Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

III. Harmonices Mundi

Subjekt der Erkenntnis

Suchen wir jetzt denselben Tatbestand in bezug auf die Grundvoraussetzung aller bisherigen Philosophie, das menschliche Ich, nachzuweisen:
Auch hier gibt es verschiedene, untereinander gleichberechtigte Betrachtungsarten. Zunächst eine analytische: das Ich ist mir empirisch gegeben, also Objekt der Erkenntnis; analysiere ich dieses empirische Bewusstsein bis zur Möglichkeitsgrenze, so finde ich als letzten Quotienten, als Atom des Bewusstseins, die Einzelempfindung — falls die Frage vom Standpunkte der Physiologie aus gestellt war —, die Einzelvorstellung, falls der Ausgangspunkt ein rein psychologischer war. Aus diesem Gesichtswinkel ist der einzelne Bewusstseinsinhalt, nicht dessen apperzeptive Synthese, das Primäre; das Ich lässt sich in diesem Falle entweder als summe von Empfindungen oder als Folge von Vorstellungen in der Zeit auffassen; seine Einheit im Sinne der Erkenntnistheorie ist bei analytischer Fragestellung schlechterdings nicht zu begreifen. Hierher gehört die Psychologie Wundts, Ernst Machs, Cliffords, Taines und anderer. Ernst Mach hat vollkommen recht, wenn er das Ich von seinem Standpunkte aus für eine Illusion erklärt1, und alle Angriffe in dieser Hinsicht, die er deswegen von Philosophen hat ausstehen müssen, sind durchaus unberechtigt. Nur irrt Mach, wenn er wähnt, die erkenntniskritische Einheit des Ich wäre überhaupt in jedem Falle Illusion; denn es gibt auch andere Betrachtungsmöglichkeiten. Anstatt von der Einzelempfindung, kann ich mit gleichem Rechte von dem Zusammenhange der Bewusstseinsinhalte ausgehen; dieser allein ist mir sogar unmittelbar gegeben, bildet die Grundtatsache der inneren Erfahrung. In der Tat, wie könnten sich die Empfindungen überhaupt zu Vorstellungen summieren — wie die analytischen Psychologen es verstehen —, wie könnten wir uns der Kontinuität unseres Erlebens in der Zeit überhaupt bewusst werden, wenn die Empfindungen und Vorstellungen nicht einem organischen Zusammenhange angehörten? Wie wäre sonst auch nur der abstrakte Gedanke, geschweige das lebendige Bewusstsein eines beharrenden Ich möglich? — Die Erinnerung bedeutet doch das Band, welches die verschiedenen Bewusstseinsinhalte zusammenhält; sie bewirkt die erfahrungsmäßige Einheit des Bewusstseins, und die Erinnerung lässt sich aus analytischem Gesichtswinkel nicht einmal begreifen, geschweige denn erklären — obschon sie ein Faktum im strengsten empirischen Wortsinne ist. Bei solcher synthetischer Fragestellung ist die Einheit des Ich nicht Illusion, sondern Tatsache der Erfahrung, die Grundtatsache der Psychologie, wie dieses Hans Cornelius2, der Begründer dieser Richtung, sehr schön ausgeführt hat. Die Atome der erkenntniskritischen Psychologie (wie man die Corneliussche sehr wohl bezeichnen könnte), — die Erinnerung, die Erwartung, die Vorbereitung usw. — bedeuten für die analytische Psychologie unerreichbare Synthesen, ja sie wären aus ihrem Gesichtswinkel als Tatsachen einfach nicht vorhanden. Dennoch irrt Cornelius, wenn er ihr deswegen die Existenz streitig machen will3; er verfällt in denselben Fehler, wie jene, wenn sie seine Psychologie nicht anerkennt: beide bedeuten gleichberechtigte Betrachtungsarten. Und im selben Maße irrt er, wenn er glaubt, durch seine Psychologie die Erkenntnistheorie ersetzen zu können; so weit reicht ihr Gebiet nicht.

