Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

III. Harmonices Mundi

Zahlenverhältnisse

Die Farbengebiete des Spektrums sind objektiv (physikalisch) nicht definiert; die Lichtarten der verschiedenen Wellenlängen reihen sich stetig aneinander, und das sichtbare Spektrum umfasst nur einen Ausschnitt, einen kleinen Teil der Strahlen, welche auf das Auge einwirken. Jenseits der violetten Wellen liegen die kürzeren ultra-violetten, welche chemische Reaktionen hervorrufen, die ultra-roten Strahlen erkennen wir an ihren Wärmewirkungen, und auf die sichtbaren folgen nach beiden Richtungen weitere von immer zunehmender oder abnehmender Amplitude, von denen bisher gegen neun Oktaven studiert sind — eine Zahl, die sicherlich nur eine Etappe, kein Endergebnis bezeichnet. Die Anzahl möglicher Lichtstrahlen ist unbegrenzt. Dasselbe gilt von den Luftwellen, von denen das menschliche Ohr wiederum nur einen geringen Bruchteil aufzunehmen vermag. Hier liegen die Grenzen offenbar nur am Menschen; die Farben sind ein Abbild unseres Auges, die Töne unseres Gehörorgans. Andersgearteten Organismen mögen andere Gebiete zugänglich sein: von den Ameisen heißt es, dass sie ultraviolettes Licht sehen könnten1; die Tonskala der Heuschrecken ist gewiss eine andere, als die unserige; vielleicht besitzen einige Tiere ein Organ für Elektrizität; und die Grabwespe (Sphex), jenes physiologische Genie, welches unfehlbar die Nervenzentren der verschiedensten Larven herausfindet, um sie zwecks Ernährung ihrer Brut zu lähmen — gar einen Sinn für Blondlots N-Strahlen; beurteilen können wir das nicht. Dagegen wissen wir mit Bestimmtheit, dass die Wahrnehmungsgrenzen des Menschen nur an ihm selbst liegen, subjektiv sind. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass unser Farbenakkord mit dem Sonnenakkorde identisch ist: denn das Auge ist ja korrelativ zur Sonne entstanden. Betrachten wir aber nun die Folge unserer Empfindungen innerhalb der Grenzen, die ihnen gesteckt sind, so muss uns folgendes auffallen: auf jeden scharf bestimmten Eindruck, sei es Farbe oder Ton, folgen Übergangsglieder, deren Definition schwerer fällt, deren Interferenz, wenn es sich um Farben handelt, unreine Farbentöne, innerhalb der Tonskala Schwebungen und daher Unbehagen verursacht, bis dann ein weiterer Punkt erreicht ist, der an sich selbst ebensowohl als im Vergleich zum Ausgangspunkte völlig präzis erscheint. So etwa gelb im Verhältnis zu rot, die Terz nach dem Grundton. Und weiter gibt es Intervalle, welche uns besonders betont und wohltuend vorkommen: so die Komplementärfarben untereinander, die Dur- und Mollakkorde. Untersuchen wir jetzt die objektiven Relationen, welche solchen Empfindungen entsprechen, so finden wir, dass diejenigen Farben oder Töne, deren Assoziation besonders auffällt und gefällt, in ganz bestimmten numerischen Verhältnissen zueinander stehen, und zwar in dem Sinne, dass sich ihre Beziehungen gemeinhin durch kleine, einfache Zahlen ausdrücken lassen. Dass sich Farben und Töne hierin analog verhalten, das hat Victor Goldschmidt in seinem höchst bedeutsamen Buche Harmonie und Komplikation als erster nachzuweisen unternommen2.

