Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Erster Zyklus:II. Indische und chinesische Weisheit

Offenheit des Winkels

Zu einer Schule der Weisheit, wie sie hier werden soll, gibt es im Westen kein Vorbild. Wohl gibt es religiöse Gemeinschaften, Orden, esoterische Vereinigungen verschiedensten geistig seelischen Geblüts, welche sich Seinsbildung zum Ziel setzen (von sonstigen Bildungsanstalten, gleichviel, welches dieser Programm sei, sehe ich vollständig ab, weil sie keinesfalls zum Vergleich in Betracht kommen). Aber entweder wird dieses religiös gefasst, oder aber der Weg ist ausdrücklich für geschlossene Kreise monopolisiert. Diese Umstände schaffen einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den gemeinten Bestrebungen und den unseren. In Was uns nottut wurde schon gezeigt, inwiefern alles auf die Einstellung ankommt. Die Schule der Weisheit, welche vom Sinn her das Leben neu aufbauen will und folglich vom persönlichen Verstehen, ist eben deshalb ganz anders eingestellt als die Pflegestätte auch der erkenntnistiefsten konfessionell bestimmten Religion, denn keine kann, ihrem Wesen nach, auf das Verstehen den Nachdruck legen; jede nur denkbare ist auf die Schöpfung oder Erhaltung einer bestimmten Modalität unmittelbaren Lebens aus, weshalb die Norm (das Dogma) als solche ihre letzte Instanz sein muss, nicht der jene tragende Sinn. Was aber den anderen berührten Unterschied mit den an sich gleichsinnigen Bestrebungen geschlossener Kreise betrifft, so beruht dieser eben darauf, dass die Geschlossenheit des Kreises zu deren Wesen gehört, zu dem der Schule der Weisheit hingegen das, was man die Offenheit des Winkels heißen mag. Hier soll tiefere Sinneserfassung und Neuenergisierung des Lebens von dieser her gelehrt werden; solche kommt aber für jedermann in Frage, für das Ordensmitglied, das gerade diese in seinem Kreis nicht lernt, genau so wie für den unabhängigen Freigeist. Deshalb widerstreitet Geschlossenheit des Kreises und Mysterienwesen der Schule der Weisheit eigenstem Begriff.

Es ist schlechterdings keine Lehre denkbar, zu deren Sinn ihr geheimer oder nur wenigen zugänglicher Charakter gehört. So sind alle christlichen Orden nachträglich auf Jesu für alle Menschen bestimmte Weisheit hin entstanden, gleiches gilt von den buddhistischen und nicht minder von den antiken Mysterienbünden. Geschlossene Kreise haben freilich ihre Berechtigung; nur liegt diese nicht auf der Ebene des Sinns, sondern der der Erscheinung1. Jene beziehen sich schon auf Gestaltungen des Sinns, welche diesen beschränken; ihr Dasein setzt Festlegungen voraus, welche der Sinn an sich nicht verträgt. Der ideelle Ort der Schule der Weisheit liegt nun in dessen Reich; hierauf beruht ihre ganze Originalität, hierauf allein ihre ganze mögliche Bedeutung. Ihr ideeller Ort ruht in einer tieferen Wesenschicht als der aller nur möglichen esoterischen Organisationen. Deshalb, noch einmal, bedeutet sie ein von diesen grundsätzlich Verschiedenes. Der Impuls, welchen sie vertritt und vermittelt, gilt grundsätzlich allen; dass praktisch vielleicht nicht viele für sie geeignet sein werden, dass die Lehrtechnik intimen Charakter tragen muss, ändert nichts am grundsätzlichen Verhältnis. Es handelt sich doch offenbar um ein anderes, ob Geschlossenheit eines gegebenen Kreises zum Wesen oder nur zur Technik gehört. —

Es gibt also im Westen keine Vorbilder für das, was wir hier anstreben. Aber im Osten gibt es sie noch heute; dort wird das Sein grundsätzlich über das Können gestellt, das Verstehen vom Wissen wohl unterschieden. Wohl sind die Ziele der östlichen Weisheitsschulen nicht unsere Ziele; die westliche und die östliche Lebensmodalität unterscheiden sich voneinander so sehr, dass nichts Konkretes, hier und dort, eine In-Gleichung-Setzung verträgt. Unsere künftige Seinskultur wird, entsprechend unserer Energie, Bewegtheit und Aktivität, ganz anderen Charakter tragen als nur irgendeine östliche2, und dies sei schon heute ein für alle Male gesagt: die Schule der Weisheit hat es nicht mit der Verpflanzung östlichen Wesens nach dem Westen zu tun; dafür steht schon meine Persönlichkeit Gewähr, deren extrem-westlichen, allzu westlichen Charakter wohl keiner anzweifelt, der mich auch nur oberflächlich kennt. Allerdings aber kann der Osten, und nur er, uns heute ein konkretes Sinnbild dafür bieten, wohin wir zielen, denn nur seine Erscheinung, so fremdartig sie sei, hat das zum geistigen Hintergrund, was auch wir anstreben; dem Sinne nach ist, oder war, der Osten schon so weit, wie wir auf unserem Wege einmal zu kommen hoffen. Deshalb will ich heute einige Punkte der Weisheit des Orients durchsprechen. Ich wähle solche allein heraus, die zur Erläuterung unseres eigenen Strebens dienen.

1 Genau ausgeführt findet sich dieser Gedankengang im letzten Zyklus.
2 Vgl. hierzu die Rede Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit in Philosophie als Kunst.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Erster Zyklus:II. Indische und chinesische Weisheit
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME