Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Zweiter Zyklus:I. Die Symbolik der Geschichte
Kind des Schicksals
Alle historischen Veränderungen, soweit sie wirklich historisch sind, tragen Bedeutungscharakter. Betrachten wir diesen Zusammenhang näher. Überall, wo ein Kulturwille herrscht, wo also Geistiges durch das Biologische hindurch nach Ausdruck strebt, entsprechen die Menschen, trotz aller Zufälle, auch an Talent und Anlagen den Anforderungen ihrer Zeit; je ausgesprochener und lebendiger deren spezifischer Geist, desto mehr und besser decken sich jeweilig Sinn und Ausdruck. So beweist denn der Historiker in jedem solcher Fälle nachträglich ohne Müh’, dass im Großen alles genau so kommen musste, wie es kam. Oberflächlich beurteilt, scheint dies nicht weiter verwunderlich: da jedes Zeitalter durch den Charakter der in ihm wirkenden Menschen bestimmt wird, so ist wohl klar, dass Zeit und Menschen sich entsprechen müssen. Allein die Notwendigkeit geht weiter, als sich kausal erschöpfend begreifen lässt. In unbedeutenden, routinebeherrschten Zeitläufen mag man wohl wünschen, dass interessantere Menschen erständen, und man mag sich auch ausmalen, was solche sagen und tun möchten — allein es gibt sie nicht. Zu anderen erwächst auf einmal eine ganze Flora solcher sonst umsonst Ersehnter, und diese Flora wirkt dann seltsam gleichsinnig, bei aller Verschiedenartigkeit, und unverkennbar zeitgemäß.
Am auffälligsten offenbart sich dies zunächst dunkle Verhältnis im Fall des großen Mannes: ein solcher stellt sich immer dann nur ein, wenn er, theoretisch beurteilt, möglich ist, und bleibt er aus, so fühlt jeder Tiefere, dass dies seine guten Gründe hat1. Dies haben zumal alle großen Täter selbst gefühlt. Mag sich der Kleine und Mittelmäßige rein selbstherrlich vorkommen — jeder ganz Große hat sich, wie immer er sich den Zusammenhang deuten mochte, von den Sternen emporgetragen und beschirmt gefühlt und dies charakteristischerweise desto mehr, je mehr sein Erscheinen zufällig bedingt erschien, als bloß an seine überragende Persönlichkeit gebunden. Dies gilt von Cäsar, von Wallenstein, von den großen mongolischen Eroberern; dies gilt im höchsten Grade von Napoleon. Napoleon hat sich selbst, obgleich er die vielleicht selbstherrlichste und reinste Willensgestalt der Geschichte darstellt, durchaus als Kind des Schicksals beurteilt. Immer wieder hat er seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass er ohne die gerade vorliegenden Massenbewegungen und Volksstimmungen nichts vermocht hätte; wäre er nicht geboren worden, dann hätte ein anderer die gleiche Rolle gespielt wie er. Er musste wohl wissen, wie er’s meinte. Was bedeutet nun dieses nie fehlende Schicksalsbewusstsein der ganz Großen? — Bismarck, ein weiterer tief Schicksalsbewusster, hat gesagt:
Der Mann ist genau nur so groß wie die Welle, die unter ihm brandet.
