Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

Versuch einer kritischen Philosophie

Vorwort zur zweiten Auflage

Houston Stewart Chamberlain,
Ihm, dessen Freundschaft mir den Weg
zu innerer Selbständigkeit wies,
in Dankbarkeit und Verehrung gewidmet

Als ich das Gefüge der Welt, das ich mit dreiundzwanzig Jahren zu schreiben begonnen, mit fünfundzwanzig der Öffentlichkeit übergab, machten nicht wenige Gelehrte es mir zum Vorwurf, dass ich Gedankenzusammenhänge druckte, deren Fassung ich selbst unmöglich als endgültig ansehen konnte. Die gleichen werden es mir heute wohl verübeln, dass ich mein (seit Jahren vergriffenes) Jugendwerk neu herausgebe, ohne es vorher einer meiner heutigen Erkenntnisstufe entsprechenden Umarbeitung zu unterziehen. Mein Vorgehen von heute und von dazumal ist, in der Tat, eines Sinns. Damals war ich durchaus nicht überzeugt, dass meine kühne Weltskizze die Wahrheit zum Ausdruck brachte; heute weiß ich genau, wie vieles an ihr falsch ist, oder überholt. Dennoch halte ich das Gefüge für würdig, die Periode, in der es meinem und anderer Wissensstand entsprach, in seiner ursprünglichen Gestalt zu überdauern. Dies aber tue ich aus folgender allgemeiner Erwägung heraus: nur insofern ein Werk gleichsam jenseits von richtig und falsch seinen ideellen Ort hat, besitzt es geistigen Wert. Weshalb Richtigstellung im einzelnen, sofern diese die geistige Urform zu sprengen drohte, vom Übel ist.

Denn diese Urform ist das eigentlich Bedeutsame an jeder Geistesgestalt. Sie wird geboren mit dem Geiste selbst, ist wesentlich unabhängig von aller Außenwelt, nutzt diese nur aus als den gegebenen Stoff, aus dem sie ihren Körper in fortschreitendem Stoffwechsel aufbaut, in stetem Wachstum seiner Vollendung zuführt. Ist die Urform wertvoll, oder an sich lebendig, dann ist es geistig belanglos, welchen Entwicklungsgrad die äußere Gestalt zum Ausdruck bringt, ob diese einer Skizze oder einem bis ins einzelne ausgeführten Gemälde vergleichbar sei: als solche wirkt sie fort. Sie geht bald neue Verkörperungen ein, ob in reiferen Werken eines gleichen Autors, ob durch das Medium später Leser hindurch, und das Spätere raubt doch dem Früheren nie seinen Wert, weil das geistig Bedeutsame schon in diesem vollständig vorlag. Mehr noch: es tritt im Frühesten oft am reinsten in die Erscheinung, weil dort das Stoffliche am wenigsten die Aufmerksamkeit bannt. So hat man Plato desto mehr bewundert, je näher der Platonismus seiner möglichen Vollendung kam, so haben Zeitalter der Reife typischerweise einen ausgesprochenen Sinn für primitive Kunst. Umgekehrt aber setzt das Primitive zu seinem vollen Verständnis die Vollendung gewissermaßen voraus. Wie das Streben der Jugend im allgemeinen nur aus dem Vollbringen des Alters heraus beurteilt sinnvoll wirkt, so sind auch Jugendwerke nur aus der Kenntnis des Reifsten heraus vollkommen verständlich, für deren Verfasser selbst genau so wie für den fremden Leser. Hieraus ergibt sich nun das Folgende, was nichts — als — Gelehrten ewig unfassbar bleiben wird: jedes höhere Reifestadium lässt das Unreife daseinsberechtigter erscheinen. Ja, aus der Kenntnis des Reifen heraus werden in diesem oft Tiefen und Schönheiten offenbar, welche jenes an sich nicht enthält, und die durch Nachbesserung verlorengehen würden. Hierher rührt im letzten jene übliche Überschätzung des ersten Buchs, die so viele Autoren unangenehm empfinden.

