Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Erster Zyklus:I. Seins- und Könnenskultur
Verwurzelung im Sinn
Zum Zweck der praktischen Lösung der genannten Aufgabe erscheint es angebracht, sie zunächst ein wenig anders zu stellen, und zwar in den Zusammenhang unserer Betrachtungen über den Sinn hinein. Das Leben, im Unterschied von seinen Ausdrucksmitteln körperlicher, seelischer und geistiger Art, lässt sich als Sinneszusammenhang und so allein, soweit solches überhaupt möglich ist, mit dem Verstande begreifen. Nur die Tatsachen, welche gleichzeitig Sinn-Bilder sind, erscheinen belebt; nur das dem Lebendigen Eingliederte gehört innerlich zu ihm; nur der Mensch erfüllt seine von ihm persönlich als solche gefühlte Bestimmung, der seinem Leben einen Sinn gibt. Aus diesem Gesichtswinkel betrachtet, besagt nun das Fehlen eines Zusammenhangs zwischen Sein und Können nichts anderes, als dass das moderne Leben sinnlos geworden ist. Wenn Machtentfaltung, Kapitalverwertung, Reichtumszuwachs, Tüchtigkeit, Wissen, Können, Betriebe als Selbstzwecke gelten können, wenn das persönliche Leben ihnen dient, anstatt sie zu beherrschen, dann fehlt diesem anerkanntermaßen der eigene Sinn. Der freie
moderne Mensch beurteilt sich selbst wenig anders, wie der Sklave im Altertum vom Herrn beurteilt wurde, und übt seine Macht über andere nicht allein, sondern auch über sich selbst entsprechend aus. Mögen nun einzelne mit Begeisterung Arbeitstiere sein — dies gilt von vielen modernen Führern, von denen ein Reinkarnationsgläubiger annehmen möchte, dass sie in ihrem letzten Leben Galeerensklaven waren und sich die Routine noch nicht abzugewöhnen Zeit fanden1: kein Wunder, dass ganze Völker Selbstmordwille überkommt, zum mindesten unbändige Lust, was nur irgendwie Kette sein könnte, zu erschlagen.
Der Mensch verträgt alles, nur nicht das Bewusstsein der Sinnlosigkeit seiner Existenz, denn Sinn und Leben sind eins. — Unter dieser Beleuchtung spitzt sich das Problem, dessen Lösung wir zuerst in der Zusammenstimmung von Sein und Können sahen, zu der praktischen Alternative zu, entweder wirklich, dem Bolschewistengeist gemäß, das sinnlos Gewordene abzustoßen und neu anzufangen, oder aber das, was bisher sinnlos war, sinnvoll werden zu lassen. Die erste braucht überhaupt nicht erwogen zu werden, solange die andere sich stellt, denn aller historische Fortschritt führt ideell, wenn nicht praktisch, von Höhepunkt zu Höhepunkt fort (S. 40). Kann nun bisher Sinnloses sinnvoll werden? Freilich. Nur setzt die Beantwortung dieser Frage eine tiefere Fassung des Sinnesproblems voraus, als wir sie bis hierher besitzen.
Das Problem des Sinnes ist, wir sahen es, mit dem des Lebens grundsätzlich eins (S. 60). Was ist nun Leben, technisch betrachtet? Ein Be-leben des Toten. Der physische Organismus erhält und entwickelt sich dadurch, dass er sonst Lebloses in seinen Zusammenhang hineinbezieht; dies gilt von der einzelnen Stoffpartikel bis zum Meer, das dem physiologisch offenen Seestern zur Lymphe dient, bis zur Luft, welche wir Menschen ein- und ausatmen, bis zum Weltall zuletzt, das dank unserem Dasein auf einen besonderen Koordinaten-Schnittpunkt bezogen erscheint. überall, wo Lehen herrscht, gliedert sich das Äußerliche Zusammenhängen ein, in welche es von sich aus nicht hineingehört; da diese Zusammenhänge eben lebendige sind, so trifft unsere Bestimmung ohne Zweifel das technisch Wesentliche. Das Beleben erweist sich nun desto deutlicher als das eigentliche Charakteristikum des Lebens, je geistiger dieses sich darstellt. Alles Auffassen, Aufnehmen ist schon ein Beleben; allein Verstehen ist Gleiches in höherem Grad. Nicht nur deshalb, weil nur Verstandenes als assimiliert gelten darf, sondern weil das Verstehen über das Verstandene Macht gibt und die Außenwelt überall den Stempel des Geistes trägt und die von ihm gewollte Gestalt annimmt, wo dieser sie begriff. Hier gilt nun ein weiterer Satz: je tiefer Geist verstehend vordrang, desto mehr hat das Gegenständliche am Leben teil.