Für die analytische Psychologie ist das Ich Objekt der Erkenntnis, und dieses Ich erscheint erschöpft in den Inhalten des Bewusstseins, den Empfindungen und Vorstellungen. Das Subjekt der Erkenntnis, die Form der Inhalte, bleibt außerhalb der Fragestellung. Für die synthetische Psychologie, welche von dem Zusammenhange der Bewusstseinsinhalte ausgeht, ist das Ich sowohl Objekt, als auch Subjekt der Erkenntnis. Objekt, da sie die Erfahrung und nur sie befragt, Subjekt, insofern als untersucht wird, wodurch der Zusammenhang der Erfahrung im Bewusstsein — mithin die formale Seite — bewerkstelligt wird.

Indem wir uns überzeugen, sagt Cornelius4 treffend, dass das objektive Ding identisch ist mit dem gesetzmäßigen Zusammenhang der Erscheinungen, die es unseren Sinnen darbietet, zeigt sich, dass der Gegensatz objektiver und subjektiver Faktoren unserer Erkenntnis der Dinge durchaus nicht in dem Sinne besteht, dass unsere subjektiv bedingten Wahrnehmungen für die Erkenntnis des objektiven Tatbestandes hinderlich wären: gerade aus diesen subjektiven Daten setzt sich vielmehr dasjenige zusammen, was wir als das objektiv Seiende erkennen.

Hier handelt es sich, kurz gesagt, um den formalen Zusammenhang des Materialen, während die analytische Psychologie nur das Materiale allein in Erwägung zieht. Aber die formale Seite des Zusammenhangs lässt sich gleichfalls für sich studieren, ebenso wie das für die materiale der Fall war: das ist das Bereich von Kants Transzendentalphilosophie, der Erkenntniskritik. Über diese kann Cornelius von seinem Standpunkte aus nicht urteilen; sie bildet eine Wissenschaft für sich. Betrachte ich das Objekt der Erkenntnis mit Kant als mit dem Erkennen des Objektes identisch, so ist die Aussicht eine völlig verschiedene: hier wird der Zusammenhang von Subjekt und Objekt vom Standpunkte des erkennenden Subjektes allein ins Auge gefasst; die Denkformen werden unabhängig von ihrem Inhalte studiert, das Ich ist nicht mehr der Zusammenhang der Bewusstseinsinhalte, sondern die reine Form des Bewusstseins, die Bedingung der Erfahrung. Die Perspektive desselben Gebietes ist eine andere. So entspricht demselben Untersuchungsgebiete — dem menschlichen Ich — ein Dreifaches: frage ich nach den Daten des Bewusstseins — die analytische Psychologie; nehme ich den Zusammenhang dieser Daten zur Voraussetzung — die Psychologie von Cornelius. Und betrachte ich diesen Zusammenhang von einer Seite, derjenigen des erkennenden Subjektes — die Kritik der reinen Vernunft.

So sehen wir, dass es auch in betreff der inneren Erfahrung drei selbständige Standpunkte gibt, welche sich ergänzen, anstatt sich auszuschließen, von denen jeder ein besonderes Gebiet überschaut, welches den anderen verschlossen bleibt. Sollten sie den drei Disziplinen entsprechen, welche wir in bezug auf die Außenwelt unterschieden? — Dass die analytische Psychologie der Empirie entspricht, die Erkenntnistheorie der Transzendentalphilosophie, leuchtet von selbst ein. Liegt nun die synthetische Psychologie am Ende im Gebiete des Überganges, der Grenzscheide zwischen Psychologie und Metaphysik? — Kant sagt, der

Übergang sei die Lehre, welche auf empirischen Prinzipien (als das Materiale) ruht, deren Verbindung aber (mithin das Formale) a priori begründet ist.

Dieses ist ganz der Fall von Cornelius’ Psychologie: sie fußt auf der Erfahrung, den Daten des Bewusstseins, deren Verbindung aber ist a priori, denn der Zusammenhang der Bewusstseinsinhalte ist einformaler; das Formale aber kann uns keine Erfahrung geben, wir müssen es selbst produzieren. Doch wir können der Frage noch näher rücken; Kant sagt:

Der Schematismus der Verstandesbegriffe ist der Vorhof (atrium) des Überganges von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik. Ein Augenblick, in welchem Metaphysik und Physik beide Ufer zugleich betreten; styx interfusa.

