Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

III. Harmonices Mundi

Verhältnis des Subjektiven zum Objektiven

Obwohl nichts durch Zahlen geschieht,
so geschieht doch alles in Zahlen.

Goethe

In den vorhergehenden Kapiteln sind wir häufig auf das Verhältnis des Subjektiven zum Objektiven zu sprechen gekommen; die Farben, die Töne nannten wir subjektiv, im Gegensatze zu den objektiven Relationen der Äther- und Luftwellen. Dasselbe Verhältnis fanden wir dann bei der Logik auf der einen, der Mathematik auf der anderen Seite wieder, und unser besonderer Standpunkt gewährte uns die Möglichkeit, gerade in der Verschiedenheit den einheitlichen Zusammenhang zu erkennen. Jetzt gilt es, das damals nur flüchtig Angedeutete näher in Augenschein zu nehmen, die allgemeine Erkenntnis am Besonderen zu erproben und zu festigen.

Zunächst müssen wir die Begriffe objektiv und subjektiv noch etwas genauer bestimmen: denn der unkritische Leser könnte, durch den gewöhnlichen Sprachgebrauch dazu verleitet, sonst meinen, die genannte Antithese sei mit derjenigen von Realität und Schein identisch; oder aber, sie drücke den Gegensatz von Wesen und Erscheinung aus. Beide Auffassungen wären natürlich falsch: denn nichts berechtigt uns dazu, die Sinnesempfindungen, welche allein uns unmittelbar gegeben sind, als Schein zu kennzeichnen; sie sind durchaus real im empirischen Sinne, wenngleich die Erkenntniskritik sie als Erscheinungen ansprechen muss. Und andrerseits wäre es Wahnwitz, in den mathematischen Relationen, welche wir als die objektive Seite bezeichnen, das Wesen erblicken zu wollen. Vom Wesen wissen wir nichts und können wir nichts wissen; das Objektive wäre in dieser Hinsicht sogar viel subjektiver als das Erscheinende, da wir es selber konstruieren, den Erscheinungen selbstherrlich zugrunde legen, nicht als Gegebenes empfangen. Die Antithese subjektiv-objektiv soll nur folgendes ausdrücken: das Verhältnis der Erscheinung zum Gesetz, das sie hervorruft, gleichviel, was für eine metaphysische Entität dem Gesetzlichen zugrunde liegen mag. Das Objektive bedeutet die intelligible Seite, die Verstandesansicht desselben Zusammenhangs, welcher der Sinnlichkeit oder der Anschauung als Erscheinendes, mithin Subjektives, entgegentritt. Oder aber — um einen Ausdruck Schopenhauers anzuwenden — es bezeichnet den objektiven Charakter der Dinge; keinesfalls ihr Wesen. Dieses sei hier ein für allemal gesagt. Wir glauben an keine für sich bestehende mathematische Welt, an keine gleichsam substantiellen Ideen; die Ideen und Relationen sind Denkmethoden im Kantischen Sinne. Und wenn das Wort objektiv für uns dennoch eine tiefere und weitertragende Bedeutung besitzt, als dies z. B. bei Kant der Fall ist, so gilt das nur in dem Verstande, dass der Geist, der das Objektive, das Mathematische schafft, seinerseits durch dieselben mathematischen Gesetze beherrscht wird; mehr zu behaupten, sind wir nicht in der Lage.

