Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Morgenländisches und abendländisches Denken als Wege zum Sinn
Wahrheitserkenntnis
Im Osten und im Westen bedeutet Denken also typischerweise Verschiedenes: dort ein unmittelbares Sich-Ausdrücken geistiger Wirklichkeit, hier ein Mittel, die Außenwelt zu bezwingen. — Auf unsere Denkart brauche ich nicht näher einzugehen. Dagegen tut es wohl not, die des Ostens genauer zu betrachten, denn dass auch diese zu Wahrheitserkenntnis führt, leuchtet westlicher Mentalität nicht ohne weiteres ein: diese meint, bei geistiger Wirklichkeit im östlichen Verstand handele es sich wesentlich um Schöpfung der Einbildungskraft, sonach um eine nur vom Menschen her bestehende, von ihm herausgestellte, um keine tiefere Welt, deren Ausdruck erst er selber wäre. — Dass die meisten Behauptungen des Orients Transzendentes betreffend dem Bereich der Phantasie angehören, wenn nicht gar der Phantasmagorie, kann kaum bestritten werden. Aber es ist falsch, jene Behauptungen überhaupt wörtlich zu nehmen: der Orient selbst, so wenig er von Erkenntniskritik weiß, ist sich dieses Sachverhalts auch instinkt- oder ahnungsmäßig wohl bewusst; sonst würde er sich widersprechende Theorien oder Dogmen nicht als gleich wahr, würde er Götter entgegengesetzten Charakters nicht als identisch anerkennen. Bei allen Erscheinungen, welche das metaphysische Bewusstsein schafft, handelt es sich nicht um letzte Tatsachen, sondern um Sinnbilder; auf dem Sinn ruht der Nachdruck; er, nicht die Erscheinung, ist die letzte Instanz, d. h. das Wesen der Sache. Zu Anfang meines Reisetagebuchs schrieb ich, der Metaphysiker verhalte sich zum Dichter, wie dieser sich zum Schauspieler verhält:
der Komödiant stellt dar, der Dichter schafft, der Metaphysiker antizipiert im Sinn alle mögliche Darstellung und Schöpfung.
Dieser Satz wird von unserer heutigen Betrachtung aus wohl besser verstanden werden, als bisher. Die Gestaltung des Schauspielers hat ihren Sinn
, ihren λόγος σπεϱματιϰὸς in der übernommenen Rolle, die des Dichters in seiner eigenen Natur; dem Metaphysiker ist diese, samt ihren Geschöpfen, ihrerseits nur Ausdrucksmittel für ein Tieferes. Dieses Tiefere allein meint er eigentlich. So liegt des Metaphysikers Wesen allerdings auf der Linie des Dichters, nicht der des Gelehrten, nur an einem tieferen, dem schöpferischen Urgrund näheren Punkt lokalisiert. Deshalb meint er anderes, wenn er Gleiches wie jener sagt. Er meint wesentliche Wahrheit. Und hier wende man nicht ein, auch der Dichter stelle vermittelst des Eingebildeten Wahrheit dar, dies sei sein eigentlicher Beruf: wohl tut er dies, allein der Bedeutungsakzent ruht ihm nicht auf dem Sinn, sondern auf der Erscheinung — in Sinneszusammenhängen kommt aber alles auf den Ort der Betontheit an; diese bedeutet das Lebenszentrum, und wie es auf physischem Gebiet nicht gleichgültig ist, ob Hirn oder Rückenmark regiert, so liegt es erst recht auf geistigem. Sehr selten versteht der Dichter selbst das Tiefe, das er sagt; der Metaphysiker versteht es, und solches bedingt einen qualitativen Unterschied in der Bewusstseinsart. Der Metaphysiker ist von beiden der Tiefere, denn wenn Bilder Sinnbilder sind, dann liegt im Sinn ihr Seinsgrund, und wer von dem nichts weiß, muss insofern oberflächlich heißen. Hier würden weniger Missverständnisse obwalten, wenn klarer erfasst wäre, dass Mensch-Sein und Bewusst-Sein, vom Standpunkt der Erkenntnis, Wechselbegriffe sind, und dass von ihrem Standpunkt allein von Werten die Rede sein kann.