Dort wird auch gezeigt3, dass die Komplikation, d. h. die Differenzierung der Intervalle, soweit sie wahrgenommen werden kann, eine bestimmte Grenze — Goldschmidt nennt sie N3, den dritten Grad — nicht überschreitet, welche für Farben und Töne dieselbe ist: Auge und Ohr vermögen feinere Unterschiede nicht wahrzunehmen. Somit scheint es, dass Auge und Ohr nach gleichen Gesetzen funktionieren, und dass es bestimmte Verhältnisse und Proportionen gibt, auf welche beide Organe besonders eingerichtet sind. Aber Goldschmidt hat eine noch viel weitertragende Entdeckung gemacht: er hat gefunden, dass die Gesetze der musikalischen Harmonie mit den Kristallbildungsgesetzen wesentlich übereinstimmen. Die Kristallformen — das Resultat des Zusammenwirkens verschiedener Kraftrichtungen, senkrecht zu welchen die Begrenzungsflächen sich absetzen — sind mathematisch aus ähnlichen4 Formeln abzuleiten, wie die Folge und der Zusammenklang der harmonischen Töne; wieder sind es einfache Zahlenverhältnisse, welche die Flächenausbildung der Kristalle regieren, wieder gibt es Proportionen, denen besondere Wichtigkeit zukommt — die Pinakoidflächen entsprechen der Quint in der Musik, die Basen den Grundtönen — und wieder geht die Komplikation über eine gewisse Grenze — dieselbe, welche wir bei Farben und Tönen trafen — nicht hinaus. Der Grund ist objektiv der gleiche, obwohl qualitativ ein verschiedener:

Die volle Reihe N3 mit ihren neun Flächen, sagt Goldschmidt5, tritt an einem Kristall nur selten auf; meist nur eine Auswahl. Der Grund ist in beiden Fällen der gleiche: die gegenseitige Störung zu sehr benachbarter Kräfte, resp. Bewegungen durch Interferenz. Zu nahe Töne stören einander durch Rauhigkeit im Akkord, in der Folge durch Ineinanderfließen für unsere Empfindung. Bei Kristallen gehen zu sehr benachbarte Flächen durch Rundung ineinander über.

Diese Übereinstimmung ist höchst bedeutsam; die Sinnesempfindungen scheinen denselben Gesetzen zu folgen, welche die Morphologie der Kristalle beherrschen. Dieselben Zahlenverhältnisse sind es, die hier wie dort auftreten, und in beiden, so durchaus heterogenen Gebieten scheint bestimmten Intervallen — der Quint in der Musik ebensowohl als in der Kristallogenese — ein besonderer Wert zuzukommen. Und mit diesen modernen Errungenschaften stehen ältere Entdeckungen im schönsten Einklang; auf anderen Gebieten der Naturforschung war die Wichtigkeit bestimmter mathematischer Verhältnisse schon längst aufgefallen. Dalton erkannte, dass die Verbindungen der chemischen Elemente nach dem sogenannten Gesetze der multiplen Proportionen vor sich gingen. 1859 schrieb Strecker:

Es ist wohl kaum anzunehmen, dass alle hervorgehobenen Beziehungen zwischen den Atomgewichten in chemischen Verhältnissen einander ähnlicher Elemente bloß zufällig sind,

und 1860 bereits wagte es H. Sainte-Claire Deville, folgenden allgemeinen Satz auszusprechen:

La loi des proportions multiples n’existe pas seulement en chimie. Ces rapports simples, qui la constituent, se retrouvent dans les nombres des vibrations des sons qui composent la gamme, ils régissent avec une admirable précision l’arrangement des organes des plantes autour de leur tige et la disposition des faces et des plans de clivage dans les matières régulièrement cristallisées6.

