Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

V. Die Freiheit im Weltzusammenhange

Freiheit und Natur

Kant überbrückt die Kluft zwischen Naturnotwendigkeit und Freiheit dadurch, dass er beiden Begriffen denselben Inhalt, aber einen verschiedenen Sinn erteilt. Dieses gelingt ihm durch seine berühmte Scheidung zwischen sensiblem und intelligiblem Charakter. Was es mit dieser Scheidung für eine Bewandtnis hat, mögen folgende Worte des Meisters verdeutlichen1:

Ich nenne dasjenige an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist, intelligibel. Wenn demnach dasjenige, was in der Sinnenwelt als Erscheinung angesehen werden muss, an sich selbst auch ein Vermögen hat, welches kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist, wodurch es aber doch die Ursache von Erscheinungen sein kann, so kann man die Kausalität dieses Wesens auf zwei Seiten betrachten, als intelligibel nach ihrer Handlung, als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel, nach den Wirkungen derselben, als einer Erscheinung in der Sinnenwelt. Wir würden uns demnach von dem Vermögen eines solchen Subjektes einen empirischen, ingleichen auch einen intellektuellen Begriff seiner Kausalität machen, welche bei einer und derselben Wirkung zusammen stattfinden. Eine solche doppelte Seite, das Vermögen eines Gegenstandes der Sinne sich zu denken, widerspricht keinem von den Begriffen, die wir uns von Erscheinungen und von einer möglichen Erfahrung zu machen haben. Denn da diesen, weil sie an sich keine Dinge sind, ein transzendentaler Gegenstand zugrunde liegen muss, der sie als bloße Vorstellungen bestimmt, so hindert nichts, dass wir diesem transzendentalen Gegenstande, außer der Eigenschaft, dadurch er erscheint, auch eine Kausalität beilegen sollten, die nicht Erscheinung ist, obgleich ihre Wirkung dennoch in der Erscheinung angetroffen wird. Es muss aber eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d. i. ein Gesetz ihrer Kausalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde. Und da würden wir an einem Subjekte der Sinnenwelt erstlich einen empirischen Charakter haben, wodurch seine Handlungen, als Erscheinungen, nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange ständen, und von ihnen, als ihren Bedingungen, abgeleitet werden könnten und also, mit diesen in Verbindung, Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung ausmachten. Zweitens würde man ihm noch einen intelligiblen Charakter einräumen müssen, dadurch er zwar die Ursache jener Handlungen als Erscheinungen ist, der aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht und selbst nicht Erscheinung ist.

Von hier aus ergibt sich die Autonomie von selbst:

Das handelnde Subjekt würde, nach seinem intelligiblen Charakter, unter keinen Zeitbestimmungen stehen; denn die Zeit ist nur die Bedingung der Erscheinungen, nicht aber der Dinge an sich selbst. In ihm würde keine Handlung entstehen oder vergehen, mithin würde es auch nicht dem Gesetze aller Zeitbestimmung, alles Veränderlichen, unterworfen sein, dass alles, was geschieht, in den Erscheinungen (des vorigen Zustandes) seine Ursache antreffe. Mit einem Worte, die Kausalität desselben, sofern sie intellektuell ist, stünde gar nicht in der Reihe empirischer Bedingungen, welche die Begebenheit in der Sinnenwelt notwendig machen … Man würde von ihm (dem Noumenon, d. h. dem intelligiblen Subjekte) ganz richtig sagen, dass es seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst anfange, ohne dass die Handlung in ihm selbst anfängt, und dieses würde gültig sein, ohne dass die Wirkungen in der Sinnenwelt darum von selbst anfangen dürfen, weil sie in derselben jederzeit durch empirische Bedingungen in der vorigen Zeit, aber doch nur vermittels des empirischen Charakters (der bloß die Erscheinung des intelligiblen ist), vorherbestimmt und nur als eine Fortsetzung der Reihe der Naturursachen möglich sind. So würde denn Freiheit und Natur, jedes in seiner vollständigen Bedeutung, bei eben denselben Handlungen, nachdem man sie mit der intelligiblen oder sensiblen Ursache vergleicht, zugleich und ohne allen Widerstreit angetroffen werden.

