Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Dritter Zyklus:II. Der Weg
Erkenntnisbedingtes Leben
Aber diese Einheit, der Wesensgrund aller Verschiedenheit, offenbart sich immer nur in concreto, in jeweiligem lebendigem Verstehen, niemals in einfürallemaliger abstrakter Darstellung, genau so, wie es kein abstraktes einfürallemaliges Leben gibt. Daher die grundsätzliche Unmöglichkeit, für das, was die Schule der Weisheit anstrebt, ein allgemeinverständliches Programm aufzustellen. Die jeweilige Praxis ergibt sich notwendig aus den jeweiligen konkreten Situationen, und wer diese nun auf einen Generalnenner brächte und durch dessen Definition das Wesen zu fassen glaubte, der hätte nichts erfasst. Auch wer meine sämtlichen Schriften und Vorträge kennte und die allgemeinen Einsichten, welche sie enthalten, auf seinen besonderen Fall nicht anzuwenden wüßte, der hätte vom Standpunkt der Weisheit nichts hinzugelernt, denn diese bedeutet erkenntnisbedingtes Leben; nur um dessen Begründung ist es uns zu tun.
Die Schule der Weisheit will und kann keine besondere Lehre vermitteln, denn Weisheit ist keine Sonderdisziplin; ihre Aufgabe ist es, den Vertreter beliebigen Könnens — sei er Theolog, Philosoph, Industrieller, Krieger, Kaufmann — tiefer zu machen und so beliebige persönliche wie sachliche Sondergestaltung auf einen tieferen Sinneszusammenhang zurückzubeziehen. Der Theolog, welcher hier weilte, soll als solcher weiterkommen, nicht etwa fachmäßig weise
werden usf. Insofern hat die Schule der Weisheit keine andere und keine geringere Absicht als die, ein neues höheres Leben zu zeugen. Deshalb muss sie sich, ob sie mag oder nicht, an die allgemeinen Bedingungen organischer Fortpflanzung halten. Von allen echten Religionen wird das Zusammenwirken von Schrift und Tradition als notwendig anerkannt, weil die Art, wie ein Buchstabe verstanden werden soll, in diesem selbst niemals enthalten ist und auf das Verstehen alles ankommt. Was in der Folge der Generationen die Tradition bedeutet, bedeutet innerhalb jeder einzelnen die lebendige Atmosphäre eines gegebenen geistig-seelischen Mittelpunkts, als des Ergebnisses der summierten lebendigen Einflüsse, die in ihm wirken und von den einzelnen jeweilig in ihr erfahren werden. Also bedeutet, auch wo es sich um Vielheiten handelt, die Einzelsituation die eigentlich letzte Instanz. Aus diesen Erwägungen ergibt sich mit Notwendigkeit, dass die Schule der Weisheit ihrem Wesen nach nur den Weg gehen kann, den sie tatsächlich geht. Ihr Betrieb muss sich letztlich darin erschöpfen, den einzelnen auf seinem spezifischen Weg zu fördern, dies aber kann nur in Form strikter Individualbehandlung geschehen. Alles für viele Bestimmte, was sonst in ihr vor sich geht, bedeutet nur die Vorstufe oder den Weg zu diesem Wichtigsten.
Die Exerzitien bereiten zu jener dadurch vor, dass sie dem einzelnen zeigen, wie er es überhaupt anfangen soll, um auf sich selbst vom Ideal her schöpferisch einzuwirken und den allgemeinen Rhythmus des Wegs zur Vollendung in sich anklingen zu lassen. Auf den Tagungen wird durch den Zusammenklang aufeinander abgestimmter Vorträge eine tiefere Grundeinstellung einer Mehrheit wenigstens als Ahnung mitgeteilt. Aber kein Vortrag, es sei denn, es spreche ein dermaßen Begnadeter, dass er die Zuhörerschaft buchstäblich auf sein eigenes Niveau hinaufhebt, wirkt auf den einzelnen verwandelnd, weil der Redner, auf niemanden im besonderen eingestellt, seine eigene Sprache (im weitesten Sinne) redet, welche nur die so weit verstehen, dass sein Wort bis in ihr tiefstes Selbst hineindringt, welchen sein Wesen und sein Ausdruck zugleich kongenial sind. Überdies kann kein von der Distanz des Rednerpults aus Vortragender Mitarbeit erzwingen; wer da einschlafen will, schläft ein.