Nun sind die Begriffe subjektiv und objektiv nur bei erkenntniskritischer Fragestellung zweckentsprechend. Hier allein handelt es sich um die Scheidung von Ich und Außenwelt, Wahrnehmendem und Wahrgenommenem. Betrachten wir denselben Zusammenhang vom Standpunkte der Empirie, so macht die Antithese der Erkenntnistheorie einer anderen Platz, in der das früher Gegenübergestellte verschmilzt und die Einheit der Erfahrung von Subjekt und Objekt ihrerseits eine Zweiteilung erfährt, welche von der his hierher betrachteten durchaus verschieden ist. Stellen wir Physik und Physiologie einander gegenüber und abstrahieren wir von der erkenntniskritischen Ansicht ihres Verhältnisses, so gewahren wir sofort, dass den qualitativen Unterschieden bei dieser quantitative in jener entsprechen. Rot und blau, verschiedenwertige Qualitäten, unterscheiden sich vom Standpunkte des Physikers nicht spezifisch, sondern nur graduell, also quantitativ. Dasselbe gilt von den Tönen; und wenn eine stetige Temperaturerhöhung, die zu Beginn physiologisches Wohlbefinden auslöste, zuletzt Schmerz verursacht, oder wenn uns konzentrierte Lösungen einer Substanz verbrennen, deren geeignete Verdünnung die Zunge erfreut, so ist es im letzten Grunde wiederum das gleiche Phänomen. Überall, wo der Physiolog oder der unbefangene Beobachter Qualitäten unterscheidet, bei allen Sinnesempfindungen, hat es der Physiker mit quantitativen Unterschieden zu tun, oder aber, wo die analytische Fassung versagt, mit rein formalen Qualitäten1, wie sie die Geometrie kennt. Und was von den einzelnen Qualitäten gilt, das besteht auch bei ihrem Zusammenhang zu Recht, dessen Erforschung die Aufgabe der Chemie bildet. Schweflige Säure und Schwefelsäure unterscheiden sich durch das Mengenverhältnis ihrer Bestandteile — ich greife ein Beispiel aus hunderten heraus. Und tritt einem der Fall entgegen, dass zwei qualitativ durchaus verschiedene Substanzen nicht nur in bezug auf die Elemente an sich, sondern auch deren Proportionen übereinstimmen — ein Fall, der bei organischen Verbindungen vorkommt — so lässt sich auch dieser analytisch nicht formulierbare Unterschied formal zum Ausdruck bringen. Die Stereochemie lehrt uns, dass dieselben Elemente einer verschiedenen Anordnung fähig sind. Auch hier also schwinden die materialen Unterschiede bei objektiver Betrachtung und machen formalen Platz. Aber das ist noch nicht alles; auch die chemischen Elemente selbst, von denen jedes gleichsam ein Qualitätenatom darstellt, welches jeder weiteren Vereinheitlichung unbesiegbaren Widerstand zu leisten scheint, auch sie erweisen sich der formalen Betrachtung zugänglich. Schon 1869 erkannte Mendelejew, dass die Eigenschaften der Elemente sich in periodischer Abhängigkeit von ihren Atomgewichten befänden, und heute, wo die chemische Affinität als besonderer Ausdruck der elektrischen Attraktion nachgewiesen ist, wo man weiß, dass die Konfiguration des Spektrums — ein optisches, also elektrisches Phänomen — die chemischen Qualitätsdifferenzen widerspiegelt, heute scheint es wahrscheinlicher denn je, dass der Tag nicht mehr fern ist, wo man die Unterschiede auch der Elemente rein formal wird begreifen können. Die bedeutendsten und vielversprechendsten Ansätze hierzu hat, soweit mir bekannt, J. J. Thomson2 gemacht: nicht nur, dass es ihm geglückt ist, durch Berechnung der Anordnungsmöglichkeiten seiner corpuscles3 ein mechanisches Äquivalent für die potentielle Energie der betrachteten Systeme zu entdecken: er hat gefunden, dass diese Anordnungsmöglichkeiten im Wesentlichen den Forderungen des Periodengesetzes und den Tatsachen der Spektralanalyse entsprechen4, soweit sogar, dass auch die eigentümlichen, plötzlich auftretenden großen Unterschiede benachbarter Elemente, wie z. B. zwischen Fluor und Natrium, Chlor und Kali, Brom und Rubidium, in seinen mathematischen Konstruktionen ihre Erläuterung finden5. Und da auch die Valenzen der Elemente berücksichtigt werden und die Unkombinierbarkeit gewisser unter ihnen, wie Argon und Helium, eine höchst einfache und plausible Erklärung erfährt6, so dürfen wir hoffen, dass die Qualitäten der Elemente bald einer erschöpfenden formalen Beschreibung zugänglich sein werden. Soviel aber können wir schon heute sagen: die Qualitäten der Chemie existieren genau und nur in demselben Verstande, wie Farben, Töne und die übrigen Daten unserer Sinne.

Ich verweilte absichtlich länger bei der Chemie, weil sie die eigentliche Wissenschaft von den Qualitäten ist, weil bei ihr, im Gegensatz zur Farben- oder Tonlehre, die Qualitäten objektive Existenz zu beanspruchen scheinen. Farben wird seit Goethe, der sie so schön als die Taten des Lichtes bezeichnete, niemand mehr rein-physikalisch, unabhängig vom menschlichen Auge, begreifen wollen; die Unterschiede der chemischen Elemente, welche wir durch das Zusammenwirken aller Sinne erfassen, deren Existenz durch sorgfältiges Experimentieren sicher nachgewiesen ist und vor allen Täuschungen und subjektiven Vorspiegelungen geschützt erscheint — diese gleichfalls als subjektiv zu betrachten, das dünkt schon weniger einleuchtend. Hier gilt es völlige Klarheit zu gewinnen.

