Erster Zyklus:I. Seins- und Könnenskultur
© 1998- Schule des Rades
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