Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

Epilog:Was ist Wahrheit?

Glaube an die Wahrheit

Wille zur Wahrheit heißt ihr’s, ihr Weisesten,
was euch treibt und brünstig macht?
Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heiße
ich euren Willen!
                Nietzsche

Es ist wohl Nietzsches größtes Verdienst um die Erkenntnis, dass er als erster mit Leidenschaft für eine Überzeugung eintrat, die zwar die meisten Großen — von Epikur bis Goethe — in wechselnder Bewusstheit gehegt, die aber vor ihm Niemand rücksichtslos auszusprechen gewagt hatte — sei es aus Philanthropie, Politik oder Inkonsequenz: dass nämlich das Leben nicht einen Zweck habe, sondern der Zweck sei, dass alle scheinbar so absoluten Ziele des Lebens ebensowohl dessen Bedingungen sind. Das Leben ist sein eigener, einziger Zweck — das ewige, große, überindividuelle und überbewusste Leben. Goethe, der herrliche Lebenskünstler, fühlte und lebte diese Erkenntnis still für sich, auf olympischer Höhe; Kant bahnte sie methodisch an, indem er in seiner Kritik der Urteilskraft den Sinn des Zweckbegriffs überhaupt bestimmte und dartat, dass sein Gültigkeitsbereich notwendig auf das Lebendige beschränkt bleiben müsste; die Biologie lernte, je tiefer sie eindrang, desto deutlicher einsehen, dass die vitalen Vorgänge aus bloßer Kausalität, ohne immanente Finalität schlechterdings nicht zu begreifen wären1 — bis zuletzt Houston Stewart Chamberlain den Tatbestand dahin formulierte, dass Leben und Zielstrebigkeit im letzten Grunde Wechselbegriffe sind, und dass man infolgedessen gar nicht sagen könne, jenes strebe nach Zweckmäßigkeit oder suche sich den äußeren Bedingungen anzupassen: nein, die Lebensäußerungen sind, ihrem Wesen nach, zweckmäßig, und das scheinbare Ziel ist vielmehr der Weg, der Tatbestand selbst. Nietzsche aber wagte es, auch das Geistige ins Gebiet der allgemeinen Lebensreaktionen hinüberzubeziehen und die Frage aufzuwerfen, ob nicht auch die geistigen Zwecke und Ziele in Wahrheit — Existenzbedingungen seien?

Er beantwortete sie freilich nur durch Aphorismen, glänzende, oft paradoxe Behauptungen, sprunghaft, zusammenhanglos. Und da die Menschheit immer bloß das einsieht, was ihr bewiesen wird, da sie auf die Methode schwört und jede Methode leugnet, welche sie nicht unmittelbar greifen kann; da sie die Gewohnheit hat, verschwiegene Zwischenglieder als nicht existierend zu betrachten, so hat sie auch Nietzsche resolut missverstanden. Wenn er sagt, es gäbe überhaupt keine uneigennützigen Interessen, dass auch das désintéressement eine besondere Form der Selbstbehauptung sei; dass der Mensch über seine natürlichen Triebe nie und nimmer hinauskönne, wie weit er immer ausholen mag, und dass auch die höchsten Ideale letzthin nur dazu dienten, das physische Leben zu ermöglichen — so schloss sie sofort auf Egoismus, anstatt die Gedanken auszudenken, wertete moralisch, bevor sie begriffen hatte, und vergaß Goethes weiseste Mahnung:

Man sollte darüber nicht mit ihm rechten, sondern einzusehen trachten, inwiefern er recht hat.

Und recht hat Nietzsche im Wesentlichen: in der Art der Fragestellung. Alles und jedes dient dem Leben, dieses ist das Letzte, und jeder Versuch, darüber hinauszugelangen, muss ins Bodenlose führen.

Wer befähigt ist, mit weitem Blicke die Geschichte der Menschheit zu umspannen, dem erscheint diese Wahrheit nicht zweifelhaft: alles Faktische zeugt für sie. Es gibt kein absolutes Glück oder Unglück, sondern nur wechselnde Umstände, die der Mensch, je nach seiner Kulturstufe und seiner individuellen Veranlagung, bald als Glück, bald als Unglück wertet. Kein goldenes Zeitalter hat je die Vergangenheit geziert, und keine Zukunft wird es je herbeiführen; denn nur Menschen in ihrem subjektiven Empfinden sind glücklich, keine Zeiten in ihrem objektiven Sein. Optimismus und Pessimismus sind als unpersönliche Weltanschauungen beide gleich widersinnig; denn die Ideale der Menschheit wechseln mit ihren Bedürfnissen, und das Höchste von gestern kann morgen ihren Abscheu erwecken. Vom eudaimonistischen Standpunkte aus gibt es kein unverrückbares Ziel, nach dem wir streben könnten. Aber es gibt auch keinen absoluten Fortschritt. Das Höchste fällt stets mit dem Ende zusammen, und der Tod kann des Lebens Ziel nicht sein. Wie die höchste menschliche Schönheit ihrem Wesen nach steril ist — niemand hat begeisterter als Baudelaire von ihr gesungen —, wie die höchste menschliche Vollkommenheit, die Diaphaneite Walter Paters, die Vollkommenheit der Götter Griechenlands, des Mystikers, des indischen Weisen, tatenlos, unproduktiv an sich, nur mehr durch ihr Sein wirkend ist, das Leben abschließt und nur darum in göttlichem, überirdischem Glanz erstrahlt, weil sie sich vom unmittelbar schwarzen Hintergrunde des Todes abhebt — so strebt auch alle Kultur, alle Zivilisation unaufhaltsam dem Ende zu.