In dem betreffenden Kapitel der Vernunftkritik schreibt Kant in der Tat, nachdem er die reinen Verstandesbegriffe behandelt und die Frage aufgeworfen hat, wie solche auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden könnten, was an sich keineswegs verständlich sei:

Nun ist klar: dass es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andrerseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muss, und die Anwendung der ersteren auf die letztere möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muss rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andrerseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema. Wie sind nun diese Schemen? — Das Schema der Größe ist — ich zitiere Kant — die Zahl; das Schema der Kausalität — das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt5.

Das Schema der Wirklichkeit ist das Dasein in einer bestimmten Zeit, dasjenige der Notwendigkeit das Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit usw. usw. Der Abschnitt von dem Schematismus der Verstandesbegriffe bedeutet den Mittelpunkt der Vernunftkritik6; dieselben Schemen sind aber zugleich die letzten Daten der synthetischen Psychologie, der Psychologie als Erfahrungswissenschaft, wie sie ihr Urheber nennt. Hier berührt sie das Herz der Transzendentalphilosophie, während sie am anderen Ufer im Zentrum der Empirie fußt. So erkennen wir nunmehr mit absoluter Sicherheit, dass es auch in betreff der inneren Erfahrung eine Grenzdisziplin gibt, welche zwischen Metaphysik und Empirie die Scheidewand bedeutet.

Wir haben eine wichtige Einsicht gewonnen: innerhalb aller Wissenschaft — behandle sie das menschliche Ich oder die Außenwelt — gibt es nicht nur je eine empirische und eine transzendentale Betrachtungsmöglichkeit, welche sich gegenseitig ergänzen, ohne sich zu berühren: es gibt auch eine Grenzdisziplin, welche zwischen beiden genau die Mitte einhält, beiden Seiten zugänglich ist, aber doch ein völlig selbständiges Gebiet beherrscht; das Gebiet des Übergangs, wie Kant es nannte. Und jetzt sind wir zugleich an dem Punkte angelangt, von welchem aus wir die einheitlichen Verhältnisse in der Natur, mit denen wir zu Beginn des Kapitels bekannt wurden, und zugleich das Dilemma verstehen können, dass weder die Mathematik noch die Empirie sich mit ihnen auseinanderzusetzen vermochte.

