Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Erster Zyklus:III. Antikes und modernes Weisentum

Sokrates

Die griechischen Weisen unterschieden sich, sobald ihr eigentliches Selbstbewusstsein erwachte (was von den frühesten, von Asien und Ägypten sehr abhängigen nur in beschränktem Maße gilt), in einer Hinsicht grundsätzlich von denen des Ostens, die wir gestern betrachteten: sie waren bewusstermaßen nicht Erfüllende, sondern Suchende. Ihr Prototyp und Sinnbild ist deshalb, für die Nachwelt, Sokrates geblieben. Wohl haben die Vorsokratiker dem eigentlichen Begriff eines Weisen besser als er entsprochen; wohl ist das, was er wollte und vertrat, schon vor ihm historisch wirksam geworden; wohl gab es zum mindesten einen größeren nach ihm: den göttlichen Platon. Aber mit Sokrates greift ein neuer Typus in die Geistesgeschichte ein, den es im Osten nie gab, und der so typisch weder früher noch später je in die Erscheinung trat, weshalb alle spätere Vorstellung vom griechischen Philosophen sich unwillkürlich an ihm orientierte: der Weise als bewusst Nichtwissender, nicht als Wissender. Selbstverständlich wusste auch der morgenländische das meiste nicht, aber nicht darauf legte er das Gewicht: ihm war Realisierung des einmal errungenen und besessenen Wahrheitsgutes Ziel1. Sokrates hingegen wollte unaufhörlich neue Erkenntnisinhalte gewinnen. Indem er nun also den Bedeutungsakzent verschob, veränderte er zugleich das Ziel: bei seiner Fragestellung musste Wissen, nicht Sein dasjenige sein, worauf es letztlich ankam, und zwar Wissen im Sinn der Theorie. So wurde Sokrates zum Erfinder des Begriffs, zum Entdecker der Methode, der Bedeutung richtiger Fragestellung, zuletzt zum Vater der exakten Wissenschaft. Deshalb hat alle wissenschaftliche Forschung seither mit besserem Gewissen an ihn als an Platon angeknüpft, obgleich als erster Gelehrter im modernen Sinn nicht schon jener, sondern erst Aristoteles gelten darf.

Allein Sokrates ist doch nicht nur der Vater der Theorie als Selbstzwecks, mithin der westlichen Unweisheit, wie man seit Nietzsche zu urteilen beginnt, in charakteristischer Wiederumkehrung des Bedeutungsakzents: er war zugleich ein echter Weiser, ein Verkörperer erkenntnisbedingten Lebens. Er kam auf die Wertbetonung der Theorie im wissenschaftlich exakten Sinn nicht aus Neubegier oder selbstgegründetem Erkenntnistrieb, sondern deshalb, weil die unbefangene Lebensganzheit der Väterzeit zersetzt war, mithin aus Weisheitsgründen. Die alten Götter lagen im Sterben, zu Tode verwundet durch den emanzipierten Intellekt. Dieser gebärdete sich nun völlig unverantwortlich. Die Sophisten bewiesen alles, was man nur wollte, widerlegten, was ihnen gerade einfiel, an bindende Wahrheit glaubten sie nicht. Diesem zerstörerischen Treiben ein Ende zu bereiten, sah Sokrates, als gewaltiger Realpolitiker des Geists, nur ein sicheres Mittel: den Intellekt verantwortlich zu machen2. Durch die also geschaffenen neuen Bindungen hoffte er, auf erhöhter Erkenntnisebene, die Lebensganzheit neu zu begründen. Dieses sein eigentliches Wollen beweist nichts besser als seine Überzeugung, dass die Tugend, auf dem Weg verstandesgemäßer Einsicht, lehrbar sein müsse. Allein zur Lösung der Aufgabe, die er sich stellte, war seine Zeit nicht reif. Da deren Intellektualität nicht annähernd weit genug entwickelt war, um rein von sich aus aufzubauen, so konnte Sokrates nur den Zersetzungsprozess beschleunigen, wo er dessen Kräfte in wieder aufbauende umsetzen wollte. So wurde er zuletzt als überführter Zersetzer zum Tode verurteilt, hat er in den ersten Jahrhunderten vornehmlich als Zersetzer oder doch Entzweier der Lebensganzheit fortgewirkt. Es ist höchst merkwürdig und zur Belehrung derer besonders dienlich, welche an schnellen Fortschritt glauben: schon Sokrates eignete der typische Fehler unserer Zeit: der Schwerpunkt seines Lebens ruhte nicht auf dem Sein, sondern der herausgestellten Vorstellungswelt; schon ihm fehlte das selbstverständliche Wissen, die Instinktsicherheit des ausgeglichenen Menschen; schon er hatte zur innerlichen Geisteswelt kein unmittelbares Verhältnis, schon er suchte von außen her zu ihr den Weg. Das Problem des Sokrates war also buchstäblich schon das unsrige. Aber da er es, wie wir heute besser beurteilen können, vom Standpunkt seiner möglichen Lösung nicht um Jahrzehnte oder Jahrhunderte, sondern um Jahrtausende zu früh gestellt hatte, so musste sein Schicksal ein tragisch-schuldiges werden. Deshalb hat des Sokrates Bild den denkenden Westen wie kein anderes fasziniert. In dessen Geschichte bedeutet es Ähnliches wie das des Prometheus in derjenigen der Menschheitsentwicklung; es ist ein Ursymbol, das in jedem Europäer seither das entsprechende Problem als eigenes bewusst werden lässt.