Braun und Schimper sowie die Gebrüder Bravais hatten Zahlengesetze in den Blattzyklen der Pflanzen entdeckt, ähnliche schienen die Formen der Korallen und Echinodermen zu regieren und in den Organen der höheren Tiere zum Ausdruck zu gelangen. Auch auf dem Gebiete der Astronomie sind wiederholt Versuche aufgetaucht, die Naturgesetze Zahlengesetzen einzuordnen man erinnere sich des Titius-Bodeschen Gesetzes und an Zeisings Theorien. An Ansätzen hat es auf keinem Gebiete gefehlt. Aber alle diese Versuche blieben vereinzelt, die vorschnellen Verallgemeinerungen führten zu unhaltbaren Resultaten, und bald wagte es kein ernster Forscher mehr, sich um rhythmische Fragen zu kümmern, wie verlockend sie auch scheinen mochten. Heute liegen die Verhältnisse anders; die Untersuchungen Goldschmidts und J. J. Thomsons namentlich regen dazu an, den längst fallengelassenen Faden wieder aufzunehmen; denn die Übereinstimmung der Resultate jener mit den Aspirationen der älteren Rhythmik beweisen, dass es allerdings einheitliche Grenzen in der Natur gibt; es fragt sich nur, wie beschaffen sie sind? — Die Wiederkehr derselben Zahlenverhältnisse innerhalb der verschiedensten Naturformen ist Tatsache — und zwar eine höchst suggestive Tatsache, aber keine Erklärung; und die früher angenommenen rhythmischen Gesetze, wie dasjenige des goldenen Schnittes (Zeising und Fechner) erwiesen sich als völlig unzulänglich. Heute ist endlich eine Bahn eingeschlagen worden, welche zum Ziele zu führen verspricht: Goldschmidts Komplikationsgesetz besteht jedenfalls bei der Musik und der Morphologie der Kristalle, vielleicht bei der Optik und gewissen organischen Natur- und Kunstformen und sehr wahrscheinlicherweise — wie ich leider erst während des Drucks dieser Zeilen erfahre — auch bei der Gestalt unseres Planetensystems zu Recht7, obwohl das Bestreben des Entdeckers, seine Gültigkeit auf die ganze Natur und Kunst auszudehnen, schwerlich von bleibendem Erfolge gekrönt werden dürfte; dazu ist es gewiss nicht allgemein genug. Aber in allerjüngster Zeit ist ein Mann aufgetreten, der seinen Rahmen bedeutend weiter gespannt hat und voller Kühnheit das Unternehmen wagt, in der gesamten Natur und Kunst in morphologisch-rhythmisches Grundgesetz nachzuweisen — Gustav Wyneken8. Aus dem ungefügten, kaum gestalteten Konglomerat von Gleichungen und Betrachtungen, welche das bisher Veröffentlichte aus seinen Untersuchungen ausmachen, ein klares Bild zu gewinnen, hält schwer. Aber dennoch scheint es, dass der von ihm betretene Weg eine gute Richtung einhält, und manche Spezialuntersuchungen gewähren überraschende Ausblicke. Überdies ist das Gesetz so allgemein und vieldeutig, dass es sich allen durch die Verschiedenartigkeit der Stoffe und Kräfte bedingten Modifikationen mühelos anpassen kann — ein Umstand, der Wyneken vor allen seinen Vorgängern einen unstreitigen Vorzug sichert. Hat Wyneken nun Recht — darüber will ich vorderhand kein Urteil fällen9 —, so lassen sich die Proportionen der Blattzyklen, der Menschengestalt und der verschiedenartigsten Formen der anorganischen Natur, von den Sonnensystemen bis zu den chemischen Verbindungen, aus einem Gesetze begreifen, und die Wiederkehr der gleichen Zahlen auf den verschiedensten Gebieten — eine Tatsache, die sonst mehr erstaunlich als verständlich ist und bisher kurzweg mit dem Prädikat des Zufälligen abgetan wurde — rückte ihrer Erklärung näher. Das letzte Wort hat Wyneken sicherlich nicht gesprochen; die rhythmische Wissenschaft ist kaum geboren, und ihre Methoden sind noch ungewiss; aber die Anfänge sind vielversprechend. Sie sind es, obwohl das rhythmische Material höchst unvollständig und kaum gesichtet ist, und trotz des verhängnisvoll scheinenden Umstandes, dass die Zahlen die wünschenswerte Genauigkeit nicht nur nicht haben, sondern wahrscheinlich nie besitzen werden: denn erstens ist jede Anwendung der Arithmetik auf die Natur nur bedingt gerechtfertigt und mehr oder minder willkürlich, weil, wie Couturat10 sich treffend ausdrückt,

cette application repose sur deux postulats contraires, et implique une Sorte d’antinomie: les objets que l’on dénombre doivent être conçus à la fois comme semblables et comme différents, et tout nombre se compose d’unités distinctes tout ensemble et identiques;

das mathematische Kontinuum ist mit demjenigen der Physik nicht identische11; und zweitens hält die Natur selbst ihre Grenzen nie genau ein; nicht einmal die Gestirne richten sich fehlerlos nach den ihnen von den Astronomen vorgeschriebenen Bahnen, und ebensowenig die Kristalle nach den Forderungen des Goniometers12. Aber Wyneken hat eine sehr glückliche Erklärung dieses Umstandes und zugleich die Mittel angegeben, die Fehler zu korrigieren. Hier kann ich auf seine Auseinandersetzungen nur hinweisen, da eine Wiedergabe derselben uns zu weit abführen würde13.