Unser Gedankengang war bis hierher folgender: wir gingen von dem gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Ich und Außenwelt aus, mit dem sich der Übergang beschäftigt. Anstatt aber diesen Zusammenhang von der Seite des erkennenden Subjektes zu betrachten und von der formalen Einheit des Ich als Bedingung der Erfahrung aus weiterzuschließen, suchten wir ihm von der anderen Seite beizukommen, indem wir die formale Einheit des Ich als Funktion der formalen Einheit des Universums betrachteten. Anstatt uns von der mittleren Position, welche der Übergang einnimmt, in uns selbst zurückzuziehen, strebten wir, dieselbe Distanz zwischen Subjekt und Objekt einhaltend, dennoch die transzendentale Staffel zu erklimmen und somit einen kosmischen Standpunkt zu erreichen, welcher Natur- und Denkgesetze gemeinsam zu überblicken gestattete. Dazu diente uns folgende Überlegung: der Realist sagt, die Naturgesetze gelten unabhängig von dem Erkennen; Kant sagt: der Verstand schreibt der Natur seine Gesetze vor. Wir schlossen anders: gegeben ist uns der gesetzmäßige Zusammenhang zwischen Ich und Außenwelt; dieselben Gesetze, welche in der ganzen Natur gelten, regieren auch das Denken (ob, weil ich sie denke [Kant], oder weil sie sind [Realisten], bleibt außerhalb der Fragestellung), und so unternahmen wir den Versuch, aus der Funktion (Menschengeist) die Grundgleichung zu integrieren. Die Möglichkeit dieses Versuches wurde prinzipiell dargetan. Nachdem wir die formale Einheit des Universums zur Grundvoraussetzung angenommen hatten, lautete unsere erste Frage: welches sind die reinen Formen des Universums? Sie befindet sich genau auf dem Niveau von Kants Vernunftkritik. Kant fragt, von der Einheit des Ich ausgehend, nach den reinen Formen der Erkenntnis; die Antwort ist bekannt. Wir, von der Einheit des Universums ausgehend, fragen allgemeiner nach den reinen Formen des Geschehens7. Die Antwort lautet dahin, dass alles Geschehen nach mathematischen Gesetzen verläuft — auch das Denken, vom kosmischen Standpunkte ein Spezialfall des Weltgeschehens. Die Gesetze der Mathematik bedeuten recht eigentlich die Möglichkeiten und Bedingungen des Geschehens. Aber Weiteres konnte uns der transzendentale Standpunkt nicht mitteilen: die Möglichkeiten der Mathematik sind unendlich, die Wirklichkeiten der Natur sind begrenzt. Hier — zwischen Mathematik und Empirie — klafft ein Abgrund, welchen keine Seite zu überschreiten vermag. Da müssen wir uns unserer Erkenntnisse in betreff des Übergangs erinnern: die reinen Verstandesbegriffe sind unmittelbar keiner Übertragung auf die Erscheinung fähig, noch die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft auf die Physik; aber es gibt eine Grenzdisziplin, welche beide Ufer verbindet, auf beiden fußt — die synthetische Psychologie, deren letzte Instanz die transzendentalen Schemen der Vernunftkritik, deren nächstliegendes Material die Daten der Sinne bedeuten — und die Kräftelehre der Physik, welche einerseits auf der Erfahrung, anderseits auf den reinen Denknotwendigkeiten fußt. Gibt es nicht auch für unsere Philosophie einen solchen Übergang — einen Steg, der die reine Mathematik mit der reinen Empirie verbindet? Es gilt, die richtige Problemstellung zu finden. Unsere transzendentale Frage lautet: welches sind die Formen des Geschehens? — und die Physik handelt offenbar von den Tatsachen der Natur. Zum Übergang aber müssen wir folgende Frage aufwerfen: lässt sich die formale Einheit des Universums, deren Existenz wir in den reinen Formen des Weltgeschehens schon nachzuweisen versuchten, nicht in den Grenzen, innerhalb welcher es sich bewegt, wiederfinden? Gibt es einheitliche Grenzen in der Natur? — Hier haben wir die Verbindungsbrücke erreicht; diesseits liegt die Mathematik, jenseits die Physik. Jene behandelt das Mögliche, das Grenzenlose, diese das Wirkliche, das Begrenzte. Die Grenzen selber aber bilden das Gebiet der Rhythmik.

Hiermit haben wir den Standpunkt erklommen, von welchem aus wir die Zahlengesetze, deren Tatbestand wir uns schon vergegenwärtigten, verstehen werden. Um aber einen schnellen Überblick über den zurückgelegten Weg zu ermöglichen, will ich zuerst die Reihe der Problemstellungen, welche für unsere Betrachtungsart in Frage kamen, in ihrem Verhältnis zur Kantischen Philosophie in Form eines Schemas zusammenstellen8.

Die Rhythmik — so erkennen wir jetzt deutlich — beherrscht, ebenso wie alle anderen ihr entsprechenden Grenzdisziplinen, ein völlig selbständiges Gebiet, auf welchem weder Mathematik noch Physik uneingeschränktes Stimmrecht besitzen. Lange mussten wir bei diesem Nachweise verweilen, denn das Ansehen der Rhythmik war bisher noch sehr gefährdet; ihr Schicksal ist nicht unähnlich demjenigen der Metaphysik, bevor die fundamentale Frage: wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? durch Kant entschieden war. Jetzt steht fest, dass die Rhythmik, als die Lehre von den Grenzen der Natur in formalem Verstande, im Prinzip möglich ist. Die Existenzfrage ist erledigt. Nun gilt es, etwas tieferen Einblick in ihre Methode zu gewinnen.