Das meiste, was unsere Geistesgeschichte von der anderer Kulturen unterscheidet, geht auf ihn zurück. Durch seine Hypostasierung der begrifflichen Bestimmungen, vor welcher metaphysische Besonnenheit die Inder stets bewahrte, ward er zum Vater des spezifischen Abendländerglaubens an die absolute Wirklichkeit des Äußerlichen, welcher Materialismus in der Weltanschauung des sterbenden 19. Jahrhunderts erst ihren Höhepunkt erreichte. Er ist der Vater alles abstrakten Idealismus, das historische Urbild der Gesinnung, welcher der logisch einwandfreie Beweis die anerkannte Wirklichkeit schafft, welcher mittelbare Erkenntnis somit vor der unmittelbaren den Vorrang besitzt. Er ist das Urbild zumal des jüngsten Europäers. Aber am meisten vielleicht zeigt sich sein westlicher und als solcher vorbildlicher Charakter in der Art seiner Unsterblichkeit. Die Unsterblichkeit aller großen Erkenner des Westens, im Gegensatz zu der des Ostens, ist eine nicht des Seins, sondern des Werdens; weniger ihre Gestalt als solche lebt fort, sondern die in ihr zuerst verkörperte Bewegung wirkt fort. Die großen Inder und Chinesen haben ewige Grundtöne angeschlagen, auf welche die ganze Menschheit sich abstimmen mag; die Melodiebildung als solche interessierte jene nicht, die kam von der von ihnen erreichten Bewusstseinsstufe aus auch nicht in Frage; ihre Wahrheit ist, soweit solche vorliegt, zeitlos-ewig. Die aller westlichen Großen von Sokrates ab ist unzertrennbar in den Zeitkörper eingefügt und deshalb zunächst vergänglich; ihr Ewigkeitscharakter ergibt sich hier daraus, dass sie zeitlich fortwirkt. Bei keinem Abendländer vielleicht hat nun die Unsterblichkeit so extrem westlichen Charakter gezeigt wie die des Sokrates. Schon in seinem Schüler Plato blieb er nur als Bild bestehen; als Lehre lebte er nicht fort, sondern zeugte er neue Lehren. So ging es seither weiter bis zum heutigen Tag. Auch als Weiser ist Sokrates mehr Ansporn als Vorbild gewesen. Da er sich zeitlich eingefügt darstellte und die Vollendung dieses Weisheitstypus zu seiner Zeit unmöglich war, so konnte er nicht Vorbild im Sinn von Buddha und Konfuzius sein. Er war der Weise des Abendlands als Skizze.

Verfolgen wir die Entwicklung seit Sokrates in ihren allergrößten Zügen weiter bis zum heutigen Tag, dabei nicht die Einsicht der bevorzugten Einzelnen als solchen, sondern deren Bedeutung für den Gesamtzustand ins Auge fassend. Nach der einzigartigen Synthesis Platos, die keine Einreihung verträgt, und deren Tradition von der eigentlich hellenischen Entwicklungslinie insofern abwich, als die Platoniker, wie vor ihnen die Pythagoreer, sich fortschreitend immer mehr als Wissende, nicht als Nichtwissende fühlten, weshalb ihre Gemeinschaft immer weniger der persönlichen Erkenntnis, sondern einem vom ausgesetzten Glauben lebte, welcher Umstand sie aus dem Rahmen unserer heutigen Betrachtung grundsätzlich ausscheidet, lenkte die Philosophie immer entschiedener in das von Sokrates gewiesene Wissenschaftsfahrwasser ein. Da aber die Grenzen möglicher Wissenschaft damals viel enger noch gesteckt waren, als sie’s heute sind, so erreichte sie nicht genügend viel, um das innerste Streben des Geistes zu befriedigen, und die gleiche Reaktion, welche sich heute gegenüber dem bloß Verstandesgemäßen regt, setzte dementsprechend auf einer ganz niedrigen Stufe ein. Ein erklecklicher Teil der griechischen Philosophen entwickelte sich zu reinem Praktikertum, nicht nur im hedonistischen, sondern auch im geschäftlichen Sinn des Worts. Zeitweilig deckte der Mantel des Philosophen typischerweise den Unterhalter, den Schmarotzer, den Schieber.

