Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Erster Zyklus:II. Indische und chinesische Weisheit

Wissen und Verstehen

Zum Sinnverstehen, welches, wie wir früher bereits erkannten, den einzigen weisbaren Weg zur Seinserhöhung darstellt, leitet nun alle Erziehung im Osten unmittelbar an. Hierin ist China nicht einzig. In Indien muss der Weise über Namen und Form stehen. Japans Staatsmänner gehen noch heute mit Vorliebe zu Zen-Mönchen in die Schule. Aus dem Ziel der Sinneserfassung und -einverleibung ins Leben allein versteht man den uns so fremden Traditionalismus des ganzen Ostens, die unerhört lange Schulung seiner Jugend durch die gleichen Bücher; jahrlang werden dort die gleichen Lehren meditiert. Den Sinn dessen erläutert die folgende Erklärung des Konfuzius besonders gut:

Wer nicht strebend sich bemüht, dem helfe ich nicht voran; wer nicht nach dem Ausdruck ringt, dem eröffne ich ihn nicht; wem ich eine Ecke zeige, und er weiß es nicht auf die anderen drei zu übertragen, dem wiederhole ich nicht.

(Noch größeren Mangel an Entgegenkommen bewiesen, laut den Sagen, die indischen Rishis). Er hatte ganz recht; jeder, der es gut mit seinen Schülern meint, sollte es ebenso halten. Es kommt eben nicht auf Wissen, sondern auf Verstehen an, und dieses wird nur durch eigene schöpferische Arbeit erreicht. Hier können wir eine unserer gestrigen Erkenntnisse (auf S. 186) in bezug auf die konkrete Frage, die uns beschäftigt, tiefer fassen. Sinneserfassung ist allezeit Sinngebung; die Dimension des Sinnes liegt in der Richtung von innen nach außen zu. Deshalb verhalten sich Wissen und Verstehen recht eigentlich so zueinander wie Natur und Geist. Jenes wird von außen nach innen zu gewonnen, dieses vollzieht sich schöpferisch in entgegengesetzter Richtung. Unter diesen Umständen präjudiziert das eine über das andere nichts. Man kann alles wissen, ohne gleichzeitig das mindeste zu verstehen. Eben dahin hat unsere auf Wissensaufspeicherung hinzielende Erziehung die Mehrzahl gebracht. Es hat vielleicht keine Menschheit gegeben, die gleich wenig verstünde, wie die vielwissende von heute. Demgegenüber wird dem Jüngling im Osten nur ganz wenig Wissensstoff beigebracht, aber diesen muss er verstehen, und hat er dergestalt auch nur weniges wirklich verstanden, dann ist er jedem bloßen Vielwisser überlegen. Es kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, dass das Ziel des Ostens in diesem Fall das absolut höhere ist. Deshalb sind seine Methoden höchst beherzigenswert.

Da Verstehen durch schöpferische Arbeit allein erfolgt, so spielt dabei die Zeit offenbar eine wesentlichere Rolle als bei bloßer Wissens­ansammlung: hier handelt es sich um organisches Wachstum. Begabung mag dieses beschleunigen, umgekehrt kann die Zeit jene bis zu einem gewissen Grad ersetzen, wie die typische Weisheit des Alters beweist. Deshalb gilt es als Hauptaufgabe des Lehrers im Osten, wie der zitierte Spruch Kung Fu Tse besonders deutlich zeigt, nichts zu sagen noch zu tun, was die persönliche Anstrengung abflauen lässt. Der Förderung persönlichen Verstehens im Gegensatz zum äußerlichen Wissen dient nun weiter der eigentümlich aphoristische Sutrastil der Inder, der Kommentar seitens des Lesers erfordert; ihm dient die unerhörte Kürze der chinesischen Ausdrucksweise. Es wird nicht expliziert, damit verstanden werde. Wir halten es bisher genau umgekehrt. Und doch sollte die immer wieder bewiesene Wirkung des Unverständlichen allgemach auch uns Abendländern den Weg zu besserer Einsicht weisen. Mrs. Baker-Eddys höchst unverdauliches Buch hat zweifelsohne mehr Kräfte ausgelöst als irgendein Gelehrten­geschreibsel. Die Anziehung des Unverständlichen beruht freilich zumeist auf Wunderglauben; dessen starke Wirkung jedoch auf einem anderen: das Unverständliche regt das Verstehenwollen an, und dieses führt auf die Dauer naturnotwendig zum Verstehen. So mag man durch völlig Sinnloses hindurch zum Sinn gelangen; dank diesem Umstand wird einer durch meditative Lektüre eines Kochbuchs mehr lernen als durch die auf die übliche Art betriebene von Goethes Faust. Die Sprache an sich ist dermaßen genial (S. 47), dass das Versenken in bloße Worte zu tiefer Erkenntnis führt, wie dies die (freilich meist missverständlich, auf Zauberformeln hin gedeutete) Erfahrung aller Religionen beweist. Nur durch persönliche Anstrengung entsteht eben Verstehen. Unter solchen Umständen kommt es letztlich offenbar nicht aufs Beweisen an, denn dieses macht Anstrengung überflüssig. Um einem Beweis zu folgen, bedarf es kaum überhaupt der Konzentration — da überlässt man sich bloß dem logischen Gefälle. Andererseits lässt sich niemals mehr beweisen, als auch ohnedies einzusehen wäre. Kein Beweis führt weiter als bis zur Evidenz, und wenn es freilich stimmt, dass jede Wahrheit, soweit sie logisch ist, beweisbar sein muss, so vermag Intuition sie grundsätzlich jedesmal auch unmittelbar einzusehen.

