Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Zweiter Zyklus:II. Politik und Weisheit
Ideologische Politik
Überfliegen wir in der Erinnerung die geistigen Grundlagen des Geschehens, wie dieses sich uns an den gestern behandelten Tatbeständen darstellte, und suchen wir deren Bedeutung genauer zu bestimmen. Da fällt uns auf, dass das Geistige, welches überall das Materielle trägt, zunächst nichts Tieferes darstellt, oder wenigstens darzustellen braucht, als das, was man öffentliche Meinung heißt. Wenn zuerst die Entente unerhörte Werbekraft besaß, und später Moskau, so hat dieser Umstand zunächst keinen tieferen Sinn als den, dass die öffentliche Meinung sich an deren Ideologien orientierte. Nun liegt auf der Hand, wie wenig solche wert zu sein braucht. Meist war es, nach dem Buchstaben beurteilt, reiner Wahn, der die gewaltigsten Bewegungen entfesselt hat. Die Pflicht, die Heiden durchs Schwert zu bekehren oder zu vertilgen, erscheint uns heute als entsetzlicher Aberglaube — und doch war deren Anerkennung die Auslöserin jenes wunderbaren Idealismus, der in den Kreuzzügen seinen Kulminationspunkt fand. Der Deutschenhass war die mächtigste Triebkraft des Weltkriegs, wird die Geschicke vielleicht noch lange weiter bestimmen, und doch handelt es sich bei ihm um einen Irrwahn, deren es nie einen ärgeren gab. Deshalb darf der, welcher die geistigen Imponderabilien richtig einschätzt, zunächst nur als Realpolitiker dem anderen als überlegen gelten, der nur die äußerlich sichtbaren Tatsachen, wie materielle Macht und zahlenmäßig als zweckmäßig Erweisbare, berücksichtigt.
In der Tat kann nicht behauptet werden, dass die Alliierten, während des Kriegs, eine geistigere Politik als die Deutschen getrieben hätten: sie waren nur realdenkender, insofern ihr Handeln einem weiteren Umkreis des Wirklichen, in richtigerer Beurteilung der Gewichtsverhältnisse, gerecht wurde. Gäbe es daher kein Jenseits der öffentlichen Meinung — ich brauche das Wort wieder als Gattungsbezeichnung für alles Verwandte —, so hätte tatsächlich nur Realpolitik im üblichen Verstande Sinn und Idealen wohnte kein tieferer inne als der, geschickten Taktikern zum Mittel zu dienen. So haben die allermeisten Staatsmänner, was immer sie öffentlich bekennen mochten, die Ideale im Stillen auch beurteilt, und ich wüßte nicht, dass ein tief genug blickender Opportunist durch die Erfahrung jemals widerlegt worden wäre. Oberflächliche werden es in der Regel; tiefere deshalb nie, weil sie die Ideale als Kräfte unter anderen in ihre Rechnung einstellen und so aus Opportunismus erforderlichenfalls auch Ideale verwirklichen. Auf diesem Wege ist England so weit vorangekommen. Realpolitiker arbeiten eben grundsätzlich mit vorhandenen Mitteln, auf greifbare Ziele hin. Demgegenüber lässt sich das typische Scheitern aller ideologischen Politik durch die eine Erwägung erschöpfend erklären, dass diese mit nicht vorhandenen Mitteln arbeitet, auch wo ihr Ziel kein chimärisches ist. Sie geht typischerweise von einer unzutreffenden Vorstellung des Kräftezusammenhangs aus und glaubt überdies an eine Macht der abstrakten Ideen, welche diese als Abstraktionen nicht haben. Unsere Pazifisten verkennen die europäische Raubtierhaftigkeit, unsere Sozialisten, dass die Verwirklichung ihres Ziels einen unverhältnismäßig höheren moralischen Zustand voraussetzt, als solcher heute herrscht, die Internationalisten, dass es Europäer, die notwendige Voraussetzung von Europas Vereinigung, zunächst nur einige wenige gibt. Ideologen täuschen sich typischerweise über die wirklich vorhandenen Kräfte. Deshalb wurden sie durch alle Geschichte von den reinen Opportunisten besiegt. Besiegt gerade darin, dass diese Besseres, Idealnäheres erzielten.
