Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Erster Zyklus:II. Indische und chinesische Weisheit

Buchstabenglaube

Der erste Punkt betrifft den Umstand (S. 45), dass die Weisheit des Ostens nie buchstäblich bestimmte Lehre war noch ist; was sie wesentlich vertritt, ist reiner Sinn, der als solcher anerkanntermaßen der verschiedenartigsten Ausprägung in der Erscheinung fähig ist. Dies gilt zumal von Indien. Wohl herrscht dort vielfach böseste Scholastik, wohl hat Buchstabenglaube auch dort ursprüngliche Symbole als Tatsachen missdeutet. Aber wer in Indien als weise gelten will, der muss, par définition, über Name und Form hinaus sein. Er muss in jenem höheren Stockwerk möglicher Geistessprache (S. 31) sein Bewusstseinszentrum haben, von welchem aus nicht die Gedanken und Bilder als solche, sondern das, was sie bedeuten, Gegebenheit sowohl als Ausgangspunkt darstellen. Von solcher Einstellung aus steht der indische Rishi selbstverständlich oberhalb jeder Ansicht, jedes Dogmas; von ihr aus vermochte es ein Ramakrishna, sich versuchshalber zu verschiedenen Religionen zu bekehren und gleichzeitig der seinen treu zu bleiben1; von ihr aus wird vom indischen Gelehrten, der ein bestimmtes philosophisches System, welches dem Deutschen letzte Instanz sein müsste, vertritt, verlangt, dass er sich jederzeit auf den Standpunkt der (wenn ich mich recht erinnere) 63 anderen Systeme versetzen könne und von ihnen aus zu denken fähig sei. Nun, in Indien allein beherrscht diese tiefere Einstellung die Theorie. Die geistliche Praxis hat sie im ganzen Orient unbewusst beherrscht, und dies ist die eigentliche Ursache dessen, weshalb alles geistliche Licht, welches die Erde bisher bestrahlt hat, aus dem Osten stammt. Dort nämlich, und dort allein, hat keine Gestaltung des religiösen Geists vom Standpunkt ihres eigenen Schöpfers je ihr eigenes letztes Wort bedeutet. Alle Gestaltungen sind raumzeitlich bedingt und deshalb sterblich; keine bestimmte Doktrin ist auch nur theoretisch auszudenken, die allen Zeiten entspräche, weil Bestimmung nur aus dem Geist der jeweiligen Ausdrucksmittel erfolgen kann, mithin an die Vorstellungen eines gegebenen Kulturkreises gebunden ist und der gleiche Ausdruck nicht mehr Gleiches bedeutet, sobald diese sich gewandelt haben.

Nun ist aber die Bedeutung das eigentlich Geistige und Belebende an jeder Geistesgestalt; sobald jene in der Sprache dieser nicht mehr verstanden wird, verkörpert sie auch keine lebendige Wahrheit mehr. So sehen die Dinge vom Buchstaben her betrachtet aus, und da die überwältigende Mehrheit nie mehr Geist erfasst, als ihr die Ausdrucksmittel zu fassen nahelegen, so folgt aus dieser einen Erwägung die Berechtigung und Notwendigkeit jener Wechsel in den Vorstellung- und Glaubensformen, von welchem alle Geschichte kündet. Trotzdem gibt es Geister, deren Lehren alle Zeiten als wahr anerkennen. Nun, diese lehrten aus so tiefer Sinneserfassung heraus, dass der Sinn durch den Buchstaben hindurchwirkt und als Sinnbild rechtfertigt, was buchstäblich genommen längst überholt erschiene. Dies gilt von allen Geistern, die wir unsterblich nennen; auch Platos Ideenlehre lebt trotz ihres Buchstabens fort2. Es gilt aber in höchstem Maße von den großen Religionsstiftern. Wenn diese durch die Jahrtausende hindurch die Welt beeinflussen können, durch tausend Ausdeutungen3, Missverständnisse, Konfessionen, Reformen, Wiedergeburten hindurch, so liegt dies eben daran, dass der Sinn, den sie vertraten, ein so tiefer war, dass er an keine sterbliche Gestalt notwendig gebunden erschien. Und dies war von vornherein so — nicht wir konstruieren das Verhältnis erst nachträglich. Sogar Jesus war nicht Christ — von der Konfessionsfreiheit der großen Inder zu schweigen —, obschon er als empirische Person, hierin Mohammed gleich, des jüdischen, heute christlich genannten Buchstabenglaubens nicht ermangelte; und seinem Nichtchristentum verdankt er seine Unerschöpflichkeit. Jesus lebte persönlich, ob noch so unbewusst, im Jenseits der Gestaltung, und wenn auch er, um sich überhaupt auszudrücken, bestimmte Formen hervorbringen musste, so ist es doch dieses Jenseits, das sein Licht bedeutet. Dass nun ein geistliches Licht — wie schließlich alles Leben — nur aus dem Jenseits der Gestaltung kommen kann, ist dem Osten selbstverständlich, im Gegensatz zu uns. Und da es überall von der Bewusstseinslage abhängt, welche Schichten der Wirklichkeit sich durch das Mittel des geistigen Organismus offenbaren, so genügt dieser eine typische Unterschied zwischen östlicher und westlicher Einstellung zur Erklärung dessen, warum, trotz vielleicht gleich verteilter spiritueller Begabung, spirituelles Licht nur vom Osten her bisher die Erde beleuchtet hat.