Die Fähigkeit des Zusammenschauens hängt nun vom Vertiefungsgrade ab; je tiefer einer im Geist verwurzelt ist, desto mehr weiß und erkennt er unmittelbar. So gelangen wir zum scheinbar paradoxalen Ergebnis, dass unser westlicher Weg des Alles-Beweisen-Wollens zwar die Wissenschaft fördert, den Menschen jedoch oberflächlich macht; sein mechanischer Charakter lässt tieferes Selbstdenken überflüssig erscheinen. Ebendeshalb ist unsere Kultur zu einer solchen des Sich-Leicht-Machens geworden (S. 79 ff.); sie wird es, unter dem Antrieb der heutigen Massenherrschaft so sehr, dass darüber alle höhere Geistigkeit unterzugehen droht. Es mag zuletzt nur noch Wissen, gar kein Verstehen mehr geben. Dem gilt es entgegenzuarbeiten. Der Kultur des Sich-leicht-Machens muss eine des Sichs-desto-schwerer-Machens kontrapunktisch entgegengehalten werden. Nur die, welche sich’s extrem sauer werden lassen, werden das Examen rigorosum dieser Untergangs­zeit bestehen, kommen als Zellen des Neuaufbaus in Betracht. Hier wären wir denn zu unserer persönlichen Aufgabe zurückgelangt. Gerade zu dem, was uns not tut, dem Tieferwerden, dem Durchdringen des Wissens durch Verstehen, kennt der Osten einen vorbildlichen Weg. Deshalb wird die Schule der Weisheit in dieser einen Hinsicht östlichen, nicht westlichen Charakter tragen. Hier müssen, der Natur der Sache nach, unverhältnismäßig höhere Ansprüche gestellt werden als irgendwo sonst. Gerade in den höheren Anforderungen als solchen wird ihre Hauptaufgabe liegen, die ja vielmehr eine ethische als eine intellektuelle ist (S. 205).

Allein trotz dieser östlichen Orientierung des Wegs bedeutet ihr Ziel ein schlechthin-westliches; dies wiederhole ich noch einmal, um späteren Missverständnissen, die gewiss nicht ausbleiben werden, soviel an mir liegt, vorzubeugen. Ihr Ziel ist ein schlechthin westliches gerade und besonders insofern, als der Nachdruck auf das Persönliche gelegt werden wird, weil dies in einem Grad geschehen muss, welchen der Osten nicht kennt. Die freie Persönlichkeit in unserem Sinn kennt dessen Weisheit nicht. Diese fand ihre endgültige Gestalt zu einer Zeit, als der Typus die Person noch ganz beherrschte. Der freie Mensch, den sie ausbildet, ist freilich metaphysisch frei, nicht aber im Verstande einzigen individuellen Ausdrucks. Hieraus ergibt sich denn ein grundlegender Unterschied zwischen den Schulen des Ostens und der unseren nicht allein in bezug auf das Endziel, sondern auch den Weg. Um diesen Unterschied als Schluss dieser Betrachtung an einem Beispiel grundsätzlich deutlich zu machen, will ich die östliche Lernmethode mit der Art vergleichen, auf die ich zu lesen lehre. Der Konfuzianer versenkt sich in die Schriften seines Meisters, bis dass dieser ganz von ihm Besitz ergriffen hat. Freilich muss auch jeder Okzidentale zunächst in diesem Sinne lesen lernen, damit die nötigen Verständnisorgane überhaupt entstehen. Ist aber einer soweit, dann sage ich ihm: Was gehen Sie die Gedanken anderer an? Sie wollen doch Ihre Wahrheit finden. Lesen Sie jene freilich, aber lesen Sie durch dieselben hindurch. Wenn ein Buch Sie interessiert, so stellen Sie sich nicht die Frage, was der Schreiber meint, und ja nicht, wie Sie dazu stehen — durch Stellungnahme legen Sie sich bloß in Ihrer derzeitigen Beschränktheit fest —, sondern deuten Sie die Tatsache Ihres Interesses als Korrespondenz dessen, was Sie im Innersten meinen, aber noch nicht aussprechen können. Damit deuten Sie dieselbe auch zweifelsohne richtig, denn was ein lebendiges Echo in Ihrer Seele findet, muss etwas Persönliches für Sie bedeuten, was immer es sei.

Versenken Sie sich nun in die Schrift eines anderen in der Absicht, sich selbst zu finden, dann wird jener Ihnen zum Mittel der Selbstverwirklichung werden. Sie dürfen sich nie bei einer Wahrheit beruhigen, die Ihnen nicht zur persönlichen Einsicht ward. Stellen Sie sich so ein, wie ich’s Ihnen hier angebe, so mögen Sie alles lesen, was Sie nur interessiert: alles und jedes wird Sie fördern. Dann dürfen Sie sich getrost der natürlichen Rotation Ihrer Interessen überlassen: deren Kreislauf führt Sie notwendig zu sich selbst. Dann brauchen Sie auch Perioden sogenannter Oberflächlichkeit nicht mehr zu scheuen, denn alle Oberfläche wird Ihnen zum Sinnbild der Tiefe. So mag der eine oder andere unter Umständen an eines Dritten Oberflächlichkeit seine eigene Tiefer gründen. Eine ähnliche Umdeutung müssen alle östlichen Methoden für uns erfahren. Denn der Osten ist, noch einmal, bei aller wesentlichen Tiefe, im Ausdruck gebunden; dort herrscht noch der Typus, wie bei uns im Mittelalter, nicht die freie Individualität. Wir aber wollen und müssen schlechthin selbständige Persönlichkeiten bilden.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Erster Zyklus:II. Indische und chinesische Weisheit
© 1998- Schule des Rades
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