Von allen Tatsachen und Vorgängen der Außenwelt sind uns unmittelbar nur die Empfindungen gegeben, die sie in uns hervorrufen7. Was wir einen Körper nennen, ist durchaus keine Tatsache der Erfahrung: wir empfangen nur den Zusammenhang der verschiedenartigsten Sinneseindrücke, wie Farbe, Gewicht, Härte usw. — ebenso wie das Auge, für sich genommen, die Natur nur als Kaleidoskop von Farbenflecken, ohne Linien und Umrisse, wahrnimmt, so wie die Impressionisten sie darstellen, keineswegs aber als wohlmodelliertes, plastisch umrissenes Ganzes; und bilden wir uns dann einen abstrakten Begriff von einem Körper, von den Gesetzen, nach welchen er zustande kommt, so ist das unser Werk, ein Akt der Spontaneität, der von der Rezeptivität, dem Zusammenhange der Empfindungen, spezifisch verschieden ist. Die Empfindung ist also das letzthin Gegebene. Nun betreffen aber alle Empfindungen Qualitäten und nichts als Qualitäten; wir empfangen sie, setzen sie nicht. Sie sind das Bild, welches unsere Sinne, je nach ihrem spezifischen Charakter, von den Naturvorgängen empfangen, nicht mehr und nicht weniger. Und da wiegt es gleich viel, ob alle Sinne im Spiele sind oder nur einer; Farbenlehre und Chemie, soweit sie beschreibend ist, geben menschliche Bilder der Natur. Infolgedessen kommen sie für die objektive Betrachtung gar nicht in Frage; sie sind schlechterdings subjektiv, im oben präzisierten Sinne. Wir können diese Erkenntnis auch folgendermaßen formulieren: die Qualitäten sind Spiegelungsphänomene des Lebens; unabhängig von diesem sind sie ebensowenig denkbar, wie Farben ohne ein Auge auf der Welt. Was objektiv existiert, sind nur die Gesetze, welche die Empfindungen bedingen.

Somit brauchen wir uns bei unserer Problemstellung um die qualitativen Unterschiede an sich nicht zu kümmern — sie verwehen und zerschmelzen vor der formalen Betrachtung. Zu Beginn unseres Gedankenganges sprachen wir von Stoff und Kraft als bloßen Denkkategorien der Natur und kümmerten uns nicht um ihren Ausdruck innerhalb der Erscheinung; jetzt sind wir aus dem Allgemeinen ins Besondere hinabgestiegen, und wir sehen, dass wir auch hier nicht stille zu stehen brauchen. Wir erkennen, dass auch im Bereiche der Erfahrung ein Aussichtspunkt liegt, der die Qualitäten unter sich lässt, ihren formalen Zusammenhang zu überschauen gestattet. Noch haben wir ihn nicht erreicht; wird es uns je gelingen? Der Weg führt mitten durch die Qualitäten hindurch, über welche wir hinauswollen, mitten durch ihr buntestes Getriebe. Und da hält es schwer, sich zurechtzufinden! Die Kontinuität des Geschehens, welche wir im zweiten Kapitel begriffen zu haben glaubten, sie stellt sich den Sinnen stets als ein Diskontinuum dar, so z. B. wenn Bewegung zu Wärme wird, Wasser zu Dampf. Und dieses Diskontinuum kommt in der formalen Darstellung doch insofern zum Ausdruck, als eine Richtungsänderung der Kraft vorliegt oder ein Faktor der Gleichung unendlich wird8 oder ins Unendliche geht.

Allenthalben liegen Grenzen vor, an denen das Geschehen sich bricht oder wandelt, die unverrückbar festzustehen scheinen, die keine Macht zu vernichten vermag. Jedes System in der Natur — sei es ein Atom, ein Sonnensystem, eine Substanz, eine Geschwindigkeit, ein Organismus — hat seinen kritischen Punkt, über welchen hinaus es nicht bestehen kann; überall ist das Phänomen an Schranken gebunden. Die neuesten Errungenschaften der Physik lassen die wesentliche Bedeutung der kritischen Punkte immer schlagender hervortreten. Poincaré prophezeit gar eine völlig neue Mechanik:

De tous ces résultats, schreibt er, s’ils se confirmaient, sortirait une mécanique entièrement nouvelle qui serait surtout caractérisée par ce fait qu’aucune vitesse ne pourrait dépasser celle de la lumière (— car les corps opposeraient une inertie croissante aux causes qui tendraient à accélérer leur mouvement; et cette inertie deviendrait infinie quand an approcherait de la vitesse de la lumière) pas plus qu’aucune température ne’ peut tomber au-dessous du Zéro absolu9.