La civilisation, sagt Rémy de Gourmont2, s’éloigne de la nature selon une ligne serpentine, qui ne se rabaisse jamais jusqu’à sa naissance; et elle s’achemine ainsi tout doucement vers la stérilité et vers la mort.

Die Geschichte aller Kulturvölker beweist das; keines hat sich je dauernd auf seiner höchsten Höhe erhalten können; und die nackten, harten Tatsachen zeugen mit unheimlicher Deutlichkeit dafür, dass auch die kulturellen Ziele Naturnotwendigkeiten sind, die das Leben der Menschheit, wie des Individuums, in erst steigender, dann fallender Kurve fördern, bis sie es vernichten. Es gibt kein anderes unverrückbares Vor uns als den Tod; der Zweck des Lebens muss in ihm liegen.

Nur aus dieser Perspektive gelingt es, den Tatsachen gerecht zu werden; es gilt nicht die bestehenden Werte umzuwerten, sondern ihren Sinn richtig zu verstehen. Wären die menschlichen Ziele wirklich Zwecke im absoluten Sinne, dann bliebe leidenschaftliche Liebe zum Tode, zum Nirvana, die einzige Rettung vor dem schwärzesten Pessimismus. Aber sie sind es nicht; sie sind zugleich und andrerseits Bedingungen des Lebens, und wer das begriffen hat, der setzt dem memento mori ein freudiges memento vivere entgegen.

Rousseau warf seinen Zeitgenossen die Kompliziertheit ihrer Bedürfnisse vor; er predigte die Rückkehr zum Naturzustande, und sein Jahrhundert glaubte ihm und klagte sich selbst an — und tat doch nichts, um den Glauben in die Tat zu übersetzen. Wir aber sind stolz auf dasselbe 18. Jahrhundert, nicht um der Rousseauschen Ideale willen, sondern weil es den Keim zu der noch größeren Komplikation hervorbrachte, die uns jetzt Lebensbedingung ist. Des Menschen Bedürfnisse werden größer, je mehr er sich differenziert, und seine Zwecke sind nur deren Spiegel. Wir könnten als Wilde nicht mehr Befriedigung finden, wir sind nicht mehr glücklich, wenn wir bloß satt sind und der Liebe frönen können: wir haben geistige Bedürfnisse, und diese steigern sich und schaffen sich stets ferner und ferner vom physischen Leben abliegende Ziele. Ursprünglich nur vom Nächstliegenden bedingt und folglich auch befriedigt, macht die Menschheit immer größere Umwege, um sich zu erhalten — zuletzt den Umweg um das Weltall. Ursprünglich im Physischen sich erschöpfend, wird sie immer und immer geistiger; auf das Leibliche schaut sie herab, hält es für unwesentlich, erklärt es gar für menschenunwürdig und sündhaft. Der Geist ärgert sich an seinen Schranken, sucht dem Leben zu entfliehen, über dasselbe hinauszugelangen — und merkt erst nachträglich, oft zu spät, dass seine höchsten Flüge nur dessen Erhaltung dienten. Kulturvölker vermögen ohne Kultur nicht zu dauern, und wenn sie an ihr zuletzt zugrunde gehen, so ist das ebenso notwendig und ebensowenig ein Einwand gegen sie, wie dass die Fortschritte des Kindes dem Grabe zuführen und die Flamme an ihrem eigenen Feuer erlischt. Und was die Geschichte der Menschheit lehrt — bezeugen dasselbe nicht ihre größten Söhne? Wenn das Genie meist unglücklich war und von seinen Zeitgenossen wenig Förderung erfuhr, so lag das gewiss nicht an seinen Zielen an sich: die konnten ihm zwar missverstanden, aber unmöglich geraubt werden. Seine Lebensbedingungen waren andere, als die seiner Mitmenschen, und diese konnte ihm seine Zeit oft nicht erfüllen. Flaubert sagte von seiner Schriftstellertätigkeit, die ihm mehr am Herzen lag als vielleicht irgendeinem Autor vor oder nach ihm, und an der sich sein Leben zuletzt verzehrte:

Un livre est pour moi une façon spéciale de vivre.