Alle Wertsteigerung vom Tier dem Gotte zu misst sich, sofern sie statthat, an der wachsenden Bewusstseinsvertiefung und -erweiterung. Kehren wir von hier aus nun zum Problem des östlichen Denkens zurück. Dieses Denken ist, da es den Ausdruck innerer Wirklichkeit in der Erscheinung darstellt, ohne Rücksicht auf die äußere Wirklichkeit, ein Sinnbildliches, und zwar liegt der betreffende Sinn im Innern des Denkers. Jetzt stellt sich die entscheidende Frage: inwiefern kann es sich bei solchem Sinn
um Wirkliches handeln? — Betrachten wir gleich als erstes, das Gebiet, das am wirklichkeitsfernsten anmutet: das der Mythologie. Schon lange fiel den Forschern die Gleichartigkeit der Mythen aller Völker und Zeiten auf. Zuerst suchte man diese äußerlich zu begründen, durch Zurückführung auf die überall gleichen Hauptetappen des Naturverlaufs; heute steht wissenschaftlich fest, dass die Gleichartigkeit einen inneren Grund hat die Mythen sind Sinnbilder unterbewusster Seelenvorgänge und zwar der tiefsten, ältesten, allen Menschen gemeinsamen, seit Jahrtausenden sich wiederholenden, deshalb in der Erbmasse fixierten, in der Gestalt bestimmten, dieses letztere so sehr, dass es vorkommt, dass ein irrer Neger in der Form griechischer Sagen deliriert1. Deshalb wirken jene alten Sinnbilderfolgen auf jeden, der sich in sie versenkt, auch gleich überzeugend, denn sie rufen in jedem ein Vorhandenes wach, gleichwie der geschriebene Ausdruck einer bekannten Vorstellung diese im Geiste selbstverständlich wachruft. Die Symbole wirken ferner als richtige Organe für bestimmte psychologische und metaphysische Zusammenhänge, genau wie das Auge Organ ist für das Licht, denn nur im bestimmten Sinnbild, dessen Sosein folglich kein Willkürprodukt darstellt, gewinnen wir bewussten Kontakt mit der ihm entsprechenden inneren Wirklichkeit. Dies ist der Grund, warum alle Selbstvervollkommnungssysteme zur Erreichung ihrer Ziele älteste Symbole verwenden; diese sind organisch dazu geschickt, den ihnen korrespondieren, den Sinn zur Realisierung zu bringen. Unter diesen Umständen bezeichnen sogar die phantastischsten Mythen einen Ausdruck innerer Wirklichkeit. Wie tief diese jeweilig liegt, ist eine andere Frage; oft liegt sie wohl mehr an der Oberfläche, als die normale Gedankenwelt, wie solches von der überwältigenden Mehrzahl aller Träume gilt, als welche sich auf bloß Physiologisches beziehen. Aber um Wirklichkeit überhaupt handelt es sich in jedem Fall. Man kann ja auch keine Erfindung machen, es sei denn aus vorhandenem Seelengrund, und überzeugend wirkt keine, die nicht in jenem ihr unmittelbar verstehendes Echo fände.
Von dieser Erkenntnis nun bis zur Anerkennung einer eigenen Sinnes-Wirklichkeit unabhängig von deren bildhafter Verkörperung, führt nur ein Schritt. Diesen Schritt ist die moderne analytische Psychologie tatsächlich, wenn auch noch nicht bewusst, bereits gegangen. Seitdem Freud zuerst erkannte, dass Träume, Unterlassungen, Handlungen, Krankheiten niemals als letzte Instanzen zu betrachten, sondern nur aus dem, was sie bedeuten, zu verstehen sind, ist die von ihm begründete Wissenschaft dahin gelangt, alles Tatsächliche des Lebens auf Sinneszusammenhänge zurückzubeziehen, sodass heute nach dem geistigen Ziel eines Menschen gefragt wird, um sein Empirisches zu verstehen; dieses gilt überall nur als Symbol. Nun, unter diesen Umständen gibt es zweifelsohne eine letzte geistige Wirklichkeit, die sich in der Natur nur ausdrückt, gleichviel wie sie weiter zu deuten sei; zweifelsohne bezieht sich die orientalische Auffassung vom Denken insoweit auf Reales. Dieses Reale nun ist in abstracto, für unseren Verstand, nur als Bedeutung, als Sinn zu fassen. Jedes Sinnbild als solches ist materiell, gleichviel welchem Plan der Materie es angehöre; denn Laute, Worte, Begriffe, Ideen sind, als Gestaltungen betrachtet, genau im gleichen Verstand Erscheinungen, wie feste Körper2. Aber der Sinn selbst ist in keinerlei Erscheinungs-Kategorie zu denken; er allein ist das eigentlich Geistige, soweit wir’s fassen können. Dies gilt von der Bedeutung des Gedankens im Unterschied von seiner erscheinenden Verkörperung, vom Sinn eines Traums, eines Mythos, eines Kunstwerks im Unterschied von seinem Tatbestand. Dieser Sinn ist nun auf geistigem Gebiet nachweislich der Schöpfer seines Ausdrucks. Folglich besteht die orientalische Auffassung von einer selbständigen Geisteswelt grundsätzlich und tatsächlich zurecht.
1 | Vgl. C. G. Jungs Psychologische Typen, Zürich 1921 und des gleichen Verfassers Wandlungen und Symbole der Libido im Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung Bd. III und IV, Leipzig und Wien, 1911 und 1912. |
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2 | Vgl. hierzu den ersten Vortrag meiner Prolegomena. |