Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Zweiter Zyklus:III. Weltüberlegenheit
Gesetzmäßigkeit der Natur
Ehe wir weitergehen, muss ich einiges wiederholend zusammenfassen, was ich schon früher gesagt habe, und einiges andere etwas breiter ausführen, damit nichts unklar bleibt. Die Welt des Sinnes hängt ebenso lückenlos zusammen, wie die des Erscheinenden. Aber während diese ein mechanisch-einheitliches System darstellt, ist jene ein Organismus (vgl. S. 29). Wie jede Zelle im Körper, jedes Organ seinen Seinsgrund in der Rolle hat, die es in diesem spielt, wie unser Leben einen Sinn haben muss, um Lebenswert zu erscheinen, so ist jeder erfasste Sinn seinerseits Sinnbild eines möglichen tieferen. Hier ist keine Grenze möglicher Tiefe abzusehen. Wie gelangt nun ein tieferer Sinn dazu, sich zu manifestieren? Allein durch Oberflächlicheres hindurch. Dieses muss durchorganisiert sein. Jede neue, tiefere Sinneserfassung setzt zu ihrer Möglichkeit die Durchbildung des ganzen Organismus vom erfassten Sinn bis zur Erscheinung voraus. Hierauf beruht der Fortschrittswert der Wissenschaft, hierauf die Notwendigkeit stufenweiser Bildung.
Jede allgemeinere exakte Begriffsfassung des Wirklichen schafft einen neuen Ausgangspunkt zur Beherrschung seiner; das Verständnis jedes Neuen setzt einen ganz bestimmten Organismus des schon Vorhandenen voraus. Wer immer nun seinen gesamten Geistes- und Seelenkörper vom jeweilig erfassten Sinn bis zur äußerlichsten Erscheinung durchorganisiert hat, so dass diese dem innersten Impuls ohne Widerstand gehorcht, ist auf seiner Stufe frei, denn sein Tiefstes gehorcht nicht, sondern befehlt. So kann man schon als buchstabenbestimmter Beamter, Mönch und Sklave frei sein, sofern die Gebundenheit geistiger Beschränkung entspricht: in diesem Falle wirkt sich das Wesen vermittels bejahter Schranken doch selbständig aus. Nur liegt hier das Bewusstseinszentrum ganz nahe der Oberfläche; deshalb bleibt der innerlich freieste Buchstabengläubige metaphysisch subaltern. Entsprechendes gilt von jedem Blindgläubigen überhaupt. Kein solcher, und beträfe sein Glaube die absolute Wahrheit, ist selbstbestimmt; wo eine Wahrheit nicht vom persönlichen Bewusstsein begriffen ist, ist ihr Vertreter nicht souverän — der Grad der Souveränität entscheidet aber über die persönliche Bedeutung des Menschen. Diese wächst nun genau proportional dem Sinnverstehen und dessen Verkörperung in der Lebensgesamtheit.
Je tiefere Kräfte das unmittelbare Ausdrucksmittel eines Menschen darstellen, desto mehr oberflächlichen ist dieser physiologisch überlegen, und die Tiefe der Kräfte ist der der Sinnesregion proportional. Wer sein Bewusstseinszentrum im tiefsten Sinn belegen hätte, wessen Organismus von der Oberfläche bis zu diesem durchorganisiert wäre, der wäre vollkommen frei. Denn den bände die Gesetzmäßigkeit der Natur überhaupt nicht mehr, dem diente sie vielmehr auf deren sämtlichen Ebenen, wie dem Dichter die Sprache, als vollbeherrschtes Ausdrucksmittel. Hier hätten wir den eigentlichen Erkenntnisgrund des vorhin Gesagten, dass ein solcher nichts an ihr mehr zu verneinen braucht. Die Gesetzmäßigkeit der Natur an sich ist ein Unüberwindliches; die Normen der Logik binden im gleichen Verstande absolut, wie Blutkreislauf und Skelett. Nur im Reich des Sinnes gibt es Freiheit, nur von ihm aus gelangen Impulse der Wandlung ins routinierte Naturgeschehen hinein, was sich auf dessen Ebene so ausdrückt, dass es sich bei allen physiologischen Prozessen, die mit der Freiheit zusammenhängen, um Explosionen handelt1, und allgemein um Entscheidungen2, deren Möglichkeit mit der verschiedener Lösungen eines gleichen Problems zusammenfällt, zwischen denen das Geistige wählt. Empirisch betrachtet gibt es also Freiheit nur im Augenblick der Indifferenz3, welcher Entscheidung gestattet; in unserer Ausdrucksweise: indem ein Sinn, noch schwebend, zum Ausdruck wird; sobald eine Entscheidung stattgefunden hat, herrscht unbedingte Gebundenheit (vgl. S. 92). Dennoch ist die Freiheit das Primäre gegenüber dieser, wie der Sinn gegenüber dem Ausdruck. Sie realisiert sich praktisch proportional dem Grad, in welchem sie bewusst wird. Dies geschieht so, dass die äußerlich unveränderte Bindung, indem das Bewusstsein sich in immer tieferem Sinn zentriert, immer mehr zum Ausdrucksmittel wird; gleichermaßen lenkt man den äußeren Naturprozess nicht, indem man dessen Gesetze durchbricht, sondern dieselben von überlegener Erkenntnis her beherrscht. Je tiefer nun der Sinn, in dem das Bewusstsein seinen schöpferischen Mittelpunkt hat, desto höher, noch einmal, die Überlegenheit über die Natur. Deshalb braucht höchste tatsächlich gar nichts an ihr zu verneinen — deren Gesamtheit ist ihr zum Ausdrucksmittel geworden. Auf diese Weise erklärt es sich, wie Gott, obschon die Welt des Bösen voll ist, doch als Schöpfer und Erhalter ihrer Gesamtheit vorgestellt wird.
Der Satz, dass nicht Armut sondern Reichtum um der Geistesverwirklichung willen zu postulieren ist, verlangt deshalb die folgende Ergänzung: Reichtum und Tiefe sind grundsätzlich proportional. Doch hier setzt eine Einschränkung ein, und diese erklärt, warum diese Gleichung bisher unerkannt blieb: sie gilt auf der Ebene des Sinnes, nicht der Tatsachen. Deshalb muss sie erst verwirklicht werden, um wirklich zu werden; deshalb ist es kein Wunder, dass die meisten Daten der bisherigen Geschichte gegen ihre Geltung sprechen. Aber sie kann eben jetzt, oder von jetzt ab verwirklicht werden, die geistige Möglichkeit steht fest; sie kann es eben jetzt, weil der geistige Organismus des Menschen heute allgemein, dank dem objektiv bestehenden Erkenntnisfortschritt, so weit durchorganisiert ist, dass er den erforderlichen tieferen Sinn zu verkörpern fähig ist. Deshalb handelt es sich bei dem königlichen Menschen, den wir konstruierten, dem Herrscher-Weisen, welcher der ganzen Welt überlegen wäre, obschon er noch niemals da war, um keine Phantasterei, sondern ein Vorbild möglicher Wirklichkeit.
1 | Vgl. die Ausführungen Bergsons in dessen Buch L’énérgie spirituelle, Paris, F. Alcan. |
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2 | Vgl. Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst. |
3 | Diese Wahrheit hat zuerst mein Großvater, Graf Alexander Keyserling, erkannt. Vgl. dessen posthumes Schriftchen Einige Worte über Raum und Zeit, Stuttgart 1894, Cotta. |