Dieses Wort, das der eiserne Kanzler auf der Höhe seines Ruhms zu meinem Vater sprach, als dieser, ein Student der Geschichte, die erste Quelle der Zeit nach dem Wesen historischer Größe fragte, weist den Weg zum Verständnis des ganzen Zusammenhangs. Die Schicksalskindschaft der historisch Großen bedeutet nicht, dass bestimmte Begabungen nur zu bestimmten Zeiten geboren werden, sondern dass bestimmte nur zu bestimmter Zeit entsprechende Bedeutung erlangen konnten. Nicht umsonst hat dieser oder jener Große oft jahrelang zu den ihn drängenden Freunden gesagt: meine Zeit ist noch nicht gekommen; nicht umsonst meint die Umwelt im Fall allzulange am Amte Klebender oft: dieses Zeit ist um; es wäre besser, er ginge; jetzt kann er nur mehr schaden, und damit begräbt er am Ende seinen Ruhm. Es ist wahr: nur zu bestimmter Zeit kann ein bestimmter Mensch, wie er ist, Großes bedeuten, denn nur zu bestimmter Zeit drückt sein gegebenes persönliches Wesen die Erfordernisse des Zeitsinns entsprechend aus. Es kommt auch hier auf den Bedeutungszusammenhang an, welcher die Tatsachen trägt, nicht diese selbst. Jenen kann man nur fühlen oder vorwegnehmen. Geschichtlich groß werden allein die Hochbegabten, welche zur rechten Zeit eingreifen. Die Bedeutung schafft den historischen Tatbestand, nicht umgekehrt. Die Natur als solche verändert sich durch Äonen nicht; ihr Gesetz ist das der Wiederholung. Auch die Rassen und Völker ändern sich der Anlage nach kaum, solange sie bestehen. Deshalb hat die Annahme alle Wahrscheinlichkeit für sich, dass die Begabungen unter noch lebendigen (nicht stagnierenden oder dekadenten) Völkern und Klassen durch die Jahrhunderte annähernd die gleichen bleiben, so wie es immer das gleiche Alphabet ist, vermittelst dessen man seine noch so verschiedenen Gedanken niederschreibt. Allein Bedeutung erlangt Begabung nur dann, wenn sie in ihrer Eigenart und Schaffensrichtung dem Sinn der Zeit entspricht. Daher die wechselnde Eigenart der Führer von Epoche zu Epoche.
Heute wieder, wie zuletzt während des Untergangs der Antike, erlangen die Juden, trotz ihrer numerischen Schwäche, eine unbestreitbare Vormachtsstellung. Dies hat heute dieselben Gründe wie dazumal: einerseits liquidiert eine ganze Zeit, weshalb die zersetzende und im flüssigen Zustand wiederum verknüpfende jüdische Anlage sowohl im negativen wie im positiven Verstand als zeitgemäßeste erscheint; andererseits findet eine gegenseitige Durchdringung von Osten und Westen statt, was jener wiederum einen Vorsprung vor anderen sichert. Aus welcher Erwägung unter anderem die Torheit des Unterfangens folgt, die Vormacht der Juden durch deren Verfolgung zu brechen: dies bedeutet Ähnliches, als wenn ein Arzt Masern durch Schleichsche Creme kurieren wollte. Mögen die Germanen doch lieber dafür sorgen, dass recht bald ein neuaufbauendes Zeitalter anbreche, zugleich, sobald Führerschaft in Frage kommt, höhere Ansprüche an ihre eigenen geistigen und moralischen Fähigkeiten stellen: dann werden die Juden von selbst von der historischen Bühne abtreten; dies wäre ein besonders lehrreiches Beispiel dafür, wie das Böse durch Gutes überwunden wird, und so allein (vgl. S. 228)2. —
Heute wieder, wie zuletzt während des Dreißigjährigen Kriegs, erlangen Kondottierenaturen Bedeutungsmöglichkeit — folglich werden sie historisch sichtbar; es gab deren zu aller Zeit, nur konnten sie nichts bedeuten. Eine ganz große dieser Art, welcher ich hier ein Denkmal setzen möchte, ist von den Bolschewisten leider gefangen und hingerichtet worden; sonst hätte sie höchstwahrscheinlich, als Tamerlan redivivus, dessen Horoskop ihr die Lamas zuerkannten, ein asiatisches Weltreich gegründet. Dies war der Baron Roman Ungern-Sternberg. In die Vorkriegszeit passte er auf keine Weise hinein. Sein Wesen hing gleichsam im leeren Raum zwischen Himmel und Hölle; der höchsten Intuition und Güte fähig wie der grausamsten Tat, hatte er zu den Normen dieses verbürgerlichten Planeten gar kein Verhältnis. Aber als sibirischer und mongolischer Kondottiere hat er später Wunder gewirkt und wird drüben wohl Jahrhunderte entlang in den Liedern der Nomaden, welche er führte, fortleben. — Heute wieder finden blinde Fanatiker und sonstige Vertreter der Nachtseite des Lebens, welche es immer gibt, eine Bedeutungsmöglichkeit, die sie so seit den Tagen der Religionskriege nicht mehr hatten. Um Lenin, Trotzki, Dserschinski, Clémenceau, Poincaré zu verstehen (man wundere sich nicht über die Zusammenstellung: die Extreme berühren sich), muss man trotz aller Unterschiede an Herzog von Alba, Cromwell und Torquemada zurückdenken. So hat das Vorherrschen bestimmter Naturen zu bestimmter Zeit seinen guten Sinn: zu jeder können eben nur bestimmte etwas bedeuten.