Aus der sokratischen Einstellung des Nichtwissenden zog dies Geschlecht die wiederum sophistische Konsequenz, alles sei gleich richtig, beweis- oder widerlegbar, nichts wahr, alles erlaubt, sofern es nur glücklich macht. Auch die stoische Ataraxie hat hier eine ihrer psychologischen Wurzeln. Des Sokrates Forscherernst schien historisch tot, sein tief verantwortungsvoller Weg von der Mehrzahl verlassen. Wer nicht skeptisch oder agnostisch gesinnt war oder als bloßer Scholastiker, wie wohl die meisten Professoren Athens, ohne Sinnesprobleme zu stellen, Buchstaben klaubte, der überantwortete sich, wie ich’s von den Platonikern bereits bemerkte, irgendeinem angesehenen System, welches er ebenso glaubte wie der Katholik die Theodizee seiner Kirche. Als Kirchen in der Tat, weit mehr denn als Stätten der Erkenntnis, müssen die meisten späteren Philosophenschulen angesprochen werden, soweit sie es ernst meinten, wie denn der christliche Seelsorger schließlich ein Amt übernahm, das der Philosoph vor ihm — wenn auch anders — ausgeübt und dessen äußerlichen Rahmen er geschaffen hatte. Ganz spät, gegen Ausgang des Altertums, flammte die antike Weisheit noch einmal zu strahlender Leuchtkraft auf; das größte dieser Abendgestirne hieß Plotin. Vom Standpunkt der Ewigkeit beurteilt, war dieser vielleicht der größte griechische Weise überhaupt, denn das, was Sokrates ersehnte, hat er für seine Person in hohem Grad erfüllt. Es ist nicht wahr, dass der Neuplatonismus Plotins eine Orientalisierung der griechischen Philosophie bedeutet, gerade umgekehrt: der ursprüngliche Platonismus verwestlicht sich endgültig erst in ihm; wäre es anders, nie hätte er zum wahrhaftigen Logos des Christentums werden können, der das Abendland zu dem spezifizierte, was es heute ist. Plotin war wirklich ein vollkommener Weiser, kein Mystagog, kein Kirchenvater, auch kein bloßer Dialektiker oder Moralist, er war eben das, was uns heute als Ideal des Weisen vorschwebt. Deshalb steht die wahre Stunde des Neuplatonismus erst bevor3. Aber ebendeshalb hat dieser zu seiner Zeit die historische Aufgabe nicht erfüllen können, die er sich selber zumaß. Auch durch Plotin und seine Schule vermochte die antike Weisheit das ihr von Sokrates gesteckte richtige Ziel — das Leben vom Geiste her neu aufzubauen — nicht zu erreichen; lebte Sokrates 2500 Jahre zu früh, so gilt Gleiches vom großen Alexandriner um nicht einmal tausend Jahre weniger. Der Neuaufbau geschah schließlich durch ein anderes: eine neue Religion.

1 Vgl. hierzu Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit in Philosophie als Kunst sowie die letzten Benares-Abschnitte des Reisetagebuchs.
2 Diesen Punkt hat vor allem Windelband in seiner schönen Sokratesstudie hervorgehoben. Gute Bemerkungen über Sokrates im Zusammenhange wesentlichen Fortschritts enthält August Horneffers Philosophie-Büchlein, Stuttgart 1922, Franckhsche Verlagshandlung.
3 Die erste ihrem Gegenstand ganz gerecht werdende Behandlung Plotins und seiner Lehre bedeutet das Buch R. W. Inges The Philosophy of Plotinus (London 1918, Lergmans, Green &. Co.), das schleunigst auch dem deutschen Publikum zugänglich gemacht werden sollte.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Erster Zyklus:III. Antikes und modernes Weisentum
© 1998- Schule des Rades
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