Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Dritter Zyklus:I. Was wir wollen
Seinsniveau
Niveau ist das auf den Tiefenwert hin qualifizierte Wort für Einstellung. In früheren Betrachtungen ist die ausschlaggebende Bedeutung des Niveaus schon oft behandelt worden (vgl. besonders S. 372 ff.). Heute, im Zusammenhang mit dem konkreteren Einstellungsbegriff, dürften die letzten Missverständnisse sich erledigen. Die Niveaufrage geht der nach sämtlichen abstrakt zu bestimmenden Werten unbedingt vor, weil solche das Dasein eines Sinneszusammenhanges, dessen Bezugszentren sie versinnbildlichen, immer schon voraussetzen, und deshalb niemals letzte Instanzen der Orientierung abgeben können. Gut, böse, wahr, falsch, echt, unecht usw. bedeuten jedesmal anderes, je nachdem, um welches Niveau es sich handelt.
Quod licet Iovi, non licet bovi.
Si duo faciunt idem, non est idem.
Diese uralten Erkenntnisse sind dahin zu erweitern, dass das Bedeutendere, weil Tiefere nur durch ein höheres Seinsniveau in die Welt gesetzt werden kann. Nur dieses schafft das feststehende Bezugszentrum, das den Begriffen und Worten den gemeinten Sinn erhält; wo dieser fehlt, straft das erste konkrete Missverstehen die abstrakte Größe der Worte Lügen.
Denken Sie von hieraus nun — meine Wiederholungen sind alle wohlbedacht: sie dienen dem lebendigen Verstehen, um das allein es mir hier zu tun sein kann — an die Lehren von Adler und Jung zurück. Jener zeigt, dass die Tatsachen des Lebens sich aus der geistigen Zielsetzung ableiten, nicht umgekehrt, dieser, dass die Ureinstellung den psychischen Tatbestand schafft: dieselben Lehren, tief erfasst, lassen uns ganz verstehen, weshalb Männer wie Buddha, Konfuzius, Christus, welche in äußerlichem Verstande keine Originale waren, als Erneuerer gewirkt haben — und zugleich auch, weshalb ihre Größe von Verstandesmenschen kaum je begriffen wird, bis das Prestige des Ruhms die Ebene der Diskussion verschiebt. Auf der diesen allein fasslichen Ebene der Tatsächlichkeit ist wirklich nichts Besonderes, wie man sagt, an ihren Lehren festzustellen. Zumal diejenige Buddhas klingt ausgesprochen trivial; von einem törichten Menschen, oder auch nur in abstracto dargestellt, macht die Lehre vom Leiden den Eindruck des vielleicht Unbedeutendsten, was je gelehrt wurde. Liest man Buddhas Predigt indessen im Original oder in der diesem gleichwertigen Verdeutschung Karl Eugen Neumanns1, so vergisst man vollständig, dass diese Sachlich Gleiches sagt: man fühlt sich unmittelbar von einer gigantischen Persönlichkeit berührt, die aus der letzten Wissenstiefe redet und die bestimmbare Lehre nur als beinahe beliebiges Ausdrucksmittel nutzt. In kleinerem Maßstab gilt dies in jedem Fall, wo ein Lebendiger spricht.
Vergleichen Sie das lebendige Wort eines solchen mit dem getreuesten Stenogramm, so werden Sie in der Mehrzahl der Fälle gerade das, was der Redner Ihnen gab, nicht wiederfinden. Die eigentliche Wirkung eines Menschen beruht unter allen Umständen auf der Magie der Persönlichkeit, und wirkt diese durch die der Schrift hindurch, so bedeutet dies eben, dass diese mehr sagt, als ihr nachweislicher Buchstabe enthält2. Im Höchstfall wirkt die Magie der Persönlichkeit vom Wortlaut unabhängig. Dies gilt von den Aussprüchen Christi, von welchen feststeht, dass er sie so, wie sie uns überliefert wurden, ganz sicher nicht getan hat, sintemalen er aramäisch sprach und deren griechische Fassung keine vollkommene ist. Seine Worte bewähren sich trotzdem als magische Kräfte kosmischen Ausmaßes. Dies liegt wohl daran, dass seine Tiefe eine so große und seine Transparenz eine so absolute war, dass auch das äußerlich Beliebige
jene zur bleibenden Lebensquelle hat. Doch es ist gut, dass wir gerade zu Christus zurückgelangt sind: worauf beruht der Fortschritt, den dieser einleitete? Dass er nicht auf inhaltlicher Neuheit beruht, sahen wir bereits. Er beruht darauf, dass durch Christi Beispiel eine neue Einstellung zu Gott, Mensch und Welt in die Geschichte eingriff, eine Einstellung, welche tiefer im Sinne wurzelt, als die des gesamten Heidentums, und einem innerhalb des mediterraneischen Kulturkreises bis dahin unerhörten Niveau entsprach. Es ist ganz richtig, dass das Wort in Christus Fleisch wurde: was vor ihm bestenfalls herausgestellte Erkenntnis war, ward in und mit ihm zur lebendigen Kraft.
1 | Die bei R. Piper in München erschienenen Reden Gotamo Buddhos gehören in jede Bibliothek der deutschen Klassiker hinein. Überdies, gleich der Bibel, selbstverständlich in die jedes religiös Interessierten. |
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2 | Wundervoll analysiert Bergson eine Seite dieses Tatbestandes in seiner Essay-Sammlung L’énérgie spirituelle (S. 48 ff.):
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