Hier wären wir denn beim Problem des großen Mannes wieder angelangt. Auch er erscheint immer nur dann, wenn er historisch möglich ist, und dies ist nur ganz selten der Fall. Damit nicht nur supreme Begabung, sondern ein großer Charakter sich im vollen Ausmaß seines Wesens auswirken könne, muss, um in Bismarcks Bilde zu bleiben, eine gewaltige Welle unter dem Manne branden. Solche erheben sich nur ausnahmsweise; gerade jetzt sind sie auf Jahre hinaus undenkbar, weil das Geschichtsmeer von so vielen Zyklonen und Taifunen auf einmal zerblasen wird, dass eine einheitliche Massenströmung sobald nicht resultieren wird. Und fehlt die Welle, so ersteht der Mann auch nicht, denn dieser erwächst in Wechselbeziehung zu seinem Schicksal. Die Stellung spielt beim sichtbaren Charakter eine solche Rolle, sowohl im Sinn der Entfaltung als dem der Auswirkung und Verdeutlichung, dass es buchstäblich falsch ist, einen Ohnmächtigen und einen Mächtigen empirisch gleichzusetzen: es mag einer, zur Macht gelangt, Eigenschaften offenbaren, die ihm vorher niemand, auch der Betreffende sich selbst nicht, zuerkannte. Ob der große Mann zur rechten Stunde notwendig kommt, ist eine andere Frage, aber man möchte sie beinahe bejahen aus der Erwägung heraus, dass es an großen Begabungen aller Richtungen grundsätzlich nie und nirgends fehlt, so dass irgendeine von ihnen jedenfalls, sobald die Betätigung ihr ermöglicht wird, zu Führerstellung gelangen müsste3.
Die Wahrscheinlichkeit seines rechtzeitigen Erscheinens und Eingreifens verstärkt der weitere Umstand, dass jeder einzelne seine Bildung und Entwicklungsrichtung vom Zeitgeist erhält (dieser, wie er im geheimen schöpferisch wirkt, nicht die offizielle Routine bildet den Begabten, nur der Mittelmäßige wird vorzugsweise vom Sichtbaren beeinflusst), so dass die einer Zeit entsprechenden Geister und Charaktere beinahe automatisch in den Vordergrund rücken, während die Unzeitgemäßen zurückbleiben. Dieselben Journalisten, die im zaristischen Russland nichts bedeuten konnten und jahrelang als zänkische Kannegießer im Ausland lebten, befanden sich dank dem Umschwung zu ihrer Aufgabe geradezu fachmännisch vorgebildet. Die Kadetten konnten in Russland nie etwas bedeuten und werden es niemals tun, mögen die Westmächte sie noch so energisch stützen, denn der westliche Liberalismus entspricht keiner möglichen russischen Wirklichkeit. Dass ein Lloyd George jetzt in England die erste Geige spielt, und dieses gut, er, auf den noch 1914 alle damals führenden Engländer herabsahen, hat gleichfalls tief symbolische Bedeutung: nur dieser Typus des reinen Taktikers kleiner Herkunft und kurzsichtigen, aber überaus scharfen Blicks entspricht den Bedürfnissen und Möglichkeiten der neuen Zeit, die auch in England das Ende der alten Aristokratie und damit des weitvorausschauenden Planenkönnens mit sich bringt4. Nur ein Augenblickspolitiker, der alles eher als ein Staatsmann ist, kann in Englands heutiger extrem labiler Lage eventuell auch staatsmännische Erfolge erringen. Heute ist persönliche Initiative und Taktik alles, weil die Welt verflüssigt ist.