Diese tiefsinnige Lehre ist in sich wahr und widerspruchslos; sie ist auch von außen her unangreifbar und unwiderlegbar, sofern man an ihre Voraussetzungen glaubt. Hier aber liegt die große Schwierigkeit: was berechtigt zu der Annahme eines intelligiblen Charakters? Diese Frage ist oft verneinend beantwortet worden; man dachte an metaphysische Erschleichungen, man stieß sich an dem problematischen Begriffe des Dinges an sich, und so huldigen heute nur noch die spekulativen Geister einer Lehre, die gerade den exaktesten, zumal den Naturforschern, höchst willkommen sein sollte; denn es handelt sich nur um das Eine — Kants Voraussetzungen richtig zu verstehen —, und alle Bedenken heben sich von selbst!

Das Wort intelligibler Charakter klingt befremdlich; Kant hält sich nicht durchweg daran, sondern bezeichnet denselben Begriff gelegentlich auch durch Vernunft oder Ding an sich. Was bedeuten diese Worte? — Sie dienen allesamt dazu, das nur im ästhetischen Sinne transzendente, im ethischen hingegen transzendentale Substrat des Erscheinenden auszudrücken: nämlich das handelnde Subjekt. An einer Stelle des angeführten Zitates nennt es Kant, bezeichnend genug, das Gesetz der Kausalität, das im Subjekte beschlossen liegt, und in der Metaphysik der Sitten spricht er es deutlich aus, dass er unter dem Intelligiblen kein Metaphysisches in faktischem, realem Verstande im Auge habe:

der Begriff einer Verstandeswelt ist nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken.2

Gerade hierin liegt aber die Hauptschwierigkeit: nämlich die Möglichkeit jenes Standpunktes einzusehen. In der Tat, was soll uns ein Grenzbegriff, der als solcher jenseits aller möglichen Erfahrung liegt, und von dem sich nicht nachweisen lässt, dass er die Möglichkeit der Erfahrung selbst bedinge? — Es ist merkwürdig; aber die Schwierigkeit lässt sich von Kants Position aus kaum heben; der intelligible Charakter, gerade wie das Ding an sich, bleibt ein Postulat, und Postulate können nicht eher für notwendig gelten, als bis erwiesen ist, dass wir ohne sie schlechterdings nicht auszukommen vermögen. Kant wusste das; am Schlusse des zitierten Abschnittes der Vernunftkritik schreibt er ausdrücklich:

Man muss wohl bemerken, dass wir nicht die Wirklichkeit der Freiheit als eines der Vermögen, welche die Ursache von den Erscheinungen unserer Sinnenwelt enthalten, haben dartun wollen … Dass Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite, das war das einzige, was wir leisten konnten, und woran es uns auch einzig und allein gelegen war.

Dennoch ist es möglich, über die Erkenntnisse, die für Kant gleichsam negative waren und in mancher Hinsicht problematische bleiben mussten, positive Gewissheit zu erlangen: es gilt nur, die Perspektive zu verändern!

Hierzu müssen wir zuerst untersuchen, warum Kant bei Postulaten stehen bleiben musste. Seine ganze Philosophie geht vom Ich, vom Subjekt als oberster Synthese aus. Für die theoretische Erkenntnis bleibt dieses unmittelbar in der Tat das Letzte; was das Ich sein mag, diese Frage ist transzendent. Infolgedessen bezeichnet es Kant, wo er sein Wesen berühren muss, kurzweg mit Ding an sich, und kümmert sich nur insofern darum, als er es überall voraussetzt. Bestimmen kann er es nicht. Für die Erkenntniskritik war das kein Übelstand; alle Erfahrung gilt nur in bezug auf das erkennende Subjekt, dieses ist als Spiegel der Außenwelt unmittelbar gewiss, und die Bedingungen der Erfahrung lassen sich feststellen, ohne dass das Problem des Subjektes überhaupt berührt würde. Anders steht es aber bei ethischer Fragestellung; sobald das Wirken, das Handeln des Subjektes in Frage kommt, ist das Ich nicht mehr bloß Voraussetzung — es ist zugleich Untersuchungsobjekt. Hier muss Kant ständig mit seiner bisherigen Voraussetzung unmittelbar operieren, und da sein Ansatz auch hier der gleiche blieb — stets ging Kant vom erkennenden Subjekte aus —, so konnte das X nicht aufgelöst werden: eine Gleichung, die bei einer Unbekannten als Voraussetzung ansetzt und zugleich dieselbe Unbekannte zu jener in Beziehung setzt, kann ohne weitere Bestimmungen und Gleichungen — die hier eben fehlen — nicht ausgerechnet werden. Darum postulierte der Meister den intelligiblen Charakter, das Gesetz einer besonderen Kausalität; und obwohl er das einzig Richtige traf, so konnte er es doch nicht beweisen.