Aber mit dieser Feststellung ist die Frage doch nicht erledigt. In der Tat genügt ein kurzer Rückblick in der Erinnerung auf unsere gestrigen Betrachtungen zur Erkenntnis dessen, dass unsere heutigen sich zunächst an der Oberfläche bewegen. Das kollektive Unbewusste, dessen Charakter die Grundlage des Zeitgeistes darstellt, ist ein tieferes als die öffentliche Meinung, welche meist künstlich erzeugt und nur in der Oberfläche verwurzelt ist. Der Zeit-Sinn ist die jeweilige Seele jenes, deshalb eine schöpferisch-geistige Macht. Eben deshalb muss es sich auch bei den Idealen um Wesenhaftes handeln; deren Sinn erschöpft sich keinesfalls darin, geschickten Taktikern zum Mittel zu dienen. Es ist auch nicht wahr, dass die Ideologen, deren praktische Politik regelmäßig scheitert, deshalb ohne politische Bedeutung wären: sie versagen nur notwendig als Verwirklicher ihres Ideals. Dass die bewusst unpolitischen Idealisten, die, sei es als Bahnbrecher, sei es als einfache Soldaten, sich selbst ihrer Idee zum Opfer bringen, zu den nicht allein edelsten, sondern auch praktisch wichtigsten Faktoren der Geschichte zählen, brauche ich nicht erst zu begründen: die Zeugen für eine Wahrheit, zumal die Blutzeugen, machen diese allererst bekannt und zur werbenden Macht. Aber die echten Idealisten gehören in eine Betrachtung über Staatskunst nicht hinein; kein Idealist war als solcher überhaupt in erster Linie auf praktischen Erfolg bedacht, was des Staatsmanns eine Sorge sein muss; er wollte sich in erster Linie opfern. Worauf es hier nun ankommt, ist, dass auch ideologische Politiker, also die Zwischenglieder zwischen Bekennern und Praktikern, nicht ohne politische Bedeutung sind.
So kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Rousseau, Proudhon und Marx, trotzdem deren Utopismus abschließend bewiesen werden kann, in der Geschichte letztendlich eine entscheidendere Rolle gespielt haben als alle Realpolitiker seither, denn von ihnen ging ein großer Teil der realen Kräfte aus, welche den letzteren letzte Instanz waren. So hätte alle taktische Geschicklichkeit der Entente, und Bolschewistenführer zu den erfolgten großen Ereignissen nicht geführt, wenn den Idealen, mit denen sie operierten, nicht gewaltige Kräfte innegewohnt hätten. Deshalb geht es doch nicht an, die Vertreter großer Ideale als Ideologen verächtlich abzutun, bloß weil sie unzweifelhaft sehr schlechte Politiker waren. — Den Schlüssel zur Lösung des Problems bietet die Erfahrungstatsache, dass jeder tiefe Glaube unenttäuschbar ist. Die wahrhaft liebende Frau glaubt an den Mann, die Jüngerschaft an ihren Heiligen, der wilde Stamm an seine Zaubervorstellungen durch alle seinen Glauben widerlegenden Tatsachen hindurch; dieser wird durch Angriffe, Widerstände und Widerlegungen in der Regel sogar gestärkt. Dies scheint zunächst rätselhaft. Es erklärt sich aber restlos aus der Erwägung, dass idealer Glaube aus einer tieferen Wesensschicht hervorgeht, als der des Beweisbaren, sich auf Tieferes bezieht und am jeweiligen Objekt nur seinen Exponenten hat. Er geht unmittelbar auf Sinnhaftes, was Frauen meist so ausdrücken, dass das Schlechte, das man dem geliebten Manne nachweist, nicht dessen wahres Selbst tangiert, Gläubige ad absurdum geführter Götter meist so, dass man deren wahre Absichten nicht kenne1. Deshalb müssen gerade Gegenbeweise ihn im Bewusstsein stärken, weil der Gläubige zu seiner freudigen Überraschung an sich erfährt, dass diese das, was er meint, überhaupt nicht treffen. In jener tieferen, sinnhaften Wessensschicht nun haben alle Ideale ihren ideellen Ort. Sie sind, wofern Kräfte von ihnen ausgehen, unter allen Umständen, gleichviel, wie es mit ihrer theoretischen Wahrheit beschaffen sei, Exponenten des tiefste-Geistigen im Menschen, welches jenseits der Erscheinung lebt. Deshalb sind sie tatsächlich unwiderlegbar. Deshalb allein erzeugen sie Heroismus und Opferlust. Diese müssen unter allen Umständen aus überempirischem Drang hervorgehen, denn im empirischen Zusammenhang erscheinen selbst die höchsten absurd.
