Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Morgenländisches und abendländisches Denken als Wege zum Sinn

Sinnbild

Was ich hier sage, kann gewiss noch nicht als erwiesen gelten. Aber die Anlage dieses Buches verlangt, dass ich seine Leitmotive von vornherein anschlage. Deshalb suche der Leser nicht hier schon nach Ausführungen und Begründungen, welche erst später kommen können, sondern folge zunächst dem allgemeinen Rhythmus meiner Darstellung. Er wird es nicht bereuen. — Es gibt in der Tat eine rein geistige und dabei reale Welt. Es gibt ein autonomes Geistesleben, das nicht bloß mit Abstraktionen aus der Außenwelt arbeitet, wie die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts annahm, sondern seine eigene Wirklichkeit fortschreitend in der Erscheinung ausdrückt. Wie der Erfinder von einem unsichtbaren Plane ausgeht, der sich dann langsam materialisiert, so liegt Sinn überall dem Geistesleben als Innerstes zugrunde. An sich ist er völlig unfassbar; er realisiert sich, indem er sich ausdrückt; der Ausdruck umspannt seine ganze empirische Wirklichkeit. Aber diese wird dann allein verstanden, wenn sie eben als Ausdrucksmittel betrachtet, wenn durch sie hindurchgelesen wird, wie durch eine Buchstabenschrift. So lesen wir tatsächlich durch alle Erscheinung hindurch, sofern wir Geist auffassen, nicht bloß beim Studium eines Buchs, beim Anhören einer Rede, sondern auch bei der Aufnahme eines musikalischen, dichterischen, bildhaften Kunstwerks, ja bei der Würdigung einer technischen Erfindung. Überall erweist sich der Sinn als der eigentliche Schöpfer der Erscheinung. Auf ihn allein bezieht sich alles Verstehen, so dass wir jetzt, von anderer Seite her, die Bestätigung dessen haben, was wir zu Anfang (S. 6) erkannten, nämlich dass Gemeintes und Gesagtes grundsätzlich nicht ein und dasselbe sein können, und dass es eine unmittelbare Kommunikationsmöglichkeit gibt von Geist zu Geist.

Und jetzt gelangen wir zu dem für unsere heutigen Zwecke Wichtigsten: die sinnhafte Geisteswirklichkeit manifestiert sich nicht bloß in der bewussten Geistesschöpfung, also in der Sphäre dessen, was man Kulturgestaltung heißen mag, sondern in der alles Lebens. Nicht nur ein großer Seelenmaler, wie Rembrandt, benutzt die Gesichtszüge als Ausdrucksmittel für Tieferes — das lebendige Fleisch selbst durchgeistigt sich fortschreitend im genauen Verhältnis zum inneren Wachstum seines Trägers; auch die physischen Lebenserscheinungen sind also nicht bloß da, wie tote Körper — sie bedeuten etwas jenseits ihrer selbst, oder können es doch tun. Da dieses Bedeuten nun eine rein geistige, als Materie auf keine Weise zu begreifende Wirklichkeit ist, so muss daraus weiter folgen, dass, je mehr Geist eine Erscheinung zum Ausdruck bringt, desto mehr alles Gewicht auf der Bedeutung liegt. Dass dies im Fall der Geistesschöpfung wahr ist, liegt auf der Hand: ein wirklich bedeutendes Buch ist beinahe reiner Geist, der Stoff spielt kaum eine größere Rolle in ihm, wie in der Buchstabenschrift. Aber nicht anders liegen die Dinge im Fall lebendiger Menschen. Die bloßen Tatsachen des Lebens eines wirklich bedeutenden Menschen — wie genial hat die Sprache hier den Sinn gefasst — beurteilen wir unwillkürlich als gleichgültig; wir achten bloß auf das, was durch sie zum Ausdruck kommt; jeden Zug, jedes Erlebnis sehen wir als Sinnbild. Hiermit wäre denn ein irgendwie objektiver Geist als wirklich festgestellt; hiermit wäre die östliche Auffassung vom Beruf des Denkens als innerhalb ihrer Grenzen zutreffend erwiesen. Gewiss nicht in Form erschöpfenden Nachweises, noch weniger im Sinn letztmöglicher Deutung, aber doch soweit, wie die Umrisszeichnung das spätere Gemälde bestimmt. Die Grenzen stehen fest, gleichviel, wie viel im einzelnen noch auszuführen und zu ändern sei. Zum metaphysisch Wirklichen hat der Osten augenscheinlich das richtige Verhältnis. Allein jetzt verstehen wir auch ganz, weshalb er so unexakt ist. Da alle Erscheinung ihm vor allem Sinnbild ist, so fehlt ihm das Gewissen für sie. Sie ist ja nur Ausdruck. Insofern sind wirkliche Erfahrungen nicht mehr wert als Träume, erscheint es freilich angängig, irdische Chronik mit himmlischer Sage zu verquicken. Wer je seine Träume aufmerksam beobachtete, der weiß, wie leicht eine Gestalt sich in andere umwandelt, wie selbstverständlich Verschiedenstes in diesem Zustand Gleiches bedeutet. Der Inder beurteilt alle Erscheinung, wie wir den Traum. Er nimmt sie nicht ernst. Nur um den Sinn ist es ihm ernstlich zu tun. Da aber der Sinn als solcher unaussprechlich, die Erscheinung jedoch proteisch-wandelbar ist, so schwankt der Inder geistig zwischen dem Rückzug aus aller Gestaltung und einem Gestaltenwirrsal, in welchem der Europäer sich erschreckt verliert.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Morgenländisches und abendländisches Denken als Wege zum Sinn
© 1998- Schule des Rades
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