Auch sonst mag ich auf die Ergebnisse der modernen Rhythmik nicht näher eingehen, weil das ganze Gebiet noch viel zu wenig begangen ist, um sichere Aussagen über Spezialfälle zu gestatten. Vieles von dem bisher Behaupteten mag falsch, Wichtiges noch nicht entdeckt sein. Aber suchen wir nun das Allgemeine und das wenige Erwiesene kurz zusammenzufassen und mit einem umfassenden Blicke zu überschauen, so sind wir zu folgender Aussage berechtigt: es gibt mathematische Verhältnisse, welchen in der ganzen Natur eine hervorragende Bedeutung zukommt — so die multiplen Proportionen, gewisse geometrische Progressionen usw.; dieselben Verhältnisse finden sich innerhalb der heterogensten Gebiete, in der organischen wie anorganischen Welt, und gelangen daselbst häufig in Form derselben Zahlen zum Ausdruck, was höchst auffällig ist. Die Wesensgleichheit der Gesetze der Kristallbildung mit denen der musikalischen Harmonie steht fest, und dasselbe trifft wahrscheinlich (nicht sicher) auch für die Farben zu. Kristalle und Planetensysteme sind von einem höheren Gesichtspunkte aus höchst ähnliche Gebilde14, und die Verhältnisse der Gestirne zueinander erweisen sich unter Wynekens Voraussetzung — welche viel für sich hat — als von ähnlichen Rhythmen regiert, welche auch in der Menschengestalt und den Kunstformen Gültigkeit besitzen. Endlich deuten die mathematischen Zusammenhänge synthetischen Charakters, welche J. J. Thomson zwischen dem periodischen Systeme der Elemente, dem Spektrum und den Anordnungsmöglichkeiten der Atome entdeckt hat15, so wie das Wiederkehren der gleichen Proportionen innerhalb der verschiedensten Zweige der Organismenwelt nicht nur, sondern auch der Kunst — mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass hier ein notwendiges, kein zufälliges Zusammentreffen vorliegt. Wie sehr es den Daten auch an Genauigkeit und Beweiskraft fehlen mag: es ist schlechterdings nicht abzuleugnen, dass gewissen mathematischen Verhältnissen, welche in konkreten Fällen natürlich Zahlenverhältnisse sind, eine größere Bedeutung zukommt als anderen.16

Diese Vorstellung ist nichts weniger als neu: sie gehört sogar zu den Elementarvorstellungen der Menschheit, zu denjenigen, welche sich bei allen Völkern, ohne Unterschied der Rasse, ausnahmslos wiederfinden: von den Babyloniern ab bis heute und auf dem ganzen Erdball herrscht ein unausrottbarer Glauben an die Bedeutung gewisser Zahlen, welcher natürlich desto fester wurzelt und um so geheimnisvollere Formen annimmt, je weniger seine objektive Berechtigung nachzuweisen ist. Die antike Zahlenharmonik war — bei den älteren Pythagoreern wenigstens eine wirkliche Wissenschaft; aber auch dort gewannen die Zahlen mit der Zeit eine mystische Bedeutung, und in dieser Form lebten sie von den Neoplatonikern und Kabbalisten bis zu den Astrologen und Alchemisten des Mittelalters und den Theosophen und Okkultisten unserer Tage weiter fort. Bei den einen war es die 7, bei anderen die 9, welcher Hauptverehrung gezollt wurde; die Zahlen wechseln von Volk zu Volk, von Sekte zu Sekte; überall aber findet sich der Glaube an die Zahl an sich.

