Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

IV. Das Problem des Geistes

Transzendenz des Ich

Wir haben erreicht, was wir vernünftigerweise erhoffen konnten. Unser Ziel war, den Zusammenhang von Natur und Denken zu entwirren; wir setzten voraus, dass auch das Geistige der Idee des Universums unterliegt. Schrittweise und mühsam drangen wir vor, mehr tastend, als bestimmend, mehr erratend, denn eigentlich erkennend — denn ungeheuer waren die Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt. Auch jetzt dürfen wir uns unserer Ergebnisse nicht rühmen: denn das Psychische an sich bleibt uns ein Rätsel nach wie vor, vom Wesen ahnen wir nichts, und die grundlegende Unterscheidung zwischen den Erscheinungen und den Gesetzen, nach welchen sie zustande kommen, ist ihrer Möglichkeit nach schließlich selber ein Problem — wenngleich die tiefsten Geister aller Zeiten sich zu ihm ähnlich gestellt haben, wie wir. Das Subjekt als Gesetz zu begreifen, das fällt dem denkenden Verstande zwar leicht; doch schwankt diese Erkenntnis wiederum, sobald wir uns dem inneren Erleben, dem Gefühl, dem konkreten Bewusstsein zuwenden: dessen farbiger Reichtum ist doch ein wesentlich anderes, als die farblose Idee — ja, es scheint, als hätten wir das eigentliche Leben vergewaltigt. Es ist auch nicht anders; es kann gar nicht anders sein: denn das Denken steht zum Leben exzentrisch; nur aus dem Spiegel des Erkannten vermag es dessen Strahlen rückläufig bis zu ihrem Herde zu verfolgen, nur auf Umwegen das Ich zu erreichen, und nur als Abstraktum kann es das Konkrete — von der einzelnen Sinnesempfindung bis zur Synthese des Lebens — begreifen. So wird ihm die Farbe zur Zahl, die Musik zur Rhythmik, die herrliche Natur zum blassen Begriffe eines Universums — zuletzt die lebendige Persönlichkeit zum mathematischen Gesetz. Diesem Verhängnis wird der Mensch nie entrinnen, sobald er die Natur, deren unmittelbaren Eindruck er empfängt und erlebt, in Gedanken nachzubilden trachtet. Aber gerade darum kann jenes ewige Paradox — dass das Konkrete im Geiste ein Abstraktes wird — keinen Einwand gegen unsere Bestrebungen bedeuten; wer uns in dieser Hinsicht bekämpft, der streitet wider das Denken überhaupt. Und wer die Idee als solche nicht zu fassen vermag, der gedenke der Goetheschen Mahnung:

Die Idee ist in der Erfahrung nicht darzustellen, kaum nachzuweisen; wer sie nicht besitzt, wird sie in der Erscheinung nirgends gewahr.

Hier ist eben allgemeingültige Erkenntnis — in des Wortes sozialer Bedeutung — unmöglich: denn durch bloße Logik gelangt man zu keinem Verständnis kritischer Fragen, die schärfste Analytik versagt tieferen synthetischen Zusammenhängen gegenüber, und um Ideen zu fassen — dazu bedarf es einer besonderen, produktiven Befähigung, die zwar den philosophischen Geist wesentlich kennzeichnet, sonst aber dem Scharfsinnigsten, unbeschadet seiner Bedeutung, abgehen kann. Darum gebe ich mich keinen Augenblick der Hoffnung hin, durch meine jetzigen, nur allzu kurzen Auseinandersetzungen allseitigleuchtendes Licht auf das Verhältnis von Körper und Geist geworfen zu haben. Dennoch dünkt mich, dass folgendes fortan feststeht — zwar nicht als abschließendes Wissen, wohl aber als sichere Direktive zu künftigem Sinnen: das Ich, wie schon Kant lehrte, eine Idee, ist Idee im selben Verstande, wie alle Naturgesetze, die wir den Erscheinungen zugrunde legen.1 Die transzendent des Ich ist keine andere, als die aller Gesetze in bezug auf die Erscheinungen, welche sie bedingen. Und da die Idee des Ich als notwendiges Korrelat diejenige der Natur postuliert; da die Einheit des Universums ganz im gleichen Sinne eine ideale ist, wie die Einheit des Ich; und da endlich der gesamte formale Zusammenhang, mit dem wir uns von Anfang an bis hierher befassten, nur in der Idee existiert — in anderer Form gar nicht nachzuweisen ist: so umfasst denn ein Rahmen den Menschen mitsamt der Natur. Sein Ich gehört selber zum idealformalen Zusammenhang, den es außer sich schaffen muss, um die Welt zu verstehen.

1 Wer sich an den Ergebnissen dieses Kapitels stößt, der nehme unmittelbar nach Beendigung des Gefüges meine Prolegomena zur Hand: durch Vergleichung der richtigen Einsicht mit dem Irrtum, aus dem jene hervorgewachsen ist, dürfte er in seiner Erkenntnis mehr gefördert werden, als wenn er sich mit jener allein befasste — besonders, wenn er nachher noch im Register des Reisetagebuchs die Stellen, woselbst vom Irrtum als Wahrheitsausdruck die Rede ist, nachschlägt. (Nachtrag zur 2. Auflage).
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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