Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Dritter Zyklus:I. Was wir wollen

Vertiefung des Seelenlebens

Ich beginne mit einer Frage allgemeinster Art, deren richtige Beantwortung jedoch zugleich die der besonderen nach unserem spezifischen Wollen einschließt — die Frage, worauf der wahre, der wesentliche Fortschritt des Menschen­geschlechts, sofern er statthat, beruht? Die überwiegende Mehrzahl meint, er beruhe auf neuen Erkenntnisinhalten und deren Nutzanwendung. Sobald neue Tatsachen entdeckt oder in die Welt gesetzt, neue Begriffe gefunden, neue Programme aufgestellt und von außen her, durch geeignete Veranstaltung, der Verwirklichung zugeführt wurden, meint jene, wir seien wesentlich vorwärts gekommen. Bedenken wir jedoch, dass dieses größte Zeitalter der sachlichen Neuerung, das es je gab, in einem Zusammenbruch ohne Gleichen seinen Abschluss fand, wobei die äußerlich zweifelsohne sehr weit vorgeschrittene westliche Menschheit sich als barbarischer, oberflächlicher und innerlich leerer erwies, als vielleicht irgendeine zuvor, so finden wir alle Ursache, daran zu zweifeln, ob das äußere Weiterkommen mit dem inneren irgendwie zusammenhängt. Wer sachlich Neues bringt, braucht offenbar kein Erneuerer der Menschen zu sein.

Gedenken wir von hier aus aber der Männer, welche nachweislich einen wesentlichen Fortschritt eingeleitet haben, so finden wir, dass der vorhergehende Satz auch in seiner Umkehrung richtig ist: ein wahrer Erneuerer braucht nichts sachlich Neues zu bringen. Im Falle aller ganz Großen ohne Ausnahme warfen Mit- und nächste Nachwelt die Frage auf, was der Betreffende denn Neues bringe. Und jedesmal ohne Ausnahme lautete die häufigste Antwort negativ. Diese wurde von vielen Großen überdies ausdrücklich bestätigt. Sokrates versicherte wieder und wieder, dass er keine bestimmte Lehre zu überliefern habe; er wolle nur geistige Hebammendienste leisten. Jesus erklärte, dass er das Gesetz nicht aufhebe; auch er verwahrte sich dagegen, inhaltlich Neues zu bringen. Und wirklich war keine einzige seiner Lehren unerhört; zu seiner Zeit gab es in Syrien Sekten und Schulen die Fülle, die zum mindesten sehr Ähnliches wie er vertraten. Der große Reformator des Mittelalters, Franz von Assisi, war ein Armer im Geist; ihm lässt sich gar nichts Originelles nachweisen, er aber ging in seiner Originalitätsfeindschaft so weit, dass er sein Urteil nicht nur der Autorität der Kirche, sondern der jedes ordinierten Priesters unterordnete. Luther wollte nur das alte Christentum in seiner Reinheit wiederherstellen, er, der vulkanische Revolutionär. Konfuzius gar, der wahre Begründer der chinesischen Kultur, setzte seinen größten Stolz darein, nur Altes zusammenzufassen; er war Traditionalist im Extrem, beinahe krankhaft neuerungsfeindlich. Der Absicht nach lagen die Dinge bei vielen anderen Großen anders. Trotzdem tritt bei allen der Originalitätscharakter desto mehr in den Hintergrund, um je Größere es sich handelt.

Kein gelehrter Zeitgenosse Buddhas dürfte in dessen Predigten Unbekanntes gefunden haben. Plato galt vielen seiner Zeitgenossen als Plagiator, Goethe noch einem Lessing als zwar begabter, doch unorigineller Mensch. Nun lässt sich nicht bestreiten, dass die hier Aufgezählten tiefer gewirkt, Wesentlicheres bewirkt und größere Fortschritte eingeleitet haben, als beliebige Neuerer im inhaltlichen Sinn, ja als alle Originale der Geschichte zusammengenommen. Folglich muss das, was eine Beschleunigung der Entwicklung, eine Verwandlung oder Vertiefung des Seelenlebens auslöst, auf einem anderen beruhen, als der Neuheit der Erkenntnisinhalte. So ist es. Diese Erkenntnis ist grundlegend. Sie gilt es jetzt zu verstehen. Zu ihrem Verständnis aber führt am schnellsten eine genauere Betrachtung der Wahrheit, die ich in meinen Reden und Schriften, in dieser oder jener Form, auf diesen oder jenen Anlass hin, immer wieder vertreten habe: nämlich dass auf dem Gebiet des Lebens die Bedeutung den Tatbestand schafft, nicht umgekehrt. Deshalb kann hier keine inhaltliche Neuerung, welche sich notwendig auf Faktisches beziehen muss, letzte Instanz sein. Neues an sich braucht nicht das mindeste zu bedeuten. Umgekehrt kann Altes durch eine neue Auffassung seine neue Bedeutung erlangen.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Dritter Zyklus:I. Was wir wollen
© 1998- Schule des Rades
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