Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Erster Zyklus:III. Antikes und modernes Weisentum
Neues auf Erden
Die gestrige Betrachtung klang aus in ein Bekenntnis zum Abendländertum. Am Osten als Ganzen besitzen wir ein sinnbildliches Vorbild, wir können und sollen von ihm auch viel Tatsächliches im einzelnen übernehmen — unser eigentlicher Weg kann nur der unserer eigensten Anlage sein1. Deshalb wäre eine Einführung ins Wollen der Schule der Weisheit nicht abgeschlossen, bevor sie nicht, nach gewiesenem abstrakten Ziel, nach Einordnung desselben in den Zusammenhang des anderweitig Erstrebten, die historischen Wurzeln jenes Wollens aufgedeckt und so das Heutige zum Ursprünglichen in notwendige Beziehung gesetzt hat. Wenn nämlich ein Neues auf Erden sowohl sinngemäß als durchführbar erscheint, dann war es, von uralters her, der konkreten Möglichkeit nach vorausbestimmt. Der Geschichtsprozess verläuft ganz ungeheuer langsam. Gleiche Fragen stellen sich wieder von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrtausend zu Jahrtausend; erst dann stellen sie sich nicht wieder, wenn sie endgültig gelöst wurden — und von wie vielen gilt dies seit den Tagen der Genesis? Wohl bringt jedes Geschlecht, das sie behandelt, sie ihrer Lösung näher, und sei es auch nur im Sinn des Zu-Ende-Gehens von Irrwegen; aber da die Dummheit und Trägheit immerdar die zahlenmäßige Übermacht behält, da sie gerade der zeitgemäßen Neuerung naturnotwendig mit größter Energie widerstrebt und keine geistige Errungenschaft gesichert ist, bevor sie nicht die ihr feindlichen lebenden Vorurteile überwand, so wird erschreckend wenig auf einmal und für viele erreicht.
Praktisch siegt eine neue Wahrheit auf geistigem Gebiet nicht schneller als auf dem der Politik, so sehr der Geistesmensch sonst dem Staatsmann gegenüber bevorzugt erscheint, weil die Gedanken, die er bekämpft, ihm nicht als solche widerstehen können; sind sie einmal logisch besiegt, dann sind sie’s grundsätzlich überhaupt: die neue Wahrheit muss selbstverständlich geworden sein, und dies geschieht nie früher, als bis sich eine Mehrheit zu ihr durchrang, genügend groß, um die Mehrzahl aus Prestigegründen zu sich herüber zu ziehen. So musste das Christentum jahrhundertelang gegen die antiken Religionen kämpfen, so ist der Streit zwischen persönlicher und autoritativer Erkenntnis auf katholischem Boden noch heute nicht zugunsten jener ausgetragen, hat der Panlogismus Hegels mehrere Jahrzehnte geherrscht, bis dass er in einen absurden Materialismus umschlug, der noch heute nicht auf allen Gebieten historisch erledigt ist (er ist es auf geistigem, nicht jedoch schon auf politischem). Aber eben wegen dieser Langwierigkeit des geistesgeschichtlichen Werdens bleibt der Zusammenhang mit den historischen Wurzeln so fest; ebendeshalb entwächst man diesen nie, kann man sie nie verleugnen, ohne sich vom geheimnisvollen überindividuellen Organismus loszulösen, und eben damit vom Leben2. Alles nur mögliche Neue setzt sämtliches auf der gleichen Entwicklungsbahn belegenes Altes unbedingt voraus. Wir sahen schon (S. 102), dass ein abstrakter Fortschritt erst dann zu einem wesentlichen wird, wenn er sich in entsprechender Zustandsänderung verleibt hat. Solche, als Wachstumsvorgang, kann unmöglich schnell verlaufen, unmöglich ein organisches Stadium überspringen. Sie ist an vorherbestimmte Phasen und Entwicklungslinien genau so gebunden wie der Embryo. Deshalb wirkt zunächst alle Kreuzung von Unverwandtem auch auf geistigem Gebiet als Bastardierung; deshalb löst jeder genügend starke neue Impuls zunächst chaotische Gärungserscheinungen aus. Nichts verlangsamt Entwicklung, nebenbei bemerkt, insofern mehr als Krieg und Revolution.
Unsere geistigen Wurzeln ruhen in der Antike, nicht im Morgenland. Deshalb ist es durchaus in der Ordnung, dass die abendländische Erziehung zur Humanität mit der Anknüpfung an Hellas und Rom beginnt. So anders die Völker als solche seien, die seither in der Geschichte bestimmend wurden, auf geistigem Gebiet besteht lückenlose Kontinuität. Und diese springt deshalb in die Augen, weil die eigentliche Geistesgeschichte, sobald man die Jahrzehnte und Jahrhunderte abzieht, in denen nichts Neues erfolgte, ganz kurz erscheint: ehe man sich’s versieht, ist man, von der Moderne auf ihre Vorgänger zurückschauend, beim klassischen Altertum angelangt. Dies gilt nun besonders in bezug auf unsere Bestrebungen: was wir hier in Darmstadt beginnen, setzt unmittelbar antikes Wollen fort. Deshalb vermöchte ich ins unsrige nicht besser endgültig einzuführen, als indem ich den Impuls, welcher zuerst in Hellas Gestalt ward, in großzügiger Nachskizzierung der Resultanten aller Sonderbewegungen, bis hierher verfolge; von seinem ersten Aufleuchten an im Auge behalten, wird sein mögliches Ziel uns desto bestimmter und deutlicher vor Augen treten.
1 | Von einem anderen Gesichtspunkte aus genau ausgeführt steht dieser Gedanke in der Studie Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit in Philosophie als Kunst. |
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2 | Vgl. hierzu meine Unsterblichkeit, ab Kapitel IV. |