Heute erregen diese Lehren nur mehr ethnographisches oder kulturhistorisches Interesse. Sobald von Zahlen die Rede ist, denkt jedermann sofort an Zahlenaberglauben, und die antike Rhythmik wird mit der späteren Zahlenmystik ohne Umstände identifiziert. Die Epigonen haben, wie es zu gehen pflegt, ihren Schatten auf die Klassiker zurückgeworfen. Vergegenwärtigen wir uns aber, was die älteren Pythagoreer wirklich gelehrt und gewollt17, dann stellt sich uns ein wesentlich anderes Bild dar. Die Pythagoreer waren zunächst und vor allen Dingen Naturforscher, Physiker — erst in zweiter Linie Philosophen; Naturforscher freilich in einem von dem heute üblichen sehr verschiedenen Sinne. Sie postulierten die Einheit der Gesetze des Universums. Die Welt strebe nicht nach Harmonie, sondern sie sei, ihrem Wesen nach, Harmonie18; diese aber werde durch Zahlenverhältnisse bedingt — eine Erkenntnis, die ihnen die Musik erschlossen hatte. Und nun gingen sie als reine Mathematiker weiter vor; ohne sich um die Empirie zu kümmern, setzten sie, bloß ihrem Harmonieinstinkte folgend, bestimmte Proportionen als die wesentlichsten fest, und von diesen forderten sie a priori, dass sie in der ganzen Natur wiederzufinden seien. Was bei der Musik zu Recht besteht, das gälte auch für die Sterne — ja sie zögerten nicht, a priori ein nie gesehenes zehntes Gestirn, den Antichthon, anzunehmen, um die Parallele mit der Musik vollständig zu machen — und zuletzt gelangten sie zu dem weit über den Ausgangsort transzendierenden Schluss: auch die Seele sei Zahl. Hiermit waren der Mystik allerdings Türe und Tore geöffnet, und was in späteren Zeiten von den Pythagoreern fortlebte, war — trotz Plato — eben diese mystische Vorstellung.