Wie sollte das den Bürgern von Rouen einleuchten? Wie kann das Weltkind verstehen, dass es einen Mord begeht, wenn es den Mystiker in seiner kontemplativen Einsamkeit stört, in der freundlichen Absicht, ihm die Freuden des Leben zu erschließen? — Es sind Notwendigkeiten für den Einzelnen, was der Menge nur zu leicht unnötig und willkürlich erscheint. Die Lebensbedingungen der Menschen sind verschiedene.

Wo wir Notwendigkeit, Bedingung sagen, da haben die Menschen aber seit je von Zwecken und Zielen gesprochen. Woher diese Umkehrung? Wie kommen wir dazu, dem Leben Zweck zu ersetzen, wo es doch selbst sein einziges Ziel ist? — Der Grund dieser Spiegelung liegt in der Einsinnigkeit des Lebens, in der Irreversibilität seiner Prozesse. Wir leben nur nach vorwärts zu, wir können nicht stehenbleiben noch umkehren. Wie der Leib sich nicht rückläufig zu entwickeln vermag, vom Manne dem Kinde zu; wie das Herz Glück und Unglück nur in der Gegenwart empfinden und von der Zukunft erwarten kann — die Vergangenheit an sich ist tot —, so kann auch der Geist unmittelbar nur nach vorwärts schauen. Jede Bewegung führt irgendwohin, im Endpunkte erblickt er ihr Ziel, und hohe Kultur gehört dazu, in der Tatsache der Bewegung selbst den Zweck zu erfassen. Das Leben ist Bewegung, in dieser liegt sein Ziel; der Mensch aber, der nicht nach innen zu schauen und im Augenblicke zu leben vermag, sucht nach einem festen Punkte vor sich. In der persönlichen Fortdauer auf Erden kann er nicht liegen — diese Auffassung widerlegt der Tod. Dass der Tod selbst vielleicht nur ein Mittel ist, um die Fortbewegung des Lebens zu ermöglichen, dass das Individuum nur eine Etappe bedeutet, durch welche es fortrollt, und dass der Tod somit gar keinen wirklichen Abschluss darstellt — zu dieser höheren Ansicht vermag er sich nicht leicht aufzuschwingen. So verlegt er denn das Ziel, dass er in der Natur nirgends entdecken kann, in die Welt der Ideen und glaubt, was er nicht zu erkennen vermag. An vieles hat der Mensch geglaubt, in vielem den letzten Zweck, das höchste Gut erblickt. Für die Griechen war es die Schönheit, für die Juden die Politik, für das Christentum die ewige Liebe. Götter sind erstanden und untergegangen, der Himmel war von je der Schauplatz gewaltigen Ringens. Aber ein Glaube ist immer geblieben, unverrückbar, unwandelbar, wie verschieden er sein Objekt auch gestalten mochte: der Glaube an die Wahrheit. Dieses Ideal ist des Menschen höchstes Gut, sein letztes Ziel.

Der geistige Mensch strebt nach Wahrheit. Sein Leben dient ihr, oft sein Tod, und die Menschheit preist das Andenken jener Männer, welche die Idee über das Leben setzten. Ist sie nun heute reif, zu begreifen, dass die Idee an sich schon eine Lebensform bezeichnet, ein notwendiges Verhältnis ausdrückt, dessen Faktoren uns bald als Mittel, bald als Zwecke erscheinen, und dass die Märtyrer der Wahrheit nur deshalb starben, weil ihre Überzeugung die Metapher ihres Lebens war und ihr Glaube ihr persönlichstes Sein umschrieb? — Spiegelung ist es, wenn der Geist einer Idee zu dienen wähnt: er dient immer und ewig nur dem Leben. Aber nur allzu schwer wird er sich dessen bewusst, weil er unmittelbar nur nach außen schauen kann, und seine eigenen Gesetze ihm die Perspektive verkehren. Langsam, langsam entringt er sich den Fesseln der Worte, der Tradition und des Vorurteils, unendlich langsam verlernt er es, im Absoluten eine Substanz, ein Materielles erblicken zu wollen. So beginnt denn erst in jüngster Zeit, nachdem die Menschheit durch Jahrtausende gedichtet und gedacht, die Erkenntnis dessen zu dämmern, dass das Geistige keine der Natur entgegengesetzte Welt umspannt, und dass auch das Erkennen Bedingung des Lebens ist, nicht dessen Ziel.

Ich denke, um zu leben3 — nicht umgekehrt. Das Denken ist eine Reaktion des Lebens der Natur gegenüber, prinzipiell jeder anderen gleich. Selbsterhaltung bezweckt es, es führt mit seinen besonderen Waffen denselben unerbittlichen Kampf gegen die Naturmächte, die das Leben von allen Seiten bedingen, beschränken und zu vernichten drohen, wie die Pranke des Tigers, wie des Adlers Flug. So müssen wir denn an die gesamte lebendige Natur denken und zu vergessen suchen, was der Mensch erdichtete, als er sich über sie erhaben dünkte, wenn wir je erfahren wollen, was Wahrheit heißt.

