Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Zweiter Zyklus:I. Die Symbolik der Geschichte
Umwälzungen
Sie sehen, es sind wirklich geistige Zusammenhänge, welche die Geschichte bedingen und tragen. Wer jenen Sinn erfasst, der kann nicht allein das Geschehen schon im Werden verstehen, wie dies dem Historiker allein dem Gewordenen gegenüber gelingt: der mag, ohne nur im mindesten Prophet zu sein, das meiste richtig voraussehen. Dies ist den jungen, durch den Weltkrieg zur Selbständigkeit gelangten Völkern in besonders hohem Grad gelungen — kaum eins von ihnen hat während der ganzen Zeit aufs falsche Pferd gesetzt —, weil deren Glieder, bisher an politischer Betätigung verhindert, auf Beobachtung und Gelegenheitsausnutzung angewiesen, in erwartender Versenkung auf die Zukunft allein bedacht, mit dem kollektiven Unbewussten und dem Zeitsinn in besonders nahem bewusstem Kontakt standen. Gewiss vermag keiner, der nicht Prophet ist1, Tatsachen als solche vorauszusehen, denn deren Folge hat äußerlich-empirische Ursachen, und diese greifen, vom Sinn her betrachtet, meist zufällig ein. Dies gilt im höchsten Grad in demokratischen Zeiten, weil die geborenen Bewohner sozialer Niederungen, nun plötzlich zur Macht gelangt, diese vor allem fühlen wollen, was ihnen am besten so gelingt, dass sie gerade in für Millionen wichtigsten Fragen persönliche Motive überlaut mitsprechen lassen; die Launen der Könige und Königinnen waren nichts gegenüber denen moderner ministerieller Eintagsfliegen. Allein die grundsätzliche Voraussicht stört dies nicht: die Zufälle erlangen Bedeutung immer nur dann, wenn sie geistiger Notwendigkeit entsprechen. Deshalb bleiben die richtigen auf die Dauer niemals aus.
Die russische Revolution vom Jahre 1917 brach zufällig herein, weil die Getreidezufuhr nach Petersburg eine Woche lang stockte und die Weiber deshalb auf die Straße strömten, auf welche die Soldaten nicht schießen wollten — aber bedeutsam wurde der Zufall allein, weil er längst Fälliges auslöste. Am Schicksal der Völker ist deshalb so viel Besonderes mit Sicherheit vorauszusehen, weil der Naturprozess als solcher sich durch alle Zeit annähernd gleich bleibt, so dass die richtigen Zufälle ganz sicher auch eingreifen, wenn sie dem Sinn entsprechen; dies schon für das individuelle Schicksal gültige, nur nicht jedesmal nachweisbare Gesetz2 gilt für die Völker unbedingt, weil hier sehr lange Zeiträume in Frage stehen; für das Völkerleben bedingt es keinen Unterschied, ob eine sinngemäße Wende ein halbes Jahrhundert früher oder später erfolgt. So sah Bismarck den Zusammenbruch seines Werks schon mit dem Regierungsantritt Wilhelms II. unabwendbar kommen. So zweifelten Russlands nationalistisch empfindende Kreise, die Nachkommen und Fortsetzer des Werks der alten Slawophilen — ich berichte aus persönlicher Erinnerung — schon 1915 nicht daran, dass der Weltkrieg mit dem Sturz der Romanows und dem Ende der petrinischen Epoche abschließen müsse; die Erneuerung werde von Osten her, nicht mehr dem mattgewordenen Herzen Russlands kommen. So zweifelte kein Urteilsfähiger außerhalb Deutschlands schon lange vor der Revolution, dass dieses einen Koloß auf tönernen Füßen darstellte, während die Bolschewistenführer, kaum dass sie im Frühjahr 1917 nach Russland heimkehrten, wie selbstverständlich die Parole ausgaben, nicht Deutschland sei der Feind der Völkerbefreiung — es sei im Gegenteil, trotz der momentan noch imperialistischen Fassade, die prädestinierte soziale Republik —, sondern Frankreich. Aus gleichem Sinnverstehen heraus sind seit Versailles die Weitblickenden in allen Ländern der erneuten Erhöhung Deutschlands, im Gegensatz zu Frankreichs unausbleiblichem Niedergehen, gewiss. Katastrophen bedeuten sehr wenig im langlebigen Völkerschicksal, es sei denn, sie schneiden die Entwicklung tatsächlich ab. Über den Fortbestand entscheidet für die Dauer allein die jeweilige Lebenskraft. Über die Bedeutung innerhalb der Völkergemeinschaft das Verhältnis zwischen Zeitsinn und Volksanlage, soweit die Vitalitäten und Initiativen sich wechselseitig die Waage halten; denn ein müdes, erschlafftes, feiges Volk hat niemals Zukunft, so begabt es sei. Sonst spielt noch die Routine eine schwer zu überschätzende Rolle. Die Trägheit ist auch unter Menschen, wie unter Sternen, die stärkste Macht. Was ein Volk jahrhundertelang zu denken und zu tun gewohnt war, woran die Völker jahrhundertelang geglaubt haben, hat unter allen Umständen, sofern es nicht sinnlos geworden und folglich abgestorben ist, mehr Zukunftsbedeutung als das in Konvulsionszeiten Geleistete. Verfolgung und Bedrückung kommt Lebenskräftigem auf die Dauer nur zugute.
Im übrigen scheinen Revolutionen, wenn sie energisch genug waren, den Krankheiten anzugehören, die man nur einmal durchmacht, und die, überstanden, den Organismus in seinem Normalzustand gefestigt zurücklassen. So ist Frankreich heute das konservativste aller Länder, immuner als alle anderen gegen den Bazillus der Weltrevolution. Dementsprechend ist für die fernere Zukunft ein besonders konservatives Russland zu erwarten — welche Erwartung aber nicht mit der seiner Emigranten zusammenfällt, dass das Vorrevolutionäre konserviert werden wird; zu Zeiten gewaltigster Umwälzungen bleibt im Großen nur Neugewordenes bestehen und vom Ererbten nur das, was indessen, so oder anders, neuerworben wurde, wodurch es in notwendige Beziehung zum neuen Zeitsinn trat. Tiefer Sinn liegt allem historischen Geschehen zugrunde. Weil der Mensch der unmittelbaren Sinneserfassung fähig ist, so vermag er nicht allein das Vergangene und Gegenwärtige zu verstehen, sondern auch das Kommende vorauszusehen.
1 | Dass es tatsächlich ein Vorauswissen der Zukunft im prophetischen Verstande gibt, so selten es vorkomme, kann heute als wissenschaftlich erwiesen gelten. Man lese Charles Richets Trait de Métapsychique, Paris 1922, Felix Alcan. Aber zu erklären ist dies Vorauswissen mit unseren bisherigen Begriffen nicht. |
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2 | Vgl. hierzu mein Schicksalsproblem in Philosophie als Kunst. |