Zunächst braucht es uns jetzt, wo wir die Grenzstellung der Rhythmik kennen, nicht mehr zu wundern, dass dieselben Zahlenverhältnisse sich in den verschiedensten Gebieten wiederfinden. Wenn das Weltgeschehen mathematischen Gesetzen folgt, wenn auch die Qualitätsdifferenzen — wie wir sahen — quantitativen oder formalen objektiven Unterschieden entsprechen, so wird uns die Analyse des Konkretgegebenen immer auf Zahlen bringen müssen, denn die Algebra — das Allgemeine — kommt im Besonderen als Arithmetik zum Ausdruck; und diese Zahlen werden in den heterogensten Gebieten übereinstimmen, falls die Bildungsgesetze es tun. Sie erscheinen nur darum so unheimlich, dass man zu allen Zeiten an mystische Zusammenhänge geglaubt hat, weil sie letzte Tatsachen, Schlussresultate der Analyse darstellen, welche über den Weg ihres Entstehens schweigen, über welche man auf analytischem Wege nicht hinauskann. Aber sie werden verständlich, sobald wir das allgemeine Gesetz kennen, dessen aktuellen Ausdruck sie bedeuten. Ein Beispiel aus der Chemie: es war seit langem bekannt, dass kein Element eine höhere Valenz besitzt, als diejenige, welche durch die Zahl 7 bezeichnet wird, dass die 7 also eine Art Grenze, einen kritischen Punkt innerhalb der Verbindungsmöglichkeiten der Atome markiert. Diese Tatsache war keiner weiteren Erklärung fähig, und es blieb einem bloß die Wahl, sich entweder bei dem Tatbestande zu beruhigen, oder aber — wie prophetische Geister es gewiss getan haben werden — der mystischen Bedeutung der 7 nachzusinnen. Da zeigte J. J. Thomson — es war, wenn ich nicht irre, in den achtziger Jahren —, dass ein System ineinander verschlungener, in schneller Bewegung befindlicher Wirbelringe nur dann stabil ist, wenn weniger als 7 Ringe beteiligt sind; andernfalls löst sich das einheitliche System in ein Doppelsystem auf. Die Deduktion war rein mathematisch, also apriorisch; und ob die betreffenden Formeln nun den chemischen Tatbestand selbst ausdrücken, oder nur dessen mechanisches Äquivalent bezeichnen — jedenfalls war jetzt eine allgemeine Erkenntnis synthetischen Charakters gewonnen, unter welcher sich der Spezialfall der Chemie begreifen ließ; der Zauber der 7 war geschwunden. Und ebenso werden gewiss die Zahlenverhältnisse innerhalb Mendelejew periodischen Systems, welche zurzeit noch unverständlich sind, ihre Erklärung finden, wenn die Gleichungen Thomsons, von denen oben die Rede war, weitergeführt sein und die Spektraluntersuchungen Sir Norman Lockyers an den Sternen9, welche auf ähnliche Zusammenhänge hinweisen, einen synthetischen Ausdruck gewonnen haben werden. Wir sehen, dass die reine Analyse, oder, was in diesem Falle dasselbe besagt, die reine Empirie, zwar auf die Zahlen führt, aber völlig außerstande ist, ihnen einen verständlichen Sinn unterzulegen. Dieses kann erst durch das Hinzutreten eines synthetischen, mithin nicht-empirischen Elementes geschehen.

Aber welcher Art ist dieses nicht-empirische Element? — Es ist die Spontaneität, das freie Schaffen des Menschengeistes, wie es uns — in seiner elementarsten und sozusagen wissenschaftlichen Form — in Gestalt der Ansätze zu den Gleichungen der Mathematik entgegentritt, welche uns die Erfahrung nie und nimmer verraten kann. Die Erfahrung eröffnet uns den Ausdruck der Naturgesetze innerhalb von Raum und Zeit; die Gesetze müssen wir selbst produzieren.