Das Denken eine Reaktion des Menschen, kraft welcher er sich selbst erhält! Wie sollen wir das verstehen? Dass wir keine materialistischen Absichten hegen, brauchen wir dem, der uns bis hierher aufmerksam gefolgt ist, nicht erst ausdrücklich zu versichern: das Psychische ist kein Materielles, der Gedanke kein Stoff; das Geistige bedeutet für unsere Begriffe eine völlig alleinstehende, weil nur in uns verlaufende und objektiv als solche gar nicht nachweisbare Lebensäußerung. Aber es gehört doch zum Zusammenhange des Lebens, folgt dessen einheitlichen Gesetzen. Daher muss es möglich sein, das Geistige auch in diesem schwierigsten Falle aus allgemein-organischer Perspektive zu überschauen.

Eines der wesentlichsten Merkmale des Lebens ist wohl seine ungeheure, aller Beschreibung spottende Bedingtheit. Man könnte geradezu sagen, die Bedingtheit sei Bedingung des Lebens; sie allein unterscheide es schon von allen sonstigen Kategorien des Universums. In der Tat, eine Kraft bleibt Kraft, was immer auf sie einwirken mag; sie wandelt sich zwar, geht aber nie zugrunde. Das Gleiche gilt vom Stoffe: hier bleiben sogar die Qualitäten wesentlich dieselben, ob wir das Sternenheer analysieren oder die Bestandteile der Erde; die verschiedenartigsten Einflüsse erweisen sich dem Stoffe gegenüber machtlos. Denn obgleich jeder Körper, jedes Mineral oder Element von der Gesamtheit des Kosmos Einwirkungen empfängt und insofern durchaus abhängig ist, so berühren die genannten Einflüsse das Wesen doch nicht. Anders das Leben. Heute steht fest4, dass es unmöglich aufkommen und dauern könnte, wenn bloß die geometrische Konfiguration unseres Sonnensystems wesentlich anders wäre, als sie tatsächlich ist — wenigstens nicht in der Form, wie wir es kennen, eine andere können wir uns aber nicht vorstellen. Nur innerhalb sehr geringer Temperaturgrenzen, unter sehr bestimmten energetischen Verhältnissen, unter hochkomplizierten chemischen Bedingungen vermag es sich zu erhalten und fortzuschreiten. Einst war es auf Erden unmöglich, dereinst wird es wieder vergehen müssen. Das Leben, in seiner uns bekannten Gestalt, scheint ein ebenso spezielles Phänomen im Weltgeschehen zu bedeuten, wie die Form unseres Sonnensystems — wirklich steht diese, so viel ich weiß, unter der Legion von Trabanten umkreister Sterne bisher einzig da. Die Bedingungen des Lebens sind also schon im allgemeinsten Sinne, in der Theorie gleichsam, außerordentlich komplizierte und spezialisierte. Das ist die äußere Seite. Von der anderen her betrachtet vermag es sich aber nur deswegen zu erhalten, weil es in seinem Wesen liegt, nicht nur überhaupt, sondern zweckmäßig auf die äußeren Einflüsse zu reagieren5. Geht ein chemisches Element eine Reaktion ein, so verwandelt es sich, hört auf, als solches zu existieren. Bei finaler Betrachtungsmöglichkeit könnte man sagen: es reagiert, um zu verschwinden. Der Organismus reagiert dagegen, um zu beharren, um sich in seiner spezifischen Gestalt im Wechsel der Bedingungen zu behaupten. Und diese Fähigkeit lässt sich aus keinem nicht-finalen Gesichtswinkel überhaupt verstehen, weil wir unsere Denkgesetze nicht modifizieren können: die Zweckmäßigkeit gehört zum Wesen des Lebens, sie ist daher für die Erkenntnis ein Letztes. Fassen wir beide betrachteten Seiten nun auf einmal ins Auge, so können wir folgendes sagen: nach außen zu ist die Bedingtheit Bedingung des Lebens; nach innen zu die Fähigkeit, sich den äußeren Bedingungen gegenüber im Gleichgewichte zu erhalten, was durch zweckmäßige Reaktionen bewerkstelligt wird. Soviel ist jedem denkenden Biologen bekannt; weniger bewusst dürfte aber die Möglichkeit einer weiteren Bestimmung sein, die sich aus den zwei aufgestellten Sätzen von selbst ergibt: dass der Grad und die Art der Zweckmäßigkeit dem Grade und der Art der Bedingtheit streng korrelativ ist. Für Gott, obzwar nicht für den Menschen, müsste es möglich sein, das eine aus dem anderen a priori zu erschließen; wir aber können unter diesem regulativen Denkprinzip das Verhältnis des Lebendigen zum Weltall wenigstens a posteriori begreifen.