So haben auch die großen Fortschrittsideen, von Utopisten in die Welt gesetzt, durch Erfahrung jederzeit zu widerlegen, ihren Quell im tiefsten geistigen Wesengrund. Von diesem her wird der Glaube an sie immer wieder gespeist. Deswegen kommt Misserfolg ihnen nur zugute. Deshalb handelt es sich bei den weltbewegenden Ideologien, die sich an jenen orientieren, möge ihr jeweiliger Buchstabe noch so anfechtbaren und lebensunfähigen Charakter tragen, um ein tatsächlich Tieferes als das, was man öffentliche Meinung heißt: diese ist vielmehr, in ihrer jeweiligen Ideal-Orientiertheit, ein unvollkommenes Ausdrucksmittel des eigentlichen Strebens. So eroberte das Christentum den Westen durch unzählige sich widersprechende Ideologien und Dogmen hindurch. Die Homousier und Homoiusier, Athanasier und Arianer, Katholiken und Protestanten bekämpften sich nicht deshalb so bitter, weil beider Buchstabe ein verschiedener war, sondern weil beide die gleiche Wahrheit meinten und nicht verstehen konnten, dass solche Gleichheit Verschiedenheit der Ausdrucksart nicht ausschließt; nur Wahrheitsbewusstsein entzündet und erhält den Mut zum Kampf. Der Wille, ein Ideal zu verwirklichen, allein ermöglichte das Wunder der Kreuzzüge; tiefstgeistiges Fortschrittsstreben war die eigentliche Triebkraft des Weltkriegs, wie vorher der französischen Revolution. Man kann mehr sagen: so viele Kriege an realistischen Erwägungen durchtriebener Techniker ihre empirische Ursache hatten — Großes ist dann allein zustande gekommen, wenn ein Ideal die Völker von innen her trieb, und zwar kein Wahngebild, sondern ein dem wahrhaftigen Wesen gemäßes, denn nur realisierte Tiefe beschwört die stärksten Lebenskräfte zur Wirksamkeit (vgl. S. 185). So hat die Tatsache, dass Deutschland im Weltkrieg nicht durchhielt, ihre wahre Ursache daran, dass kein tieferes wahrhaftiges (nicht, wie die sogenannten Ideen von 1914, ein erfundenes, vorgespiegeltes) Ideal als das der Vaterlandsverteidigung das Volk beseelte; denn bloße Eroberungsgier entflammt vielleicht Tartaren, niemals Deutsche.
Also handelt es sich bei jenem Geistigen, welches der sichtbaren historischen Erscheinung zugrunde liegt und seinen Exponenten an den geltenden Idealen findet, nicht etwa bloß um ein psychisches Imponderabile, als welches die Realpolitiker es ansehen, sondern um die tiefste historische Triebkraft; die jeweiligen konkreten Gesinnungen spiegeln diese nur abgeschwächt wider. Dass dem tatsächlich so ist, erhellt vollendet deutlich aus der Möglichkeit des Wechsels der Brennpunkte der Massensehnsucht (Entente — Moskau — Deutschland), von dem wir gestern handelten. Es ist eben ein gleiches Ideal, zu dem die Menschheit sich bald in dieser, bald in jener Verkörperung bekennt. Von hier aus besehen, wird einem nun auch der praktische Fehler der Ideologen vollends deutlich: es ist, so seltsam dies klinge, grundsätzlich der gleiche, den die oberflächlichen Realisten begehen. Auch der Ideolog glaubt nicht an das Geistige an sich, das ewig-Lebendige, unsterblich Wandelbare, jeden Augenblick Schöpferische, sondern an eine bestimmte Verkörperung seiner; nur handelt es sich dieses Mal um keine konkrete, sondern eine abstrakte. Und da solche starrer und unlebendiger ist, als jede nur mögliche konkrete, und am gegebenen Leben gar keinen Halt hat, so erweisen sich Ideologen als Politiker meist noch äußerlicher, als die Opportunisten. Sie beachten schließlich nur noch das Programm, das Bekenntnis, das Zusammenstimmen des Handelns mit der Theorie und übersehen deshalb vollständig alle tieferen Kräfte, über deren vorausgesetzten Zusammenhang sie Vorurteil entscheiden lassen.
Auf diese Weise gelangen wir zum paradoxalen Ergebnis, dass Ideologen und oberflächliche Realisten recht eigentlich einander wert sind. Es ist gleich oberflächlich, die bloße Materie wie die abstrakte Idee als ausschlaggebende reale Macht zu beurteilen. Ideologische Politik führt sich jedesmal schnellstens ad absurdum; oberflächlich opportunistische langsamer, jedoch nicht minder sicher. Opportunismus ergibt notwendig Inkonsequenz, und irgend einmal wird der kritische Punkt in jedem Fall erreicht, wo die Inkonsequenz einer herrschenden Mehrheit bewusst und folglich auch zu viel wird. Diese Erwägungen enthalten aber auch implizite die Antwort auf die Frage, welcher Staatsmann allein Dauerndes zu leisten vermag: es ist der, welcher weder der Ideologie anheimfällt, noch in der Realpolitik die letzte Instanz sieht. Es ist der, welcher durch das jeweilige Mächte- und Meinungsspiel hindurchsieht und aus dem erfassten geistigen Grund heraus das mögliche dauernde Ergebnis initiatorisch vorwegnimmt. Der Ideolog sieht nur das abstrakte Ziel und ahnt nichts vom Weg; der Opportunist passt sich allein den vorhandenen Kräften an. Der wahre Staatsmann verändert von der Idee her die Erscheinung. Urgrund, Weg und Ziel sind ihm ein lebendiger Zusammenhang.
1 | Vgl. hierzu Lévy-Bruhls höchst bedeutsame Studie Les fonctions mentales dans les sociétés inferieures, Paris 1910, deutsch bei J. Braumüller, Wien und Leipzig 1921. |
---|