Mir ist diese, in meinem Fall, schon oft begegnet. So wenig ich persönlich dem zustimmen mag, denn mein Blick ist naturgemäß vorwärts gewandt: das Gefüge der Welt gilt vielen als mein bedeutendstes Werk. Diesen muss ich es unverstümmelt überliefern. Je weniger ich selbst ein Verhältnis zum längst Überschrittenen gewinnen kann, desto weniger erscheine ich befugt, daran zu ändern. Und diese Befugnis fehlt mir mehr als den meisten derer, die sich in gleicher Lage befinden: schnellebig bis zum Extrem, ohne jeden antiquarischen Sinn, ausschließlich zukunftsfroh, in vielen Hinsichten schon heute mein eigener später Enkel, stehe ich dem, was ich einstmals war oder tat, als ein Fremder gegenüber. Das meiste dessen, was ich am wissenschaftlichen Inhalt des Gefüges noch heute positiv bewerte, hat in den Prolegomena einen vollkommeneren Ausdruck gefunden; in der Neufassung, die ich vorbereite, welche jene zu einem völlig Neuen macht, insofern als die hinzugefügten zwei Kapitel in Tiefen hinabführen, die ich vor zehn Jahren kaum ahnte, und die selbst dem unveränderten Früheren einen neuen Sinn erteilen, verkörpert letzteres Werk vielleicht mein letztes kritisch-philosophisches Wort. Dem metaphysischen Problem ist, meinem persönlichen Urteil nach, erst das Reisetagebuch gewachsen, über das ethische, dessen Behandlung Gefüge und Unsterblichkeit begannen, bin ich bis heute zu keiner wahren inneren Entscheidung gelangt. Ich werde mich fortverändern, solange ich lebe, den Liebhabern jedes bestimmten Werkes immer wieder als Renegat erscheinen. Eben deshalb aber empfinde ich rückhaltlose Ehrfurcht vor jedem begrabenen Zustand: meine eigene Vergangenheit sehe ich nicht anders an, als ob sie um Geschichtsperioden zurückläge. Ich darf nichts an ihr ändern, soweit der Sinn ihres Ausdrucks irgendwie wesentlich durch einen Zustand bedingt erscheint. Und da ich eben doch zu aller Zeit von einer identischen geistigen Urform ausgegangen bin, so fühle ich mich zur Hoffnung berechtigt, dass mein besonderes Lebenstempo, das mich für mein Gefühl in weniger als vier Jahrzehnten schon durch Jahrhunderte hindurch gehetzt hat, meinem Lebenswerk besonders entwicklungs­beschleunigende Kraft verleihen wird: an der schnellen Veränderung der Gestaltung werden viele leichter erkennen, als sonst gelänge, was geistig wesentlich ist und was nicht. Jedem Freunde des Reisetagebuches wünsche ich daher den Entschluss, auch meine sämtlichen früheren Schriften zu studieren. Ob diese ihn im einzelnen befriedigen werden oder nicht — durch sie erst wird er ganz verstehen, was jenes vollendet und will, und dabei vermutlich geistige Ansätze entdecken, die ich persönlich nicht allein nicht fortgeführt, sondern vielfach nicht einmal bemerkt hatte. Dieser mein Wunsch bezieht sich besonders auf das Gefüge der Welt. Letzteres Werk ist ganz Skizze. Und aus der Skizze erhellt bekanntlich oft am deutlichsten, was ein Künstler eigentlich erstrebt hat.

Zum Schluss will ich noch aussprechen, worin in meinen — vielleicht unmaßgeblichen — Augen der Hauptcharakter meines Erstlingswerks besteht. Es ist ganz Kunstwerk, nur so zu verstehen, als solches aber vielleicht wirklich meine bisher stärkste Leistung. Von jeher bin ich wesentlich Musiker gewesen. Wenn ich Gedankenfolgen nachsann, geschah es am liebsten improvisierend am Klavier, oder indem ich Beethovensche, oder Bachsche Partituren als Canevas benutzte. Auch das Reisetagebuch ist rein musikalisch komponiert d. h. die verschiedenen geistigen Tonarten und Tempi haben sich mir aus musikalischem Instinkt heraus ergeben. Um zu verstehen, was ich hier meine, vergleiche man zumal den Schlussabschnitt aus dem Kapitel Himalaya mit dem, was ihm vorangeht. Aber so rückhalts-, ja rücksichtslos komponiert wie im Gefüge habe ich nie später. Hier waltete der Künstlersinn suprem, unbeirrt durch stoffliche Erwägungen; hier habe ich Philosophie ganz rein als Kunst betrieben. Der Richtigkeit im einzelnen hat dies wohl Abbruch getan; desto klarer meiner geistigen Urform zum Ausdruck verholfen. Deshalb wird vielleicht der erst meiner späteren Werke Wahrheit ganz verstehen, welcher die Irrtümer des ersten aus deren Ursprung heraus begriffen hat.

Friedrichsruh, im April 1920 Hermann Keyserling
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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