Ein Atom kann in der Tat jede Geschwindigkeit annehmen; aber erreicht sie diejenige des Lichtes, so bricht es, wie Rutherford gezeigt hat, auf; Wasser wird zu Dampf, wenn die stetige Temperaturerhöhung 100° erreicht, das Leben dauert nur unter bestimmten Bedingungen, an einer festbestimmten Grenze hört es auf. Schon 1797 schrieb Schelling10:

Die Materie muss teilbar sein und unteilbar zugleich, d. h. teilbar und unteilbar in verschiedenem Sinne. Ja sie muss in einem Sinne unteilbar sein, nur insofern sie im anderen teilbar ist. Sie muss teilbar sein, wie jede andere Materie, ins Unendliche; unteilbar, als diese bestimmte Materie, gleichfalls ins Unendliche, d. h. so, dass durch unendliche Teilung kein Teil in ihr angetroffen werde, der nicht noch das Ganze vorstellte, auf das Ganze zurückwiese.

Und Schelling hat recht — wie unbeholfen er sich auch ausdrückt. Das Stetige ist in gewisser Hinsicht zugleich diskret; das Unendliche weist zugleich Grenzen auf. Hier harrt unser ein schwieriges Problem; seine Lösung ruht noch in ferner Zukunft, aber vielleicht gelingt es uns, wenigstens einen Teil des Weges zu durchmessen.

1 Die Richtung, die Form, die Anordnung, die Stetigkeit kurz alle die synthetischen Konzepte, mit denen die Geometrie wesentlich operiert, betreffen Qualitäten. + 1 und  — 1 unterscheiden sich qualitativ, ebenso rechts und links, Prädikate, die in der Chemie der organischen Verbindungen eine große Rolle spielen. Aber diese Qualitäten sind doch rein formaler Art und ebenso objektiv in bezug auf die Sinnesempfindungen, wie die zahlenmäßig darstellbaren Verhältnisse. Letztere bedeuten — allgemein gesprochen — das Objektive der Statik, erstere das Objektive der Dynamik.
2 Vgl. seinen Aufsatz On the structure of the atom in Phil. Mag. March 1904 und das oben genannte Buch Electricity and Matter .
3 Electricity and Matter p. 111.
4 Electricity and Matter p. 117, 118.
5 l. c. 122.
6 Phil. Mag. l. c. 131 ff.
7 Das wusste schon Leonardo da Vinci; er sagt: jede unserer Erkenntnisse hat ihren Ursprung in der Empfindung. Somit ist diese Wahrheit keineswegs so jung, wie die Energetiker meinen, welche heute so viel Wesens von ihr machen. Die Energetiker sind die Impressionisten der Physik; sie haben geradeso recht, wie die moderne Malerschule, nur irren sie, wenn sie glauben, der Impressionismus sei die einzig mögliche Betrachtungsart der Natur.
8 Das ist der Fall bei allen Unterbrechungen der Kontinuität in stetigen Reihen.
En général, sagt Cournot (l. c. 320) les solutions de continuité d’ordre quelconque, subies par une fonction algébrique, résultent toujours du passage de l’une de ses fonctions dérivées et des dérivées subséquentes par des valeurs infinies et jamais de ce que les fonctions dérivées, à partir d’un certain ordre, passent brusquement d’une valeur finie à une autre, ou s’interrompent brusquement dans leur cours.

Und es ist bemerkenswert, dass die Qualitätsänderungen in der Natur, in die Gleichung gebracht, fast immer solchen Durchgängen durch das Unendliche entsprechen. Darüber ließe sich allerlei spekulieren — aber leider nichts Gegenständliches sagen. Sollten die kritischen Punkte in der Natur den Punkten O und in der Geometrie entsprechen? Sollte das Leben gar der kritische Punkt zwischen Kraft und Stoff sein?

9 La valeur de la science, Paris 1905 p. 197.
10 Ideen zu einer Philosophie der Natur, p. 219.
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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