Dieser spontanen Betätigung des Menschengeistes hat die Wissenschaft von je ihre größten Fortschritte verdankt. Dass zwischen den Zahlenwerten der Atomgewichte regelmäßige Beziehungen beständen, wusste schon Gmelin; aber die sogenannten Äquivalente jenes Forschers waren nicht imstande, ein befriedigendes Bild dieses Umstandes zu geben. Da änderte man die Methode; man ging von Avogadros Regeln aus, und die Verhältnisse wurden übersichtlicher; bis zuletzt Lothar Meyer und Mendelejew das heute anerkannte System der chemischen Elemente aufstellten. Die Methode war es, wohlbemerkt, die gewechselt wurde, die Daten der Erfahrung blieben stets die gleichen; die Methode ist aber von keiner Empirie abhängig, sie ist ein rein menschliches Produkt, welches die Erfahrung lenkt, anstatt ihr untertan zu sein10. Auch die Astronomie stünde heute noch da, wo Hipparch sie verließ, wenn die Erfahrung allein befragt worden wäre: das geozentrische Sonnensystem der Alexandriner, welches erst mit dem Stern Tycho de Brahes unterging, entsprach genau der Erfahrung — denn wir sehen doch die Bewegung der Sonne, nicht diejenige der Erde; überdies war es mathematisch richtig, denn Sonnenfinsternisse ließen sich unter der Voraussetzung, dass die Erde den Mittelpunkt bilde, auf die Sekunde vorausberechnen. Und da es in der Welt überhaupt nur relative Bewegungen gibt, da es schlechterdings unmöglich ist, zu entscheiden, welche von zwei Auffassungen in betreff der relativen Bewegung oder Ruhe innerhalb eines Systems die richtige sei11, so wäre man, auf die Erfahrung allein angewiesen, nie über Hipparch hinausgelangt — und zwar trotzdem die Gleichungen unendlich verschränkt waren und das Einfachheitsbedürfnis des Menschen nur wenig befriedigten. Da trat ein herrlicher Genius auf, Nikolaus Kopernikus; selbstherrlich, seinem schöpferischen Instinkte folgend, nicht durch Forschung darauf hingewiesen, verlegte er den Mittelpunkt unseres Systems von der Erde in die Sonne — und auf einmal ward Klarheit am Himmel: die Gleichungen wurden einfach und übersichtlich, die verschlungenen Bahnen der Gestirne lösten sich zu harmonischem Kreislaufe auf, und dem Einheitsbedürfnisse des Geistes war Genüge getan!

Was Kopernikus tun musste, um auf einem einzigen Gebiete die einfache Urform aus dem Wirrsal des unmittelbar Gegebenen herauszuwickeln, das ist umsomehr vonnöten bei der höheren Aufgabe, die formale Einheit innerhalb der Grenzen in der ganzen Natur darzustellen. Die Verhältnisse, die uns entgegentreten, sind meist verschränkt, von einem Gesichtspunkte aus nicht zu überblicken. Aber jede Gleichung — gerade wie beim Sonnensystem — kann aus mehreren Ansätzen verstanden werden; an uns ist es, den richtigen zu wählen.

Auf diese Weise erklärt sich das, was ich oben als gewaltsame Umformung der empirischen Verhältnisse, die den Physiker mit Misstrauen erfüllt, bezeichnete. Gewaltsam in diesem Sinne ist auch Kopernikus vorgegangen, gewaltsame sind die Formeln, durch welche J. J. Thomson Einheit in so verschiedene Erscheinungsgebiete zu bringen versucht hat, nicht minder, als die Versuche Wynekens, durch Annahme verschiedener Ausgangsorte — z. B. der Merkurweite beim Sonnensystem — ein einheitliches rhythmisches Grundgesetz innerhalb alles Geformten nachzuweisen.

Aber welcher Art sind diese Umformungen? — Goldschmidt hat die Einheit der Gesetze der Kristallbildung mit denen der musikalischen Harmonie dadurch nachweisen können, dass er die empirisch gefundenen Verhältnisse nach einer eigens von ihm entdeckten Formel umrechnet12. Diese Umrechnung entspricht aber einer projektivischen Transformation; sie bedeutet geometrisch eine andere Wahl der Koordinaten und ihres Anfangs, sowie der Maßeinheiten.

Eine solche Transformation, sagt Goldschmidt, ist oft tief eingreifend, indem nur bei gewisser Wahl scheinbar komplizierte Verhältnisse einfach und verständlich werden.