Der Schule der Weisheit ist es nun in erster Linie um diese Mitarbeit zu tun, denn da Verstehen ein schöpferischer Vorgang ist, da das Leben nur durch Sinngebung einen Sinn erhält, so ist gar nichts erreicht, bevor beim Schüler nicht eben dieser Schöpfungsprozess eingeleitet ward. Sowenig dies durch Vorträge gelingt, so sicher gelingt es, wenn im Zusammensein zu möglichst wenigen, am besten zu zweien, ein persönliches Kraftfeld geschaffen wird, dessen Rhythmus den Schüler ergreift, wenn innerhalb dieses auf dessen persönliche Sonderinteressen eingegangen und in seiner besonderen Geistessprache zu ihm gesprochen wird. So wird der Weg zur Vollendung individualisiert, dessen Gattungscharakter die Exerzitien dem Schüler realisieren ließen. Selbstverständlich gelingt es bei solchen allein, welche aufrichtig suchen, zu finden hoffen und sich entsprechend aufschließen; aber um solche allein kümmern wir uns. Genau genommen genügt es sogar noch nicht, dass der Schüler ein Suchender sei: er muss unbewusst insoweit schon gefunden haben, dass ihn aktive Sehnsucht treibt, und dass er innerlich bedingte Ziele bereits verfolgt. Denn wie schon Christus aus gleicher Einstellung heraus lehrte: nur wer da hat, dem wird gegeben. Auf ein tieferes Sinneszentrum ist nur eine schon vorhandene Bewegung zu beziehen, wie nur vorhandenes Leben als Leben zu vertiefen ist. Der Sinn
ist ja kein Inhaltliches, das sich von außen her mitteilen ließe, sondern das Lebensprinzip des jeweiligen Inhalts. Deshalb gelten der Schule der Weisheit nicht nur alle Inhalte als solche vorläufig gleich — es müssen unbedingt welche vorliegen, damit sie wirken kann. Wer selbst nichts will, dem haben wir nichts zu sagen. Wer da mit völlig leerer Seele käme, dem vermöchte kein Gott sie zu füllen.
Nun noch ein Wort über das Verhältnis der Schülerbehandlung an der Schule der Weisheit zur psychoanalytischen Methode; denn dass hier ein Zusammenhang besteht, geht aus allem Vorhergehenden hervor. — Dass wir anderes erstreben als die Auflöser
der Seele, liegt auf der Hand; die eigentlich psychoanalytische Technik kommt für uns überhaupt nicht in Betracht. Aber wie verhalten wir uns zu denen, welche die Seele wiederaufbauen, neue zusammenlegen? Äußerlich betrachtet, ist der Unterschied zwischen uns und ihnen oft gering, sowenig wir uns um das Empirische als solches kümmern. Aber wir verfolgen ein anderes Ziel. Uns ist es nicht um die Wiederherstellung des Normalzustandes zu tun, wo dieser verdarb, sondern die Begründung eines höheren Niveaus. Dieses Ziel allein verfolgen wir, und dieses so unbedingt, dass wir sogar zeitweilige Gleichgewichtsstörung als Übergangszustand nicht fürchten und das Problem des Glücks und der Zufriedenheit überhaupt nicht stellen. Deshalb gehen uns Kranke als solche gar nichts an. Deshalb befassen wir uns auch mit keinen bloß charakterologischen Aufgaben. Nur auf die Höherbildung des Menschen sind wir hier bedacht, durch Vermittlung einer tieferen Einstellung. Und unter dieser verstehen wir beileibe nichts Statisches, was unsere Ziele von denen jedweder Psychotherapie endgültig scheidet. Wenn es wahr ist, dass Gewohnheit Charakter schafft, so gibt es von unserem Standpunkt nur eine gute Gewohnheit: die unaufhaltsamen Fort- und Aufwärtsschreitens. Ein bestimmbares Endziel zu formulieren, lehnen wir ab, weil dieses in der Unendlichkeit liegt.