Durch geniale Intuition hatte er folgendes erfasst: die Freiheit kann nur als Gesetzmäßigkeit, also als Funktion — weder als Willkür noch als eine besondere Kraft, die als solche zu den Erscheinungen gehören müsste, wo sie nachweislich nicht vorhanden ist — begriffen werden. Als Gesetzmäßigkeit, denn:

Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe.3

Die Freiheit ist also selber eine Form der Notwendigkeit, dadurch aber von jeder anderen unterschieden, dass das Gesetz im Subjekte liegt, anstatt letzteres von außen zu beherrschen — wie etwa die Schwerkraft die Planeten. Nun ist aber das Subjekt für Kant ein X, weil die oberste Synthese; es steht an sich außer Zusammenhang mit den Naturvorgängen sowohl als mit den Naturgesetzen, weil es, bildlich gesprochen, auf der anderen Seite liegt und Ich und Außenwelt mit einem Blicke unmittelbar nicht überschaut werden können. Darum ist die skeptische Frage sehr berechtigt, ob es wohl angeht, einen Standpunkt zu erklimmen, der den Zusammenhang des Intelligiblen mit dem Sensiblen eröffnen soll? — In der Tat ist es unter der bisherigen Voraussetzung gar nicht möglich; denn das Transzendente kann nicht in derselben Hinsicht transzendental sein.

Verändern wir nun die Perspektive: die Freiheit kann in der Erscheinung nicht nachgewiesen, als ein Empirisches objektiv nicht einmal begriffen werden; andrerseits ist sie aber eine Form der Gesetzmäßigkeit — wenngleich von jeder anderen durchaus verschieden, und — von Kants Position aus — außer Zusammenhang mit der Funktionsart der eigentlichen Naturgesetze. Aber wie, wenn jener Zusammenhang dennoch statthaben sollte? Wenn die Einzigkeit des Problems bloß durch Kants Standpunkt bedingt wäre? — Erinnern wir uns kurz der Ergebnisse des vorigen Kapitels: das Ich — Kants Vernunft, Ding an sich, intelligibler Charakter — ist das Gesetz des Menschen; es drückt den formalen Zusammenhang des Organismus aus, beherrscht diesen, verhält sich zum Leibe sowohl als zur Vorstellungswelt wie die Idee zur Erscheinung. Darum kann es aus empirischem Gesichtswinkel gar nicht erschaut werden, obschon es alle Empirie allererst möglich macht. Es ist eine Idee, dem Denken ein Abstraktes, und trotzdem die unleugbarste Realität des unmittelbaren Erlebens, welche keine falsche Philosophie aus der Welt zu schaffen vermag. Andrerseits gehört aber das Ich, als Idee, zum formal-idealen Zusammenhang des Universums, in die Kategorie des Gesetzlichen (im Gegensatz zum Erscheinenden), und ist insofern ein Naturgesetz — in des Wortes präzisester Bedeutung, gerade so gut wie die Newtonschen, gerade so sehr wie die exaktesten Gleichungen der mathematischen Physik —; denn wir sind nicht in der Lage, etwa zwei Arten des Gesetzlichen, die miteinander nichts gemein hätten, anzunehmen, ohne uns auf gänzlich unfruchtbare Spekulationen einzulassen. Das Innere und das Äußere — wie verschieden sie immer sein mögen — sind insofern wesenseins, als sie unter einer Kategorie (des Ideellen) begriffen werden können und müssen. Dass man sich dessen bis heute nicht bewusst wurde, erklärt der Umstand, dass es noch niemand gelungen ist und vermutlich auch nie gelingen wird, die Differentialgleichung einer Persönlichkeit aufzustellen. Doch beweist diese Ignoranz nichts gegen unsere kritische Erkenntnis.