Dieses Beispiel ist typisch; auch Kopernikus’ Tat bedeutet eine projektivische Umformung — eine andere Wahl der Koordination und ihres Ausgangspunktes —, und nicht anders haben Thomson, Mendelejew oder Wyneken gehandelt; ja im letzten Grunde trägt jeder ernste Versuch, in der Verschiedenheit die Einheit zu entdecken, denselben Charakter: wenn Plato in dem Werden des Erscheinenden das Sein der Idee zu erkennen strebt, so verlegt er den Ausgangsort seiner Betrachtungen nach den Gesetzen der Perspektive; und eben dasselbe besagt Kants bahnbrechendes Unternehmen, die Formen der Erkenntnis abgesehen von ihrem Inhalte zu studieren. Kant betrachtete dazu den gegebenen Zusammenhang von Ich und Außenwelt aus dem Gesichtswinkel des erkennenden Subjektes allein, wodurch der Mittelpunkt des Gesichtsfeldes gleichsam in den Vordergrund gerückt und das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt einer einseitigen Spiegelung unterworfen wurde. Aber wie? Ist uns das Wort Projektion nicht schon früher vorgekommen? Ist nicht unsere ganze Betrachtungsart vom Standpunkte der Mitte aus eine projektive, da wir aus dem Spiegelbilde im Menschengeist die Einheit des Universums zu rekonstruieren suchen? Und ist unser Projektionszentrum mit demjenigen der Rhythmik nicht identisch? — Ein großzügiger Zusammenhang tut sich auf einmal vor unseren Blicken auf. Zunächst erkennen wir jetzt mit vollster Deutlichkeit, dass sich die Rhythmik auf der Grenzscheide zwischen der Mathematik und Metaphysik einerseits und der Physik andrerseits befindet; ihre Daten entnimmt sie der Erfahrung, deren Betrachtungsart aber entspringt einer apriorischen Umformung. Weiter, dass sie allerdings von unserem und nur von unserem Standpunkte aus verständlich ist, dieser sie aber andrerseits postuliert: wir suchen die Einheit des Universums aus der Projektion im Menschengeiste zu rekonstruieren, und wir tun es, indem wir den Anfang der Koordinaten aus uns selbst in das Zentrum der Welt hinausverlegen — geradeso wie Kopernikus den Mittelpunkt unseres Planetensystems von der Erde auf die Sonne übertrug. Und ganz das gleiche ist das Ziel der Rhythmik, wenn sie durch andere Wahl der Koordinaten die empirisch gefundenen Verhältnisse einem allgemeinsten Grundgesetze unterzuordnen strebt — gleichviel, ob die bisherigen Ansätze dazu als geglückt zu betrachten sind oder nicht. Aber noch etwas viel Bedeutsameres gewahren wir jetzt: die Tatsachen der Rhythmik — wir können getrost von Tatsachen reden, wie beschränkt unser Wissen um sie bisher auch immer sein mag — die Tatsachen beweisen, dass es allerdings einheitliche Grenzen in der Natur gibt. Und da sie allein unter unserer Voraussetzung einen wirklich verständlichen Sinn erhalten, weil kein anderer Rahmen weit genug ist, um sie einheitlich zu umspannen, so sind wir zu folgendem Schlusse berechtigt: die projektive Methode der Rhythmik führt innerhalb ihrer Grenzen zu demselben Ergebnisse, welchem wir zustreben — dass einheitliche Gesetze die Welt regieren. Und da ihre Methode gerade eine projektive ist, so beweist das, dass auch unsere Methode, wie wir sie in den beiden ersten Kapiteln entwickelten, zum Ziele führen muss; denn beide Fragestellungen — die allgemeine wie die rhythmische — gelten unter derselben Voraussetzung und unterscheiden sich nur durch das Niveau: die erste ist transzendental, die zweite entspricht dem Übergange. So sehen wir, dass die Exzentrizität des Menschengeistes gegenüber dem Weltzentrum sich in der Exzentrizität der empirischen Naturverhältnisse gegenüber den einheitlichen Urformen widerspiegelt; dass der Mensch aber imstande ist, durch freie Wahl der Koordinaten den kosmischen Zusammenhang aus der perspektivischen Verschiebung, welche er im Menschengeiste notwendig erleiden muss, wiederherzustellen.

