Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Zweiter Zyklus:II. Politik und Weisheit

Erfassung des Sinnes

Herrscher, wie ich sie meine, gab es bisher vielleicht noch nie. Noch nie jedenfalls solche, welche die erforderliche höhere Bewusstheitsstufe bewusst vertreten hätten. Die einzigen, welche die Menschheit typischerweise vom reinen Sinn her geleitet haben, waren die großen Religionsstifter. Deshalb leben diese auch unabhängig — noch unabhängiger, wie die Geister Cäsars und Bismarcks von ihren ursprünglichen Verkörperungen — von allem Dogmenglauben fort und wachsen, je tiefer sie erfasst werden, zu desto größeren Mächten heran. Die wahre Stunde von Christus und Buddha kommt erst, kann erst kommen, wenn der Sinn ihrer Lehren ganz verstanden sein wird, und dieser sich deshalb ungehemmt wird auswirken können; jede Diskrepanz zwischen den Eigengesetzen des Sinns und denen des Ausdrucks schmälert jenes Macht; dies gilt vom Verstehen genau so wie vom Schaffen. Aber die Religionsstifter befassten sich grundsätzlich nur mit dem Absoluten; zeitliche Fragen bekümmerten sie nicht. Deshalb hat ihr Einfluss das politische Wesen der Menschen nur zeitweilig und kurzfristig vorwärts gebracht. Jede Kirche erstarrte auf die Dauer — und dies mit Naturnotwendigkeit — zu einer reaktionären Macht. Die weltlichen Führer, welche vom Sinnverstehen her die Geschichte lenken könnten, müssen erst kommen. Aber jetzt werden sie kommen. Die entsprechenden Persönlichkeiten finden sich immer, sobald ihre Auswirkung historisch möglich ist (vgl. S. 291 ff.). Und dass die jetzt erforderlichen früher unmöglich waren, braucht einen nicht zu verwundern. Die Geschichte steht ja noch ganz am Anfang, so lang sie uns erscheine.

Es liegt kein Grund zur Annahme vor, dass unser Planet nicht noch etliche Jahrhunderttausende bewohnbar und von Menschen bewohnt bleiben wird. Demgegenüber hat die ganze Menschheit zusammengenommen bisher vielleicht 5000 Jahre Kultur hinter sich, und diese betraf dabei nur verschwindend kleine Minderheiten innerhalb der Völker und Klassen, die weder räumlich noch zeitlich im Zusammenhang standen. Also kann bis heute, der bloßen Zeit nach, unmöglich viel mehr vorgegangen sein, als ein erstes ungeschicktes Stimmen der Instrumente. Betrachtet man nun die Geschichte von diesem Gesichtspunkt aus, dann erscheint einem das augenscheinliche Versagen aller Zeiten und das typische Umsonst aller Endergebnisse weniger tragisch — und wohl auch in richtigerem Licht. Bis heute hat sich im Ganzen nur Irrtum und Unvermögen ad absurdum führen können; da Irrtumsfähigkeit zunächst den Menschen macht, im Gegensatz zum Tier, so musste diese sich an erster Stelle auswirken. Und dieser Prozess ist noch lange nicht zum Abschluss gelangt. Noch ist es sehr kurze Zeit her, dass der Mensch der Außenwelt überhaupt, auf irgend einem Gebiet, mit richtigen Vorstellungen gegenübertritt1, die überwiegende Mehrzahl der Erdbewohner denkt noch heute auf allen gemäß den alogischen Kategorien der participation mystique2.

Die äußere Natur beherrschen wir Westländer (und zwar wir allein) einigermaßen seit einigen Jahrzehnten erst — aber schon zu solch bescheidener Herrschaft haben wir uns als innerlich dermaßen unreif erwiesen, dass uns die materielle Macht sogleich über den Kopf wuchs und uns im Weltkriegsschicksal, welches die Menschheit einmal ähnlich beurteilen wird, wie die Bibel die Sintflut, schier unter sich begrub. Die Menschennatur beherrschen wir eben noch gar nicht. Der stehen wir noch sehr ähnlich gegenüber wie der Wilde der Außenwelt, und bevor dies nicht endgültig und im Großen anders geworden ist — wie soll sich Freiheit selbstbewusst und selbstherrlich auswirken? Aber das Haupthemmnis des Fortschritts lag bisher auf geistigem Gebiet. Nur darüber, was wir verstanden haben, besitzen wir Macht; nur die Mächte, die wir begreifen, vermögen wir sicher zu nutzen, nur der objektive Begriff eines Zusammenhangs macht diesen objektiv dem Geiste dienstbar, weil der Wahrheit vorher der Übertragbarkeitscharakter fehlt (vgl. 265). Deshalb haben die großen Bahnbrecher der Geschichte bis heute nur kläglich geringe Wirkungen erzielt. Deshalb brachen alle kulturellen und persönlichen Hochblüten irgend einmal ab, ohne dass eine Fortsetzung erfolgte. Deshalb vor allem gab es bisher nur ein Tasten dem Fortschritt zu. Nein, wir stehen noch ganz am Anfang. Aber gerade wir heute Lebenden und Wirkenden haben das Glück, zugleich an dem kritischen Punkt zu stehen, von dem ab sich Freiheit erstmalig souverän wird manifestieren können.

Wir stehen wahrscheinlich an dem kritischen Punkt der bisherigen Menschheitsgeschichte, einem wichtigeren, als dem, welchen das Auftreten Christi bezeichnete. Nicht in dem Sinn, als ob ähnlich große Persönlichkeiten zu erwarten ständen, so viele solches erhoffen3, sondern dass die Periode wahrer Wirkung für die bisherigen Großen erst jetzt beginnen kann, vor allem aber, dass persönlich weniger Große aus dem gleichen Geist der Tiefe heraus leben können. Christus begründete seine Führerschaft darauf, dass er allein das Leben in ihm selbst habe. Jetzt, wo die Möglichkeit der Erfassung des Sinnes jenseits des Buchstabens — von einer zufällig-persönlichen, die sie bisher war — zu einer historischen geworden ist, jetzt kann bewusste Selbstbestimmung im großen anheben. So beginnt jetzt erst die eigentliche Menschheitsgeschichte. Die Grundaufgaben der Völker, und Menschengemeinschaft konnten praktisch unmöglich früher gelöst werden, als bis das Animalische so weit durchschaut und durchdrungen war, dass sich die innere Freiheit einigermaßen manifestieren konnte. Dieses Durchdringen hat jetzt begonnen.

1 Vgl. hierzu meine metaphysische Wirklichkeit l. c., das erste Kapitel der Unsterblichkeit und die Studie Sterndeutung in Philosophie als Kunst.
2 Vgl. Lévy-Bruhl Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures Paris 1910. Dessen grundlegende Ansichten über die von den unseren völlig abweichenden Kategorien, vermittelst derer der Primitive zur Natur geistig in Beziehung tritt, hat Jung in seinen Psychologischen Typen weiter verarbeitet.
3 Vgl. meine Betrachtung über die neue Messiaserwartung im 4. Heft des Wegs zur Vollendung.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Zweiter Zyklus:II. Politik und Weisheit
© 1998- Schule des Rades
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