Wenn nun das Ich, als Gesetz, ein Intelligibles ist, wenn Kant lehrt, dass auch die Freiheit, als Funktionsform des Subjektes, nur im selben Sinne verstanden werden darf, sofern sie überhaupt statthaben soll; — wenn unser besonderer Standpunkt uns gestattet, den objektiven Sinn jenes intelligiblen Charakters, den der Meister postulierte, zu verstehen und zugleich die Berechtigung dieses Postulates einzusehen — schwindet da nicht alle Gewaltsamkeit? — Auch in der Außenwelt ist der Zusammenhang von Gesetz und Erscheinung kein kausaler, sondern ein transzendentaler: von der Gravitation zu den Planeten vermag kein Kausalnexus hinüberzuleiten. Andrerseits ist jetzt die Freiheit nicht mehr in dem Sinne intelligibel, dass sie eine metaphysische Potenz außerhalb der Natur bedeutete: sie ist es nur insofern, als alles Gesetzliche in bezug auf Phänomene intelligibel ist. Freiheit und Naturnotwendigkeit lassen sich also auf einmal überschauen. Allerdings nicht von Kants Position aus — dort blieb die Kluft bestehen: unter Zugrundelegung der Einheit des Ich bleibt das Problem auf immer einzig; doch reiht es sich in den Zusammenhang der Natur ein, sobald die Einheit des Universums zur Voraussetzung genommen wird.

Aus dieser Perspektive müssen wir die Lehre von der intelligiblen Freiheit verstehen. Mit Recht wehrt sich der Naturforscher gegen das Außernatürliche — die Freiheit gehört aber mit zur Natur. Und auch gegen den Ausdruck intelligibel lässt sich nichts Stichhaltiges mehr einwenden; denn er drückt ein Verhältnis aus, das dem Denken allenthalben begegnet. Wohl ist das Subjekt von Kants Position aus ein X, weil die letzte Instanz, das Absolute, das Ding an sich; aus anderer Perspektive, unter Voraussetzung der Einheit des Universums ist es aber das Gesetz des Menschen, insofern dieser zur Natur gehört, ein Naturgesetz; und jedes Naturgesetz besitzt absolute Gültigkeit.