1 Mach sagt (Analyse der Empfindungen 18 ff.): Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen); und weiter: das Ich ist unrettbar. Mach urteilt in diesem Buche abwechselnd von zwei Standpunkten aus: demjenigen der Empirie und dem des Überganges — daher das Konfuse und Unbefriedigende dieser sonst so bedeutenden Arbeit.
2 Die Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Leipzig 1897. Ein Buch, das ich dringend empfehlen möchte. Eine gedrängte Übersicht seiner Anschauungen gibt Cornelius in seiner 1903 erschienenen Einleitung in die Philosophie.
3 Vgl. z. B. Psychologie p. 304 ff.
4 Einleitung in die Philosophie, Leipzig 1903, p. 271.
5 Das ist die Auffassung des Kausalitätsgesetzes, welche von Kirchhoff, Mach, Ostwald und allen Antimetaphysikern vertreten wird; welche also keineswegs, wie diese Herren glauben, eine Widerlegung Kants bedeutet!
6 Ich weiß wohl, dass ich in dieser Auffassung sehr vereinzelt dastehe; und da die meisten das Kapitel vom Schematismus der Verstandesbegriffe für einen Trick ansehen — eine billige Reaktion der Selbsterhaltung dem Schwerverständlichen gegenüber —, so dürften dieselben auch meine Benützung und Deutung jenes Kapitels als listigen Trick betrachten. Gleichwohl handelt es sich hier — ich weiß es — um eine grundlegende Erkenntnis, die ich in dieser Schrift leider nicht näher begründen kann. Vorläufige Aufklärung über die Frage des Schematismus findet der Leser im Descartes-Vortrage von H. S. Chamberlains Immanuel Kant.
7 Befriedigend (für mich) habe ich die Grenze zwischen Kants und meinem Standpunkt erst in den Prolegomena abzustecken vermocht. (Nachtrag zur 2. Auflage.)
8 Die erste Kolonne entspricht der Kantischen, die zweite meiner Philosophie. Die Pfeile deuten den Weg an, welchen unser Gedankengang einschlagen musste. Aus dem Schema ist ersichtlich, dass wir zum kosmischen Standpunkte nur indirekt gelangen können, und von ihm aus sozusagen um die Ecke weiterschließen müssen, während die Kantische Reihe durch eine nur einmal gebrochene Linie dargestellt wird.

Das Schema gibt dasselbe wieder, was am Schluss des I. Kapitels mit den zwei Spiegeln gemeint war, und zeigt, inwiefern die Mathematik für den Kosmos den Denkformen, der Transzendentalphilosophie, die Rhythmik dem Übergang entspricht, obwohl die Niveaugleichheit auf den ersten Blick nicht einleuchtet.

S c h e m a

9 Vgl. Inorganic evolution, 1900, l. c., und spätere in Nature und anderen Zeitschriften erschienene Mitteilungen.
10 Auf diese Tatsache hat Ferdinand Jacob Schmidt in seinem Aufsatz Kant-Orthodoxie (Preuß. Jahrb., Bd. III, p. 6-32, Januar 1903) und auch in seinen Grundzügen der konstitutiven Erfahrungsphilosophie, 1901, p. 76, viel Licht geworfen durch den Nachweis, dass auch das Experiment nicht auf Induktion beruht, sondern sich derselben transzendentalen Methode bedient, welche Kant für die Philosophie aufbrachte. Über das Wesen jener Methode siehe das genannte Buch p. 44 — wohl die beste mir bekannte Darstellung. Schmidts Philosophie und die meinige haben dieselbe Grundvoraussetzung; nur weichen die Wege so sehr von einander ab, dass es nicht möglich erscheint, jene näher zu berücksichtigen — obwohl ich gern gestehe, dass sie mir seinerzeit viel Anregung gewährt hat.
11 Dies schrieb ich lange vor der Geburt von Einsteins Relativitätstheorie. Diese mag eine Umwälzung in der Naturwissenschaft einleiten — philosophisch bedeutet sie nicht annähernd soviel, wie ihr zugemutet wird, überhaupt: nichts wesentlich Neues. (Nachtrag zur 2. Auflage.)
12 Vgl. l. c. p. 76. Eine eigene Deduktion derselben Formel für die Musik befindet sich in Goldschmidts Aufsatz Über harmonische Analyse von Musikstücken in den Annalen der Naturphilosophie, Bd. III, 1904.
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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