In der Tat, je niedriger die Organisationsstufe des Lebens, um so einfacher sind seine Existenzbedingungen; je komplizierter ein Organismus, desto größer ist der Umkreis seiner Bedürfnisse. Ein Protozoon, eine niedere Pflanze bedarf nur der allgemeinsten anorganischen — physikalischen und chemischen — Faktoren, ohne welche das Leben überhaupt unmöglich wäre, um zu existieren; diese sind fast überall auf Erden vorhanden, und speziellere Bedürfnisse liegen nicht vor. Zahllose niedere Seetiere bedürfen nur des Meeres überhaupt und einer gewissen Temperatur, um sich zu erhalten; so dauern sie durch alle geologischen Formationen hindurch fort, modifizieren sich gar nicht oder kaum unter dem Wechsel der Verhältnisse und bleiben sogar von den gewaltigen Perturbationen auf Erden, die Faunen und Floren von Grund aus umgestalteten, unberührt — von geringfügigen Verschiebungen gänzlich zu schweigen. Anders steht es mit den höheren Organismen. Zunächst sind sie untereinander korrelativ und hängen wechselseitig voneinander ab: ohne Pflanzen wären keine Pflanzenfresser möglich, ohne diese keine Karnivoren. Das Aussterben einer Insektenart kann leicht zugleich das Ende der Pflanzen, die durch ihre Vermittlung befruchtet wurden, und der Vögel, die sich von ihr ernährten, nach sich ziehen. Weiter sind die klimatischen, die topographischen und tausend andere Verhältnisse, deren ein bestimmter Organisationstypus bedarf, ganz außerordentlich verwickelte — desto verwickelter, je spezifizierter das Tier oder die Pflanze ist. So sehen wir denn, dass das Leben nicht desto selbständiger und unabhängiger wird, je mehr es sich von der Materie abhebt, wie gemeiniglich geglaubt wird, sondern ganz im Gegenteil: es wird immer abhängiger, seine Existenzbedingungen werden immer kompliziertere. Je mehr ein Organismus die Natur zu beherrschen scheint, desto vielseitiger ist er tatsächlich von ihr bedingt. Aus diesem Gesichtswinkel müssen wir alle höheren Lebensäußerungen, zuletzt auch diejenigen, welche den Menschen über alles Physische hinauszuheben scheinen, ins Auge fassen, wenn wir sie je verstehen wollen: das Leben bedarf immer schärferer Waffen, um sich gegenüber der immer wachsenden Zahl der Dinge, von welchen es abhängt, zu behaupten.

In diesem Sinne ist aller menschliche Fortschritt zu verstehen; alle Zivilisation entsteht aus dem Drange der Selbsterhaltung; alles Geistige dient ursprünglich unmittelbar dem physischen Leben, alle Wissenschaft ist zunächst Technik. Und wenn nun Kultur, Zivilisation und Wissenschaft zuletzt zu selbständigen Zwecken werden, unabhängig von allem Nutzen für das Leben, wenn der Mensch zuletzt die reine Wahrheit will, und ob sie ihn auch zermalmen mag — wie deuten wir dieses Paradoxon, wie mag die Natur sich zu ihm stellen? — Ich denke, folgendermaßen: das Menschenhirn — wir betonten es schon öfters — ist geradezu ein selbständiges Wesen in seinem Organismus, beherrscht ihn als Parasit gleichsam, dient immer weniger unmittelbar der Gesamtheit. Ursprünglich war das anders: beim primitiven Menschen dient das Gehirn dem Leibe, indem es ihn beherrscht; beim kultivierten knechtet es ihn. So hat es selbständige Existenzbedingungen, welche dem konkreten Leben des gesamten Organismus als Umwege erscheinen müssen, obgleich diese Umwege naturnotwendig sind: es sind die höheren, reingeistigen Interessen. Der Mensch will erkennen; er will es aber nur deswegen, weil das Erkennen, ob es dem Leben nun sichtlich dient oder nicht, an sich schon eine zweckmäßige Reaktion der Außenwelt gegenüber bedeutet, gleichviel, ob das Erkannte sich nachträglich als nützlich erweist oder nicht. In der gesamten organischen Welt herrscht das Gesetz, dass ein jedes Erleiden eine zweckmäßige Handlung auslöst; beim Menschen ist sein Ausdruck bloß derartig qualifiziert, dass die prinzipielle Wesenseinheit mit dem sonstigen lebendigen Geschehen nicht ohne Weiteres einleuchtet: er sucht die Natur nachzuahmen oder nachzuschaffen, zu beschreiben — in verschiedenen Sprachen, durch Begriffe, Anschauungen, Töne oder Bilder — er setzt der Natur die Wissenschaft, dem Geschehen die Sprache, dem objektiven Sein die Vorstellung entgegen — und doch tut er prinzipiell nichts anderes, als was jedes Lebewesen tut, das auf die Außenwelt zweckmäßig reagiert. Das Universum wirkt auf den geistigen Menschen, wie auf den leiblichen; dieser reagiert darauf mit physischen Waffen, jener mit psychischen; wie dieser sich die Natur durch den Stoffwechsel einzugliedern strebt, so tut es jener durch den Erkenntnisprozess: er muss sie verstehen, um leben zu können; diese Antwort ist die einzig zweckmäßige.