Der Mensch ist ein Gesetz — insofern ist er autonom. Und wie verstehen wir jetzt die Freiheit? — Wenn ich selbst ein Gesetz bin — wie spezieller Art auch immer —, welches als solches immer gilt, trotz aller anderen Gesetze, mit denen es interferieren mag, so dass bei aller äußeren Bedingtheit noch eine persönliche Bedingung, mein Ich, mitwirken muss, damit ich handeln kann, so muss ich mir notwendig frei erscheinen; denn hinter mein Selbst dringt die Erkenntnis nicht, für diese ist es die letzte Instanz; dieses selbe Ich ist aber der Seinsgrund meines Lebens und Handelns. Ein erläuterndes Beispiel: sprechen wir einer abgeschlossenen und dahinfliegenden Kanonenkugel Bewusstsein und Denkvermögen zu, nehmen wir aber zugleich an, dass sie außerstande ist, nach rückwärts zu blicken, dass sie von der Existenz der Kanone, des Pulvers, des Artilleristen usw. nicht das Mindeste weiß noch je erfahren kann, so müsste sogar sie das primum movens in ihr eigenes Innere verlegen; sie würde steif und fest behaupten, sie finge ihren Flug von selbst an, und diese Tat eo ipso für frei erklären! Wie sollte sie anders, gesetzt, dass sie menschlich denkt? — Um so mehr gilt das vom Menschen selbst, dessen primum movens tatsächlich sein Ich ist — wenn wir von der für das unmittelbare Empfinden und Erleben transzendenten Bedingtheit des Individuums durch die Folge der Generationen, den Zusammenhang des Lebens und zuletzt des Weltalls absehen —, zu dem sich die Abhängigkeit von äußeren Umständen, Motiven usw. nahezu ebenso verhält, wie die Schwerkraft, der Luftwiderstand, die Dichte des zu durchbohrenden Schiffspanzers u. ä. zum freien Fluge besagter Kugel. Denn solange der Mensch lebt, lässt sich keine seiner Reaktionen aus den bloßen Reaktiven verstehen — die Art des Reagierens hängt ebensosehr von der Individualität oder dem Ich des Betreffenden ab; zur äußeren Bedingtheit tritt bei jeder Handlung noch eine innere hinzu. Die innere Bedingtheit — in unserem fiktiven Beispiele die Kraft des Explosivs, die Art der Kanone usw., beim Menschen das Ich und dessen formaler Zusammenhang mit dem Universum — ist aber von außen her nicht zu erschließen; sie muss uns wesentlich anders erscheinen als die äußere, und darum nennen wir sie auch anders. Henri Bergson hat sehr schön gezeigt, dass Freiheit und objektive (physikalische) Notwendigkeit schon deshalb unvergleichbar sind, weil die Zeit in jedem der Fälle etwas anderes bedeutet: für die freie Handlung — besser, den frei Handelnden — existiert die Zeit nur als Dauer von Gegenwart zu Gegenwart4 — le temps qui s’écoule —; der Physik ist die Zeit nichts als Maß oder Zahl — le temps écoulé —; die Dauer an sich (als gegenwärtiges Ereignis) ist der Forschung unzugänglich. Wirklich sind wir außerstande, die Zeit als Dauer, als Qualität, in Gedanken nachzubilden: wir können sie bloß durchleben; und schon darum entzieht sich das Freiheitsproblem in seiner wahren Gestalt jeder äußeren Betrachtung.5 Hieraus nun den Schluss zu ziehen, dass Freiheit und Notwendigkeit auf alle Fälle und in jeder Hinsicht zweierlei sind, wäre dennoch völlig verfehlt. Die einzig richtige Folgerung — die Bergson leider nicht gezogen hat — ist die, dass dasselbe Ereignis, einerseits von außen und in der Zeit besehen, andrerseits aber aus dem Blickpunkte des Handelnden selbst, während des Handelns, betrachtet, der offenbar nur die Gegenwart, von Augenblick zu Augenblick, erlebt, sehr anders aussehen muss. Es besteht doch ein Unterschied zwischen dem, was ich selbst beim Handeln erlebe, und dem, wie dieselbe Handlung von außen erscheinen mag; beide Perspektiven sind vollkommen unvergleichbar, wiewohl ihnen das gleiche Objekt korrespondiert. In demselben Sinne ist das Subjektive sowohl das Korrelat des Objektiven, als zugleich ein wesentlich Anderes; das Bewusstsein einer Sache — das notwendige Bild des entsprechenden Seins, aber zugleich auch ein von diesem durchaus Verschiedenes6. Auf dieselbe Weise müssen wir das Verhältnis des Freiheitsbewusstseins zur objektiven Notwendigkeit deuten: die persönlich begründete Notwendigkeit ist eben die Freiheit, unsere Taten sind nur insofern objektiv notwendig, als sie für das Bewusstsein frei sind; ja, wenn ich nicht aus freiem Willen handeln kann, so bin ich dazu überhaupt nicht imstande, dann fehlt auch dem Begriffe der Notwendigkeit jeder verständliche Inhalt. Folglich ist die Freiheit, erkenntniskritisch betrachtet, die Bewusstseinsform der inneren Notwendigkeit; wie Kant sagen würde — deren transzendentale Erscheinungsform; aus objektiver Perspektive gesehen hingegen weder Erscheinung noch Illusion noch eine metaphysische Potenz, sondern die Wirkungsform des Gesetzes, das der Mensch, als Subjekt, ist.

Dies ist der wahre Sinn der Kantischen Freiheitslehre7; nichts Wesentliches haben wir verändert oder hinzugefügt. Und doch erscheint diese Lehre jetzt ungleich klarer und einleuchtender; denn aus unserer Perspektive lässt sich der Zusammenhang des universellen Determinismus mit der menschlichen Autonomie aktuell überschauen, während ihn Kant nur durch unerhörten Scharfsinn dialektisch nachzuweisen vermochte.