Die Tiefe der Sinneserfassung scheint dabei der Weite des also durchdrungenen Gebiets geradezu proportional zu sein, so schwer sich dies nachweisen lässt. wie die mathematische Formel, je allgemeiner sie ist, desto mehr Sonderfälle zu beherrschen gestattet, so bedingt jede tiefere Stufe der Einsicht Überlegenheit über entsprechend mehr Kräfte und Situationen. Von hier aus gelingt nun besser zu verstehen, was wir schon bei anderer Gelegenheit feststellten, dass Verankerung des eigenen Lebens in tieferem Sinn allein den bewussten Lebensprozess im Gang erhält. Sobald einer sein Dasein als sinnlos empfindet, hört sein Streben auf; als je sinnvoller er es ansieht, desto größere Kräfte wirken sich in ihm aus. Sinn und Leben bedeuten nicht allein Gleiches — der Grad der Belebtheit ist offenbar der Tiefe der Verwurzelung im Sinn proportional. Dies erklärt vollends die Selbstmordstimmung der mechanisierten Menschheit. Dies erklärt gleichzeitig, weshalb religiöse Zeiten — was außer Frage steht — von allen die gewaltigste Lebens- und Schaffenskraft beweisen: Gott bedeutet dem Menschen das Bild des letzten und tiefsten Sinns.
Jetzt aber müssen wir eine weitere Frage stellen: Was ist Belebung und deren geistiges Äquivalent, die Sinneserfassung, ihrerseits technisch bewertet? Sie ist ein aktiver, ein schöpferischer Vorgang. Beleben geschieht immer nur von innen nach außen zu. Nie liegt das Leben im Stoff beschlossen, noch ist es aus diesem herauszuholen: es kann diesem nur eingebildet werden. Geist und Leben bedeuten, wo vorhanden, immer das Primäre, weshalb es unbedingt der vorhandenen Zelle bedarf, damit eine gegebene Lebensform sich fortpflanze, der Tradition, damit ein Geist sich im Verstehen perpetuiere, der persönlichen Schöpferkraft von innen heraus, auf dass der Buchstabe neuen Sinn oder Sinn überhaupt offenbare. Niemals liegt dieser in den Erscheinungen als solchen beschlossen: er muss allemal in sie hineingelegt werden. Dieser Umstand ist nun für unser heutiges Problem von entscheidender Wichtigkeit. Allerdings hängt der Sinn in seinem An-sich-sein, in seinem geistigen Gelten — gleichviel, wie dieser Ausdruck zu verstehen sei — nicht von empirischen Bedingungen ab. Aber empirisch verwirklicht erscheint er allemal nur dort, wo er jeweilig hineingelegt wird.