So ist die Gebärde des Erkennens schon an sich eine zweckmäßige Handlung, gleichviel, ob das Resultat sich dem Leben als unmittelbar förderlich erweist oder nicht. Der Mensch aber hat es immer anders verstanden, er hat im Ziel, nicht in der Bewegung selbst den Zweck erblickt. Er wollte die absolute Wahrheit; an diesem Ideale zweifelte er nie, und ebensowenig an der Möglichkeit, es dereinst zu verwirklichen. So dachte und erkannte er Jahrtausende hindurch. Allerdings brach Wahrheit auf Wahrheit, zu Tode getroffen, zusammen, aber das Ideal stieg, stets verjüngt, einem Phönix gleich, aus der Asche wieder empor. Da kam ein strenger Geist — Immanuel Kant hieß der Grausame — auf den verhängnisvollen Einfall, die bloße Möglichkeit, zur Wahrheit zu gelangen, einmal kritisch zu untersuchen … und was erwies sich? — Dass die Wahrheit an sich transzendent sei, dass wir nur Bilder von den Gegenständen um uns empfängen, und dass alle die Erkenntnisse, welche früher für wahr im absoluten Sinne gegolten hatten, in Wirklichkeit bloß zweckmäßig wären — zweckmäßig zum Beschreiben, zur Praxis, zur Operation! Es gäbe keine anderen gewissen Erkenntnisse, als die, welche unsere eigenen Denkgesetze betreffen, alle übrigen seien nur praktisch, nützlich für das Leben! — Der lang gehegte Wahn zerstob: der Mensch sah sich in Allem auf sich selbst zurückgewiesen, fühlte sich unsicher und ratlos: wozu denn alles Streben, wenn keine Gewissheit möglich ist? — Die starken Geister wussten sich freilich seit je zu helfen; ihnen fehlte jene horrible manie de la certitude, welche Renan geißelte, sie verabscheuten das Dogma, gefielen sich in einer gewissen ironischen Attitüde selbst dem Faktischen gegenüber, verschmähten es, endgültige Schlüsse zu ziehen und verhielten sich gleichsam herablassend zu ihrem eigenen Wahrheitstriebe — so wie einst Diderot einem Philosophen, den nach Gewissheit dürstete und der sie in einem System zu finden meinte, den feinsinnigen Ratschlag erteilte:

Ayez un systême, j’y consens; mais ne vous en laissez pas dominer: Laidem habeto, dummodo te Lais non habeat.

Kant antwortete auf die Frage: was ist Wahrheit? mit dem berühmten Satze:

Es ist schon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit und Einsicht, zu wissen, was man vernünftigerweise fragen solle —

und hielt sich, als vollendet kritischer Geist, wie vor ihm Descartes, ausschließlich an das Wie, die Methode. Der Künstler sagte sich: wahr ist alles Symbolische, und dieselbe Geistesrichtung gewann bei den Epikuräern des Geistes, den Ästheten, den paradoxeren Ausdruck: wahr ist alles, dessen Form schön ist. Weniger glücklich setzten sich manche der neueren Philosophen mit dem Problem auseinander: sie meinten, es gäbe überhaupt keine Wahrheit — da doch alle Erkenntnisse nur relativ sind — ja mehr noch: sie verstiegen sich zu der Behauptung, die Wahrheit sei direkt schädlich; das Leben bedürfe zu seiner Erhaltung der Illusion. Dies mag — nebenbei bemerkt — für Individuen zutreffen; vielleicht können die meisten Menschen sich selbst und das Leben wirklich nur dadurch ertragen, dass sie es für anders halten, als es ist. Aber durch diese psychologische Beobachtung wird doch das erkenntniskritische Problem nicht gefördert! — Man hat das Wesentliche — und zugleich so Naheliegende — fast immer übersehen: dass durch die Kritik der Vernunft die Antithese von absoluter Wahrheit und Illusion überhaupt zu nichts zerfällt. Woher wissen wir, ob es eine Illusion gibt, ob die Illusion nicht vielmehr das Wahre ist? Wenn alle Wahrheit an sich immer nur zweckmäßig ist, wenn ferner feststeht, dass auch die theoretische Erkenntnis im letzten Grunde praktischen Zwecken, d. h. dem Leben dient, dann lässt sich die Antithese von wahr und unwahr allenfalls durch diejenige von Leben und Tod ersetzen — eine Umdeutung, welche die Mystiker seit je, freilich in anderem Sinne, auf moralischem Gebiete, zwischen Gut und Böse vollzogen haben —; an sich ist sie nicht zu halten. Da es aber andrerseits absurd wäre, ein Wort hinzurichten, weil wir es falsch verstehen, die Idee der Wahrheit zu leugnen, weil sie sich in der Erscheinung nicht nachweisen lässt oder weil der wissenschaftliche Wahrheitsbegriff zwischen dem Ideal und dem Faktischen eine undeutliche Mittelstellung einnimmt, so gilt es nur, ihren Sinn anders zu bestimmen.