1 Kritik der reinen Vernunft. Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit, in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit.
2 p. 93 (Rosenkrantzsche Ausgabe).
3 Metaphysik der Sitten p. 83 (Rosenkrantz).
4 Das ganze Problem läuft in gewisser Hinsicht darauf hinaus, dass der Zeitbegriff — wie Chamberlain es dargetan hat — in seiner vollständigen Bedeutung nur auf das Leben angewandt werden kann, nicht auf das anorganische Geschehen: denn die Zeit ist eigentlich nur das Schema des Lebens, durch Abstraktion von diesem losgelöst. Nur das Leben dauert in der Zeit, weil nur bei diesem die Zeitfolge von Augenblick zu Augenblick ein Wesentliches ist; denn die Dauer — eine Qualität — bedeutet nichts als die Folge unterscheidbarer und folglich qualitativ verschiedener Augenblicke — eine Art der Sukzession, die uns nur beim Leben begegnet. — Ich möchte bei dieser Gelegenheit gegenüber gewissen Konstruktionen meiner Kritiken hervorheben, dass ich das zitierte Bergsonsche Werk erst nach der ersten Niederschrift dieses Kapitels, und die übrigen erst nach Verfassung der Unsterblichkeit sowohl, als der ersten (mündlichen) Fassung der Prolegomena während meiner Hamburger Vorträge von 1907 studiert habe. (Nachtrag zur 2. Auflage.)
5 Siehe Bergson l. c. ch. III. — Ich weiß wohl, dass meine Behandlung dieses äußerst komplizierten Problems viel zu kurz ist; doch kann ich dieses Mal nicht anders. Wer sich für die Frage interessiert, der folge Bergsons subtilen Gedankengängen, die eine Fülle von Problemen enthalten.
6 Diesem Verhältnisse begegnen wir allenthalben — schließlich spiegeln (in dem oben präzisierten Sinne) ja sogar die scheinbar willkürlichsten Wünsche des Menschen nur den unerbittlichen objektiven Naturverlauf, alle Gefühle und Leidenschaften, wie inkommensurabel sie auch scheinen mögen, tatsächliche Zusammenhänge: die bizarren Forderungen schwangerer Frauen, die sich um so nachdrücklicher geltend machen, je weniger rationell sie sich ausnehmen, entsprechen bei objektiver Betrachtung fast ausnahmslos dem, wessen das keimende Leben tatsächlich bedarf; die Liebessehnsucht prägt überindividuelle Naturforderungen, die in letzter Instanz zur Negation des Individuums zugunsten der Kontinuität des Lebens führen — im Tierreiche gehen die Männchen bei manchen Arten regelmäßig an der Befruchtung zugrunde, und der Doppelselbstmord so zahlreicher Liebespaare hat vermutlich denselben tieferen Sinn: dass die Natur der Eltern nach der Begründung des neuen Lebens nicht mehr bedarf — zu höchst persönlichen, objektiv kaum zu begreifenden Postulaten um. Und wenn der müde Greis zu sterben wünscht, so ist es, weil er tatsächlich stirbt, weil sein Organismus in langsamer Auflösung begriffen ist. Die Mutterliebe, ja die Liebe im weitesten Sinne, wie sie das Christentum begreift, ist ein so Wunderbares, dass sie allein dazu genügt hat, dem Menschen den Glauben an eine übernatürliche Welt nahezulegen: und doch drückt sie in ihren Wünschen, Forderungen Geboten und sublimen Offenbarungen nichts anderes aus, als was tatsächlich vorhanden ist; den unbedingten Zusammenhang des Lebens über alle Schranken von Raum, Zeit und Individualität hinaus. Überall lässt sich der gleiche Tatbestand aus zwei miteinander gänzlich inkommensurablen und doch gleichberechtigten Perspektiven betrachten — einer objektiven und einer subjektiven, einer unpersönlichen und einer persönlichen, individuellen. Ich berühre hier nur das Nächstliegende … aber wer denkend das menschliche Treiben verfolgt, der staunt in jedem Augenblicke seines Lebens, wie großmütig die Natur ihre unpersönlichen Zwecke vermittelst der persönlichsten, ja intimsten Sehnsucht des blinden Menschenherzens zu erreichen weiß…
7 Von hier aus erhellt auch der Sinn von Kants Ethik, die so selten richtig verstanden wird, am Deutlichsten. Das Gebot:
Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch deinen Willen möglich ansehen könntest (Praktische Vernunft p. 192),

klingt von Kants Stellung aus vielleicht gewaltsam; wogegen unter unserer Voraussetzung der Sinn und die Berechtigung desselben unmittelbar evident erscheint. Kants Ethik ist bis heute noch von keiner an Tiefe übertroffen worden; sie ist schlechterdings unabweisbar, wofern zugestanden wird, dass sich ethische Fragen aus streng intellektualistischer Perspektive überhaupt behandeln lassen. Leider ist hier nicht der Ort, dieses hochinteressante Verhältnis aufzuklären.

Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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