1 Vgl. Auguste Forel, Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen, München 1901, p. 19. — Derselbe Autor hat durch höchst scharfsinnige Experimente nachgewiesen (z. T. in seinen sensations des insectes, 1900 bis 1901 veröffentlicht), dass die Art, wie Insekten von der Außenwelt Kenntnis erlangen, in vielen, ja in den meisten Hinsichten von der unsrigen toto genere verschieden ist.
2 Berlin, Springer 1901, p. 73 ff. Goldschmidts Ansicht ist bisher noch wenig durchgedrungen; die meisten Physiker dürften heute noch Lord Kelvins Machtspruche zustimmen: no relation exists between harmony of colours and harmony of sounds (the six gateways of knowledge). In der Tat hat kürzlich erst Poincaré (La valeurde la science, 1905, p. 205 ff.) auf die völlige Ungleichartigkeit in mathematischer Hinsicht von Spektrum und Tonskala hingewiesen. Dennoch scheinen mir alle diese mathematischen und physikalischen Erwägungen nichts gegen Goldschmidt zu beweisen: jene handeln von den mathematischen Relationen, welche objektiv den möglichen Empfindungen entsprechen, an sich; dieser bloß von denjenigen, welche unsere Sinne tatsächlich wahrnehmen, und das sind bekanntlich längst nicht alle. Daher können Farbenakkorde, wie sie das Auge wahrnimmt, sehr wohl Verhältnisse aufweisen, welche der Physiker, der auf die immanente Gesetzmäßigkeit der Fraunhoferschen Linien acht hat, gar nicht nachzuweisen vermöchte. Überdies stellt Goldschmidt selbst als erste Grundeigenschaft der harmonischen Reihen (p. 59) das irrationale Verhältnis der Grundtöne, d. h. die Gleichgültigkeit des Grundtons in bezug auf die Schwingungszahl auf und postuliert nur das rationale Verhältnis der harmonischen Töne zum Grundton und untereinander. Dasselbe gilt um so mehr beim Vergleiche von Farben mit Tönen: da erstere Äther-, letztere Luftwellen entsprechen, so sind die Voraussetzungen (metaphorisch gesprochen, die Grundtöne) selbstverständlich inkommensurabel. Aber die Komplikationen der Farben und Töne, so wie sie die Sinne wahrnehmen, können trotzdem ähnlichen Gesetzen folgen; und insofern scheint mir Goldschmidts Argumentation durchaus stichhaltig zu sein. — Bemerkung zur 2. Auflage, 1920: seither hat Goldschmidt seine Beobachtungen und Berechnungen in ein umfassendes System gebracht. Zahllose Musikstücke, zahllose malerische Kunstwerke hat er analysiert. Zumal sein monumentales, soeben in Heidelberg erschienenes Werk über die Gesetze der Malerei verdient weiteste Beachtung.
3 l. c. 83.
4 Ich sage ähnlich, obwohl die Abweichungen ganz außerordentlich geringfügige sind. Denn auch hier müssen wir voraussetzen, dass das gleiche Gesetz in verschiedenen Erscheinungsformen verschiedene Färbung annimmt — gerade wie bei dem Vergleiche der Farben mit den Tönen. Ich glaube, dass Goldschmidt in bezug auf Kristalle und Musik Bleibendes und Endgültiges geleistet hat.
5 l. c. 24.
6 Des lois de nombre en chimie, leçon professée à la société chimique de Paris le 17 Février 1860.
7 Siehe Über Harmonie im Weltraum, ein Beitrag zur Kosmogonie, veröffentlicht im letzten Heft 1905 der Annalen für Naturphilosophie.
8 Der Aufbau der Form im natürlichen Werden und künstlerischen Schaffen. T. I. Ein neues morphologisch-rhythmisches Grundgesetz. Dresden, Kühtmann 1904. Das Grundgesetz selbst wird S. 226 ff. besprochen. Ich muss den Leser bitten, das Buch selbst zur Hand zu nehmen, da mir der Raum nicht gestattet, näher auf Wynekens Anschauungen und Beweisführungen einzugehen.
9 Denn an Exaktheit, Folgerichtigkeit und Überzeugungskraft der Beweisführung übertrifft Goldschmidt Wyneken ohne Frage. Wenn ich trotzdem letzterem den Vorzug einräume, so geschieht dies aus prinzipiellen Gründen: Wynekens Standpunkt gestattet allgemeinere Ausblicke, und dieser Umstand ist — wie wir später, sehen werden — von solcher Wichtigkeit. dass die Nachteile im Einzelnen durch diesen einen Vorteil reichlich aufgewogen werden.
10 l. c. 520.
11 Siehe Poincaré: La science et l’hypothèse l. c.
12 Natürlich; denn die Grenzen sind nur die Wirkungen der verschiedenen im Spiele befindlichen Kräfte, keine Tatsachen, welche an ich Gültigkeit besäßen. Ein Kristall, dessen Wachstum ganz ungehindert verlief, weist stets die theoretisch geforderten Winkelwerte auf. Dieser Fall ist aber selten, und gewöhnlich spielen äußere Umstände mit. Ebenso könnten sich die Planeten nur dann genau an ihre Bahnen halten, wenn alle fremden Einflüsse ausgeschaltet wären und die Gravitation zur Sonne zu allein im Spiele wäre. Es kann nicht genug betont werden — ich greife hier dem Folgenden vor —, dass die Grenzen, mit denen sich die Rhythmik beschäftigt, stets aus empirischen Ursachen erklärt werden können und müssen, welche für jeden Fall im Prinzip verschieden sind, und dass sie durchaus keine metaphysische Realität besitzen.