Für uns ergibt sich die richtige Auffassung von selbst: wir erkennen, um zu leben; das Erkennen ist an sich eine zweckmäßige Reaktion. Wenn nun das Wahre selbst auch nur zweckmäßig ist, so dass wir aus dem teleologischen Zirkel überhaupt nicht hinausgelangen, so bezeichnet die Idee der Wahrheit offenbar die zweckmäßigste Beziehung zwischen Weltall und Menschengeist; sonst nichts.

Wir sehen uns wieder einmal auf die platonische Betrachtungsart zurückgewiesen. Die Ideale des Menschen sind in der Tat notwendige Lebensformen; denn er existiert nur in bezug auf die Natur, und das Ideal bezeichnet ihm die zweckmäßigste Beziehung zu ihr. Das Leben bedarf zu seiner Erhaltung der gesamten Realität — das Reale aber fügt sich im Geiste dem Schema des Wahren ein. Und wenn die Begriffe und Ideen des Menschen bloß auf Vorstellungen fußen, so ändert das nichts an ihrer Realität für ihn, an seiner Bedingtheit durch sie; denn auf den Geist wirkt das Weltall nur in Form von Empfindungen und Vorstellungen ein. So fügt sich denn der Erkenntnistrieb harmonisch den allgemeinen Reaktionen ein, kraft welchen sich das Leben auf Erden erhält: wir erfahren nur, was wir erfahren müssen — auf eine gewisse Stufe gelangt, kann der Geist nicht dauern, ohne zu verstehen. Die Bedingtheit des Geistes ist Bedingung des Erkennens, wie die Bedingtheit des Lebens durch die Natur dasselbe allererst möglich macht. So bedeutet die Idee der Wahrheit in der Tat nichts als die zweckmäßigste Beziehung zwischen Weltall und Menschengeist.

Hieraus ergibt sich von selbst, dass es eine abstrakte, objektive Wahrheit gar nicht geben kann. Die Voraussetzung hierzu wäre die Gleichheit aller Menschen — von einer solchen kann aber nur in bezug auf die reinformalen Bedingungen der Erfahrung, die Gesetze der Mathematik, Raum, Zeit und Denkkategorien die Rede sein. Im Übrigen sind jedes Menschen Existenzbedingungen besondere, einzige, und folglich kann seine Beziehung zum Weltall durch keine allgemeingültige Formel ausgedrückt werden. So ist jede Religion wahr, sofern sie leidenschaftlich geglaubt wird, und keine, wenn es keine Gläubigen gibt. Keinem Menschen kann seine persönliche Wahrheit streitig gemacht werden, sofern sie ihm wirklich angehört, für ihn naturnotwendig ist; wie William Blake sagt:

Everything possible to be believed is an image of truth.

Spezialfragen können durch objektive Untersuchungen entschieden werden; das Verhältnis des Ich zum All der Natur bleibt eine persönliche Angelegenheit. Beim Einen äußert es sich im religiösen Gefühl, beim Anderen in einer Philosophie, beim Dritten vielleicht im Verzichte auf jede positive Bestimmung; es gibt auch Fanatiker des Zweifels … aber es gibt keine allgemeingültige Weltanschauung, weil es keine allen gemeinsamen Lebensbedingungen gibt.

Und doch leben Wahrheiten im Reiche des Gedankens, an welche zu glauben wir uns gedrungen fühlen, obschon wir sie nicht selbst geschaffen oder erschaut haben. Nur Weniges von dem, was unsere Kultur ausmacht, ist unser eigenes Werk und folglich für uns notwendig. Nur Weniges von dem, was wir anerkennen, könnten wir überhaupt kontrollieren, und doch zweifeln wir nicht. Wir glauben auch in Sachen der Erkenntnis; ohne diesen Glauben wäre alle Kultur unmöglich. In wissenschaftlichen Fragen basiert er auf bloßer Ökonomie: wir wissen, dass wir, falls wir die Vorbedingungen dazu besäßen und erfüllten, notwendig zu denselben Ergebnissen gelangen würden, wie die Autoritäten, denen wir trauen. In Fragen der Weltanschauung liegen die Verhältnisse anders: es ist unmöglich, die Lehren Jesu Christi, der indischen Mystik oder der Schopenhauerschen Metaphysik auf ihre Wahrheit hin zu prüfen. Für den Weisen, der seine Weltanschauung verkündet, ist sie unmittelbar gewiss; denn sie drückt die gesetzliche Beziehung seines Ich zum Weltall aus; er braucht sie weder zu glauben noch zu beweisen, denn er ist sie. Andere können sie nur glauben: denn das Ich, das Atman des Weisen umschließt den einzigen Standpunkt, von welchem aus sein Weltbild notwendig und wahr erscheint, und jeder andere ist völlig außerstande, sich faktisch — nicht nur in der Phantasie — in jenes Ich hineinzuversetzen, die Totalität seiner Bedingtheit zu erleben. Das folgt aus den unabänderlichen Gesetzen der Perspektive. Und darum können wir niemals wissen, sondern nur glauben, dass die großen Geister über die letzten Dinge die Wahrheit gewusst; es war nur ihre Wahrheit.

Und dennoch glauben wir; ein Goethesches Wort erscheint uns selbst in Fragen, die seinem Wissenskreise nachweislich fern lagen, höchst beachtenswert. Wir erfahren, dass unzählige der jüngsten Forschungsergebnisse von den frühesten Geistern antizipiert oder wenigstens geahnt waren, wir gewahren, dass die größten Menschen, und waren sie durch Raum und Zeit noch so weit voneinander getrennt, in bezug auf die tiefsten Erkenntnisse fast immer übereingestimmt haben; und die Erfahrung, wie ein inneres Gefühl sagt uns, dass es im Wesen des Genies liegen müsse, die Natur in ihrem Urbestande zu begreifen, dass seine individuelle Wahrheit auch allgemeinmenschlich wahr ist, seine subjektive Gewissheit zugleich objektiv zu Recht besteht. Instinktiv sind wir der Überzeugung, dass zwar alle Wahrheit individuell ist und insofern niemals allgemeingültig sein kann, dass aber gerade das Individuum im höchsten Falle so universal sein muss, dass seine Erkenntnisse für alle gelten dürften. Diese Überzeugung kann uns nicht geraubt werden; die Ehrfurcht vor dem Genius ist des Menschen höchster Wert.

Bis heute ist sie der Menschheit nicht abhanden gekommen, und niemals hat sie ihren Glauben bereut. Aber was bis heute fehlte, war das Verständnis dessen, inwiefern einzelne Exemplare der Menschheit so bevorzugt sein können, dass, wie Goethe sagt:

die Natur in ihnen sich selbst zum Bewusstsein kommt und empfindet und denkt, was zu allen Zeiten ist und geleistet wird?
1 So schreibt J. V. Uexküll (Leitfaden l. c. p. 6):
Mit der Erkenntnis, dass alle Organismen Zweckmäßigkeiten sind, beginnt die Biologie … Die Erforschung der Zweckmäßigkeit der Organismen ist die Aufgabe der Biologie … Das Studium des Lebens kann nicht ein Studium des Stoff- und Kraftumsatzes sein, sondern muss ein Studium der lebenden Organe sein; — Biologie, nicht Physiologie.

Am Besten aber charakterisiert Uexküll den wesentlichen Unterschied des anorganischen (bloß nach dem Kausalgesetz verlaufenden) vom organischen (sowohl kausalen als auch finalen) Geschehen an folgender Stelle (p. 67):

Wenn wir rückwärts schauen, so erscheint uns jede Phase im Entwicklungsprozesse streng kausal aus den physikalisch-chemischen Prozessen hervorgegangen. Schauen wir dagegen vorwärts, so ist es sicher, dass die physikalisch-chemischen Prozesse, ihrer eigenen Kausalität überlassen, die sofortige Zerstörung und Zersetzung des Organismus zur Folge haben müssen. Es ist in der Tat die klarste Definition des Absterbens, wenn wir von einem Organismus sagen, seine Prozesse laufen nicht mehr zweckmäßig, sondern nur noch kausal ab.
2 Epilogues, Paris 1904 p. 267.
3 Der Mystiker würde sagen: ich denke, weil ich lebe, oder wie ich atme; beide Sätze aber besagen genau das Gleiche. Ich schreibe in der Sprache des Naturforschers, aber wer zu hören weiß, wird Klänge vernehmen, die bisher nur aus dem Reiche des tiefinnersten Schauens gedämpft herübertönten und die Welt des Naturlebens kaum zu erreichen schienen.
4 Vgl. z. B. Hervé Faye, De l’origine du monde, Paris 1896 eh. XV, René Quinton, L’eau de mer, milieu organique l. c. und unser erstes Kapitel.
5 Auf diese Weise muss die Anpassung verstanden werden, die Variation der Organismen korrelativ zu ihren Lebensbedingungen — nicht in dem üblichen Sinne, dass sie das glückliche Resultat des Zufalls, ich meine des Überlebens im Kampfe ums Dasein, wäre. Nichts beweist schlagender die Richtigkeit unserer Auffassung — sie ist auch die H. S. Chamberlains —, als die Experimente Alphonse Milne-Edwards und Edmond Perriers mit Höhlentieren: Crustazeen, die sonst am Tageslichte leben, nun aber fortdauernder Finsternis ausgesetzt werden, modifizierten sich in kürzester Frist den neuen Bedingungen entsprechend, und umgekehrt nahmen Höhlenbewohner unter dem Einflusse des Tageslichtes mit der Zeit wieder die der Helligkeit gemäßen Formen an, gewannen ihre Augen wieder usw. Vgl. Armand Virés Studie in der Revue des Idées vom 15./III. 1905.
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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