Dies allein schon erklärt die bisherige Überlegenheit der Ententepolitiker über die deutschen, deren Menschenbehandlungskunst keine parlamentarische Erfahrung ausgebildet hatte. Nun aber zum Problem des Auftretens besonders großer Begabungen in Erneuerungszeiten: auch dieses ist vom Sinn her leicht zu lösen. Der Führer bedarf es unter allen Umständen. Da nun unter den Routinierten nie solche zu finden sind, welche völlig neuen Aufgaben gewachsen wären, so betreten außerordentliche Talente zu solchen Zeiten leichter als sonst, trotz allen Neides und Hasses, der nie ausbleibt, den Weg zur Führerstellung, wie dies das bolschewistische Russland besonders eindrucksvoll zeigt. Dass, umgekehrt, große Begabungen an der Spitze des neuen Deutschlands bisher so völlig fehlen, beweist eindeutig, wie wenig revolutionär das sogenannte revolutionäre Deutschland tatsächlich ist. Hier gibt es gar keine Welle, welche die Begabten hoch trüge. Deshalb erwies sich alles Revolutionäre von Bedeutung in diesem ordnungsfanatischen Land als materiell oder wenigstens geistig aus Russland importiert.
1 | Vgl. hierzu auch die Studien Zeitliche, zeitlose, ewige Geister und Das Schicksalsproblem in Philosophie als Kunst, sowie den Aufsatz Von der Bedeutung des Einzelnen in Politik, Wirtschaft, Weisheit. |
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2 | Vgl. über die selten beachteten positiven Seiten des Judentums Leo Baecks Wesen des Judentums (2. Aufl. Frankfurt 1922, L. Kaufmanns Verlag), über welches ich im 4. Heft des Weges zur Vollendung eine eigene Betrachtung angestellt habe, ferner die Broschüre R. N. Coudenhove-Kalergis Adel (Leipzig 1922, Verlag der Neue Geist). Sehr Beherzigenswertes enthält auch Oskar A. H. Schmitz Disraeli-Buch (Die Kunst der Politik, München, Georg Müller Verlag) und Wilhelm Michels Verrat am Deutschtum (Verlag Steegemann, Hannover). |
3 | Ich weiß wohl, dass ich das Problem in einer Hinsicht gewaltsam vereinfache: Allergrößte hat es nur ganz wenige je gegeben, so notwendig sie dem Verstande zu aller Zeit erscheinen, und diese Seltenen waren einerseits vom empirischen Zeitgeist wie unabhängig (es erging ihnen meist sehr schlecht), legen andrerseits die Anerkennung astrologischer Zusammenhänge nahe, was immer diese letztlich bedeuten mögen. Aber die Allergrößten kommen für unser heutiges Problem nicht in Frage, zumal kein Staatsmann der bekannten Geschichte in ihre Kategorie fallen dürfte. Sehr große Begabungen gibt es fraglos zu aller Zeit. Die Klage über die besondere Mittelmäßigkeit der Menschen der unsrigen (die übrigens auch Schiller und Goethe über die ihre vorbrachten) ist dabei objektiv besonders unbegründet. Ich, mit meinen einundvierzig Jahren, bin Zeitgenosse von Ibsen, Tolstoi, Dostojewski, Turgenjeff, der chinesischen Kaiserinwitwe, Marquis Ito, Porfirio Diaz, Bismarck, Moltke, Hindenburg, Lenin, Gandhi, Tagore, Bernard Shaw, Anatole France, Richard Wagner, Nietzsche, Bergson, Rodin, Manet und vielen anderen gewesen, die mir im Augenblick nicht einfallen, aber dem einen oder anderen unter den Aufgezählten gewiss gleichwertig sind oder waren. Mehr bedeutende Leute gab es in der gleichen Zeitspanne vielleicht zu keiner Zeit. |
4 | In seinem genialen Werk Les lois de l’imitation (5. Aufl. Paris 1907) hat Tarde das notwendige Gegensatzverhältnis zwischen Zeitaltern des Herkommens und Zeitaltern der Mode aufgezeigt; diese sind typischerweise ebenso kurzsichtig wie jene weitsichtig.
wie Tarde das Verhältnis präzisiert, hat den übertriebensten Ausdruck, der sich überhaupt vorstellen lässt, in der Politik des Weltkriegs und seither gefunden. |