So entsteht der Sinn eines Buchs tatsächlich jedesmal neu, wo es verstanden wird, so bleibt er ungeboren, wo das Verständnis ausbleibt. Objektiv, ohne Belebung durch den Geist, gibt es immer nur Druckerschwärze plus Papier. Dies ist genau im gleichen Verstand der Fall, wie es objektiv
am Körper nur materielle Stoffe und Kräfte gibt; wird dieser nicht belebt, so stellt er das dar, was man eine Leiche heißt: sein Zusammenhang ist ohne Sinn geworden, weshalb er auch bald zerfällt. Was vom Buch und vom physischen Organismus gilt, trifft nun bei allen Sinneszusammenhängen zu, den letztdenkbaren, welche die Totalität umspannt, mit einbegriffen. Es bedeutet ein Missverständnis, nach einem Sinn der Welt
zu fragen, welcher ohne uns da wäre: die Welt hat faktisch (nicht ideell) genau nur insoweit Sinn, als dieser realisiert wird. Hier fasst man die wahre Bedeutung der Christuslehre, dass das Himmelreich auf Erden verwirklicht werden soll: nur in dieser Verwirklichung wird der Himmel für uns wirklich. Hieraus erklärt sich, weshalb Gott zu aller Zeit der Mitarbeit des Menschen bedurft hat, um seinen Willen durchzusetzen, hieraus die Erfahrungstatsache, dass das Leben ohne weiteres sinnlos wird, wenn die Menschen aufhören, seine Prozesse initiatorisch auf Bedeutungszusammenhänge zurückzubeziehen, weshalb Kulturen mit unheimlicher Leichtigkeit vergehen und das Menschenleben wieder und wieder in der Geschichte von einem geistbestimmten zu einem tierhaften zurücksank. Dies ist nicht etwa darauf zurückzuführen, dass der Geist oder Sinn ein bloß Subjektives, d. h. Empirisch-Menschenbedingtes wäre, sondern dass die Dimension des Sinnes von innen nach außen zu liegt, bildlich gesprochen, senkrecht zur horizontal zu beschreibenden Naturgegebenheit. Was deshalb von der Naturebene aus, deren Normen gemäß beurteilt, subjektiv erscheint, bedeutet gerade die Eigenart des Geistig-Wirklichen, sofern es wirklich ist.
Sinn kann nur von innen nach außen zu nicht allein gegeben, sondern auch verstanden werden. Deshalb verwirklicht er sich ausschließlich durch das persönliche Wirken von Subjekten hindurch. Hier hielten wir denn die metaphysische Bedeutung der vorhergehenden Feststellung, dass auch in scheinbar rein sachlichen Zusammenhängen der persönliche Mensch letztendlich entscheidet. Das lebendige Prinzip ist unter allen Umständen ein Subjekt, kein Objekt, deshalb fehlt Leben dort, wo die lebendig-sein-sollende Erscheinung kein Subjekt zur Seele hat, was die Erfahrung jedesmal erweist. Sinnesverwirklichung bedeutet eben Beleben, Belebung ist nur denkbar von innen nach außen zu, belebt kann alles werden, was das Leben in sich hineinzubeziehen vermag, aber nichts Erscheinendes ist an sich und von sich aus lebendig. Jetzt können wir die Frage, ob Sinnloses sinnvoll zu machen sei, endgültig beantworten: nichts an der toten Natur ist von Hause aus sinnvoll, aber alles kann es werden, wenn es auf lebendigen Geist bezogen wird. Dies gilt natürlich erst recht von menschenbedingten Gestaltungen, welche sinnlos wurden: grundsätzlich ist es jedesmal möglich, sie in den Zusammenhang des Lebens zurückzubeziehen. Deshalb ist es nicht notwendig, den rein mechanisch gewordenen Zivilisationsapparat des Westens abzutragen. Was sinnlos geworden war, kann tatsächlich wieder sinnvoll werden.
1 | Theologen werfen mir neuerdings häufig vor, ich hätte keinen Sinn für den Segen und die Heiligkeit der Arbeit. Wie ich über diesen Punkt denke, habe ich in meinen Aufsätzen Vom Beruf und Arbeit im 1. und 2. Heft des Wegs zur Vollendung genauer dargelegt; eine tiefere Fassung meiner Auffassung bringt der letzte Zyklus in diesem Buch, welcher das Missverständnis hoffentlich aus der Welt schaffen wird. Insoweit aber haben meine Gegner von ihrem Standpunkt recht: ich bin tatsächlich gegen das überbetonte Arbeits-Ethos, durch das der Geist der Juden — sie allein verherrlichten im Altertum die Arbeit — mehr als durch alles andere seinen Stempel dem Westen aufgedrückt hat. Freilich muss jeder arbeiten, denn sonst verkümmert er. Freilich ist Trägheit Sünde, muss jeder sein Bestes leisten. Aber der Mensch darf niemals Knecht seines Werkes sein, das aber ist es, was zunächst allgemein unter dem Segen der Arbeit verstanden wird, besonders unter Lutheranern, als bei welchen der Begriff des Segens der Arbeit nur zu oft aus der fortschrittsfeindlichen Gesinnung der unbedingten Bescheidung bei der gegebenen Lebenslage heraus geboren ist. |
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