Es kommt eben, noch einmal, darauf an, in welcher Sinnestiefe das Bewusstsein selbstverständlich wurzelt. Weil der Westen typischerweise oberflächlich eingestellt ist, deshalb wird indische Weisheit, von ihm bekannt, so leicht zu Aberglauben. Umgekehrt könnte unser westliches Wissen in seiner Sprache genau so Tiefes sagen wie das des Ostens, wofern wir tiefer würden. Nicht darauf, was die Menschen im tatsächlichen Verstande denken, können, glauben, sondern was dieses Empirische bedeutet, was dahintersteht, aus welcher Erkenntnistiefe sie ihr Leben beseelen, mit einem Worte darauf, wer sie sind, kommt es letztlich an. Diese Wahrheit ist dem gesamten Osten vertraut. Deshalb erscheint er uns so unergründlich tief. Deshalb hat alle Vertiefung bisher von dort ihren Ausgang genommen. Allein schon aus dieser kurzen Betrachtung geht zugleich hervor, dass dieses mit der Eigenart des Orients nicht wesentlich zusammenhängt, sondern nur mit seiner Bewusstseinstiefe, die auch wir, grundsätzlich, erreichen können müssten (S. 30 ff.). Wird der Impuls der Schule der Weisheit zu einem Sauerteig inmitten der westlichen Kultur, er, der eben das Niveau heranzubilden strebt, das den Weisen des Morgenlandes zu ihrer allgemeinmenschlichen Bedeutsamkeit verholfen hat, dann kann noch das Abendland dereinst zum Sinnbild der Tiefe werden.

1 Eine Auswahl der Aussprüche Ramakrishnas liegt jetzt endlich auch in deutscher Sprache vor. Es ist das im Rahmen der von Gustav Meyrink herausgegebenen Romane und Bücher der Magie (München 1921, Rikola-Verlag) erschienene Bändchen Carl Vogls Sri Ramakrishna, der letzte indische Prophet.
2 Vgl. hierzu die Vorrede zur ersten Auflage meiner Unsterblichkeit, ferner meine Mitteilung an den 3. Internationalen Philosophenkongreß Die metaphysische Wirklichkeit (Bologna 1911).
3 Werner Achelis stellt in seinem sehr lesenswerten Buch Die Deutung Augustins (Verlag Kampmann & Schnabel, Prien 1921) S. 127 eine Blütenlese dessen zusammen, in welchem Verstand an Christus alles geglaubt worden ist. Dieser galt umschichtig als: Herr und Meister, Messias (apostolisch); als Kultgottheit throneni der Kyrios (urchristlich); pneumatischer Christus (paulinisch); Logos und Sohn zugleich (johanneisch); als oberster Äon, gezeugt aus Bythos und Sige, aus Abgrund und Schweigen zur Weltenrettung (gnostisch); Prophet (jüdisch-gnostisch-mohammedanisch); Erscheinung des guten Gottes selbst (marzionistisch); Logos spermatikós (stoisch-apologetisch); göttliche Hypostase (origenistisch-orthodox); als adoptierter und erhöhter Sohn (Paul von Samosata); Erscheinungsweise des Vaters (Sabellius); bambino (ägyptischer Import); Beispiel und Held (Pelagius); Heerführer (urgermanisch, Heliand); Sühnopfer cur deus homo (Anselm von Canterbury); ecce homo (bernhardinisch); armer Bruder (franziskanisch); Seelenbräutigam, Opferlamm (Mystiker, Pietisten) usw. — Diese Tatsache dürfte manchem den Sinn des von mir Gesagten besser zu verstehen helfen.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Erster Zyklus:II. Indische und chinesische Weisheit
© 1998- Schule des Rades
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