13 Vgl. l. c. 40 (Prinzip der Mehrdeutigkeit), 71, 92, 95 (Gliedansatz bei einer Form kein Punkt, sondern eine Unendlichkeit von Punkten), 96, (gruppenweise Anhäufung der Gliederungspunkte), 172, 175 usw. Das Buch ist so schlecht disponiert, dass ein einzelner Hinweis ganz ungenügend wäre.
14 Schon im I. Kapitel wiesen wir darauf hin; der Vergleich der Kristalle mit Sonnensystemen findet sich bei den verschiedensten Autoren. Nun hat Victor Goldschmidt in seiner letzten, bereits zitierten Publikation Über Harmonie im Weltraume den Nachweis unternommen, dass unser Sonnensystem tatsächlich — im Gegensatz zu allen früheren Annahmen — auf analoge Weise entstanden ist, wie ein Kristall erwächst: die Planeten bildeten sich aus konzentrischen Schalen heraus, welche die erste Verdichtungsetappe eines ursprünglich gleichmäßig-gasförmigen Balles bedeuteten; diese Schalen verdichteten sich ihrerseits — aus in der genannten Schrift näher auseinandergesetzten Gründen — zu Punkten (den späteren Planeten samt Zentralkörper), welche Goldschmidt Verdichtungsknoten nennt und deren Ort (d. h. deren gegenseitiger Abstand sowie derjenige von der Sonne) durch das Gesetz der Komplikation bestimmt wird. Anstatt dass also die tatsächliche Gestalt unseres Systems das mehr oder weniger zufällige Resultat komplizierter und schwerverständlicher Bewegungen wäre — eine Auffassung, welche trotz ihres handgreiflichen Widersinns gleichwohl alle bisherigen exakt sein-wollenden Kosmogonien beherrscht hat —, hätte sie sich mit der selben unbedingten gesetzmäßigen Notwendigkeit aus der Prämisse einer sich langsam abkühlenden Gassphäre von bestimmter chemischer Zusammensetzung ergeben, wie ein Kristall in unverbrüchlich vorherbestimmter Form entsteht. Die Form unseres Planetensystems ist also der Ausdruck einer inneren Gesetzmäßigkeit, genau wie die Form eines Minerals. Um wieviel einfacher, plausibler, natürlicher und darum auch fruchtbarer diese Theorie schon jetzt, wo sie kaum noch begründet ist und das Einzelne noch sehr viel zu wünschen übriglässt, erscheint, als die Kant-Laplacesche, diejenige Hervé Fayes und alle die anderen, von denen bisher keine den wirklichen Tatbestand restlos zu erklären vermochte — darauf kann ich hier nicht eingehen, möchte aber alle Forscher, dir sich für Kosmogonie interessieren, ausdrücklich auf Goldschmidts Arbeit hinweisen. Uns interessiert vorläufig nur der eine hochwichtige Umstand, dass es nunmehr möglich ist, nicht nur vom erkenntniskritischen, sondern auch vom exakt naturwissenschaftlichen Standpunkte aus Kristalle und Planetensysteme mit einem Blicke zu überschauen — zu begreifen, dass ihre scheinbar unermeßliche Verschiedenheit nur eine Funktion der absoluten Größe, oder allgemeiner, der menschlichen Perspektive ist: vielleicht erschiene ein Kristall solchen Wesen, für deren Auge ein Millimeter der Entfernung des Sirius von der Erde entspräche, wirklich als in rasendem Schwung, in stereotypem Fluge rotierendes Planetensystem? — Bewegung und Ruhe sind ja schlechthin relative Begriffe — was wissen wir darüber, ob die Starrheit des Kristalls aus anderem Gesichtswinkel nicht als ewiger Fluss erschiene? Und sollte es nicht möglich sein — da wir die Kristalle zwecks ihrer Berechnung in ein System kreisender Kräftezentra auflösen —, das Umgekehrte zu vollführen: die Planetensysteme krystallographisch darzustellen, so dass den verschiedenen Planeten verschiedene Flächen entsprächen? Und sollte es sich dabei nicht herausstellen, dass das Gesetz der Rationalität der Indices auch bei den Sternen gültig ist? Es wäre jedenfalls ein interessanter Versuch.
15 d. h. konkret studiert hat Thomson bloß polar elektrisierte Körper — floating magnets. Aber unter der Voraussetzung, dass alle Materie aus positiven und negativen corpuscles aufgebaut ist, dürfte das Beispiel allerdings typisch sein.
16 Vgl. hierzu auch meinen Aufsatz Die begrenzte Zahl bedeutsamer Kulturformen in Philosophie als Kunst, Darmstadt 1920. (Nachtrag zur 2. Auflage.)
17 Vgl. z. B. Wilhelm Bauer Der ältere Pythagoräismus, Bern 1897, und vor allem E. Chaignet Pythagore et la Philosophie pythagoricienne, Paris 1873. Bd. II.
18 Chaignet II, 101.
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME