Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

II. Kontinuität und Diskontinuität

Weltgleichung

Wenn wir jetzt das Erkannte überschauen und das Erschaute zu verstehen suchen, so ahnen wir einen großen Zusammenhang, der, wie die Silhouetten der Berge aus dem Morgennebel, aus dunkler Ferne scharf hervortaucht. Die Leitlinien des Universums tuen sich vor unseren Blicken auf; wir ahnen die mögliche Synthese dessen, was uns scharf geschieden erscheint, wir beginnen zu begreifen, inwiefern das dem Menschen Widerspruchsvolle im Kosmos sich entsprechen mag. Aber eine Frage haben wir noch nicht beantwortet: welche Stelle mag das Leben in dem Zusammenhange einnehmen? Was mag dem Leben in der Weltmathematik für ein Symbol zukommen? — Wir erkannten es, in formaler Hinsicht, als eine gesetzmäßige Beziehung von Sein und Werden; in die Mathematik zurückgedeutet besagt das eine Beziehung, sagen wir kurz ein Grenzsymbol zwischen Geometrie und Arithmetik. Welcher Art wäre dieses nun? Es ist die irrationale Zahl — nicht die imaginäre Größe, als welche sie den Übergang vermittelt — also ein unaufteilbarer Bruch oder eine unausziehbare Wurzel. Und wenn wir uns eine solche Zahl jetzt geometrisch veranschaulichen, so gelangen wir zu demselben Schema, dessen wir uns im ersten Kapitel bedienten, um die Kategorie des Lebens mit den anderen in Beziehung zu setzen — dem rechtwinkeligen Dreieck! In der Tat, wenn den Katheten ganze Zahlen entsprechen, etwa 1 und 2, so ist diejenige der Hypotenuse irrational — in unserem Beispiele W u r z e l - a u s - 5 und mit den vorigen inkommensurabel. So würde unser Schema folgendermaßen aussehen:

W e l t g l e i c h u n g

Die Weltgleichung regiert das ganze Gebilde, uns ist aber nur die Projektion der Katheten auf die Hypotenuse zugänglich. Und ziehen wir diese, so müssen wir erkennen, dass sie, nachdem sie in einem Punkte zusammengetroffen, auf immer auseinandergehen. Der Punkt des Zusammentreffens ist das gelebte Leben, die Dauer als Erlebnis; das Leben spiegelt somit das Verhältnis der übrigen Kategorien. Wollen wir aber selbst in den Spiegel blicken, so sehen wir nur zwei divergierende Strahlenbündel, die ins Unendliche auseinandergehen. So lehrt uns auch das geometrische Schema noch einmal, dass es dem Verstehen des Menschen unmöglich ist, das zu vereinigen, dessen Zusammenhang für die Natur gleichwohl ein einheitlicher ist. Das Erkennen steht zum Sein exzentrisch, obschon es sein Ausdruck ist; und innerhalb jenes wiederum vereitelt die Gabelung des einheitlichen Geistesprozesses in Anschauung und Denken jeden Versuch, die Einheit der Natur auf unmittelbare Weise zu fassen.

Aber das Symbol der irrationalen Zahl, welches wir in der Weltmathematik für das Leben gefunden, eröffnet uns einen noch viel weiteren Ausblick. Der Menschengeist schafft irrationale Zahlen, um die Lücken des arithmetischen Diskontinuums auszufüllen; sie dienen dazu, den ersten Schritt von der Arithmetik zur Geometrie zu vermitteln, die Stetigkeit herzustellen. Sollte diese Denknotwendigkeit nicht wiederum einer Naturnotwendigkeit entsprechen? Sollte nicht die Weltmathematik des Lebens bedürfen, um die Diskontinuität des Stoffes und die Kontinuität der Kraft einheitlich zu verbinden? — Oder umgekehrt: das Leben ist jedermann unmittelbar gegeben, und trotzdem bedeutet es dem Menschen das schlechthin Transzendente, das Ding an sich, das Absolute, das Atman; in der Form von Kraft und Stoff tritt es in die Erscheinung, und doch ragt sein Wesen weit über diese hinaus; seine Erscheinung ist physisch, sein Wesen metaphysisch, es stellt die Grenze von Physik und Metaphysik dar; fassen wir die physische Seite ins Auge, so kehren wir damit der metaphysischen den Rücken und umgekehrt; der Anschauung ist es ein empirisch Gegebenes, dem Denken ein unauflösbares Problem; es ist in Ewigkeit — denn der Tod berührt nur das Lebendige, nicht das Leben — und doch schreitet sein Werden über begrenzte, scharf voneinander geschiedene Lebensdauern fort, die in unendlicher Ablösung sich folgen; beim einzelnen Lebewesen betrachtet, ist des Lebens Wesen Gestalt, aber fassen wir seine Gesamtheit ins Auge, so ist es ein unendliches All, das nur innerlich, nicht äußerlich Grenzen kennt —: bietet sich nun das Leben dem Menschengeiste, wenn er die tausendfältigen Strahlen des Universums in sich aufzunehmen und zu zerlegen trachtet, nicht gerade deswegen als etwas so durchaus Problematisches dar, weil es in der Weltgleichung ein Grenzsymbol darstellt, das die Diskontinuität des Stoffes und die Kontinuität der Kraft in sich vereinigt, keines von beiden ist und doch beides umfasst? Weil es für die Weltmathematik dasselbe bedeutet, was für die menschliche die irrationale Zahl? Und liegt nicht gerade in dieser Grenzstellung, welche das Leben einnimmt, der Grund, warum der Mensch sowohl zu schauen als zu denken, sowohl das Sein als das Werden zu begreifen, sowohl Metaphysik als Physik zu treiben vermag, aber beim Übergang vom einen zum anderen immer eine Umkehr vollführen muss, dergestalt, dass er, der Physik ins Antlitz schauend, der Metaphysik den Rücken kehren muss — gleichwie ein Wesen, welches sich auf dem Teilstriche der irrationalen Zahl 3/2 befände, nie Zähler und Nenner zugleich zu überschauen vermöchte? Ist nicht dieses die Ursache, warum aller menschlichen Geistestätigkeit ein unüberbrückbarer Dualismus innewohnt? Und überleben wir nicht gerade darum dasjenige, was sich in Gedanken nicht überbrücken lässt, weil das Leben als Erlebnis die einheitliche Beziehung zwischen inkommensurablen Faktoren bedeutet? — Eine berauschende Aussicht tut sich uns auf: die Welt ist ein stetiges All, denn stetig erfüllt es die Kraft; wohl ist der Stoff in diskreten Massen in ihm verstreut, und Stoff und Kraft ergänzen sich, ohne ineinander überzugehen; aber das Leben schafft die Vermittlung zwischen den an sich heterogenen Faktoren, indem es, als erste Etappe gleichsam, beide zu einer höheren Einheit zusammenfasst. Und wagen wir es, die letzte Schlussfolgerung aus der Mathematik ziehend, den Übergang selbst in Worte zu fassen, so ist der Äther die imaginäre Größe, welche das stoffliche Diskontinuum mit dem Kontinuum der Kraft zusammenschmilzt.

Wie die Tragödie aus dem Geiste der Musik entspross, so ist uns aus dem Geiste der Mathematik das Drama des Universums aufgegangen. In den Formen des Menschengeistes sahen wir diejenigen des Universums widergespiegelt, und aus der Einheit des Lebens erschloss sich uns die Einheit des Weltalls selbst. So ständen denn die Fundamente unseres Gebäudes fest; im Großen mag ich’s nicht weiter ausführen — denn wer weiß, vielleicht ist es nur ein Luftschloss? — Kein Sterblicher vermag das zu entscheiden:

Nur wer es nicht erkennt, kennt es,
Wer es erkennt, der weiß es nicht —
Nicht-erkannt vom Erkennenden,
Erkannt vom Nicht-Erkennenden!
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Wir begannen mit wissenschaftlicher Kritik; nun sind wir im Phantastischen gelandet. Und wir schämen uns dessen nicht: beim Mythos hebt das menschliche Denken an, zum Mythos strebt es unaufhaltsam zurück; denn wie Abend- und Morgenröte sich in nordischen Sommernächten berühren, so mündet die höchste Vernunft zuletzt im Reiche der Sage und des Märchens, und die Wissenschaft muss sich am Quell der Dichtung erfrischen, wenn sie lebendig bleiben und von ihrer letzten Staffel freudig zu neuen Taten ausziehen will. Ohne Phantasie, so könnte man sagen, wäre die Exaktheit unmöglich; nur das Überschwängliche zeugt kritische Besonnenheit.

Doch es ist Zeit, den Weltraum zu verlassen, in den uns der Hochflug der Phantasie hinausgetragen, uns im Konkreten wiederzufinden, aus welchem jene uns gewaltsam entführte. Aber wenden wir jetzt den Blick noch einmal nach jenen unendlichen Fernen zurück, nicht wissend, ob wir sie wirklich betreten, oder ob wir sie nur geträumt — da flammt uns, als Abschiedsgruß gleichsam, ein blendendes Licht entgegen. Und wie es dem Auge deutlicher wird, da gewahren wir uns selbst dort, woher wir zu kommen meinten.

1 Kena-Upanishad 2, II.
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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