Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt
V. Die Freiheit im Weltzusammenhange
Autonomie
Freiheit ist die Wirkungsform des Naturgesetzes, das der Mensch ist. Das erste, was uns bei dieser Definition — der einzig haltbaren — einfallen muss, ist wohl dieses, dass der Freiheitsbegriff bis heute viel zu eng gefasst worden ist. Freiheit ist, genau besehen nicht bloß, wie Kant wollte, die Fähigkeit, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln, sie ist keineswegs bloß aus dem moralischen Gesetze in uns ableitbar —
die Freiheit ist die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit1:
sie ist offenbar die Fähigkeit, überhaupt zu handeln, denn der Begriff der Tat ist ohne Autonomie nicht zu denken. Ob der Mensch nach gepflogener Überlegung oder impulsiv, aus Instinkt, ob er bewusst oder unbewusst handelt, stets wirkt sein immanentes Gesetz; und dessen Wirkungsform ist ja gerade die Freiheit. Ich kann mir nur Gesetze auferlegen — im Kantischen Sinne —, insofern ich ein Gesetz bin; die bewusste Vorstellung bedeutet mehr einen Umweg, denn ein Wesentliches, weil die eigentlich charakteristischen Handlungen gerade so unmittelbar dem Schoße des Unbewussten entquellen, wie die originellen Gedanken, die genialen Intuitionen, die schöpferischen Einfälle. Zwischen bewussten und unbewussten Reaktionen besteht — wie Romanes sich einmal treffend ausdrückte — im letzten Grunde bloß ein Unterschied in der Zeit, indem manche Lebensäußerungen einfach zu schnell vonstatten gehen, als dass sie bewusst werden könnten. Wirklich werten wir auch dasjenige Tun eines Menschen, wofür ihn der Staat gar nicht zur Verantwortung ziehen würde — man denke nur an im Affekt oder sonst bei getrübtem Bewusstsein vollführte Handlungen —; denn wir werten letzthin nicht das Tun, sondern das Sein des Menschen, sein innerstes Wesen, aus dem die Taten mit Notwendigkeit folgen. Und dieses Wesen äußert sich gerade so sehr in unbewussten, triebhaften, wie in bewussten und vernünftigen Handlungen. Stets wirkt der Mensch durch Freiheit, weil autonom. Das eigentliche Selbst
oder bessere Selbst
, wonach allein so viele beurteilt werden wollen, ist nur ein Zustand unter anderen — der, wie Richard Wagner einmal meinte, desto schwerer auf die Dauer zu behaupten ist, je vielseitiger die Möglichkeiten des Menschen, je höher und steiler sein Kulminationspunkt; — oder aber, um ein anderes Bild zu verwenden, er bezeichnet das normale Niveau, ähnlich jenem des zwischen Ebbe und Flut oszillierenden Ozeans, welches nur unter anderen und seltener als alle anderen besteht und seine Bedeutung mehr dem Abstraktionsvermögen der Ozeanographen, als der ewig sich wandelnden Natur verdankt. Willkürliche Einschränkung, ja vorgefasste Meinung ist es also, wenn wir bestimmten Bewusstseinstadien, gewissen Gemütszuständen Freiheit zusprechen, anderen aber nicht. Ein solches Verfahren steht wohl dem Staatsmanne, dem Pädagogen an, der praktische Ziele erreichen, der bloß wirken will. Der Philosoph dagegen, dem es um objektive Erkenntnis zu tun ist, der das Leben nur kritisch zu begreifen, nicht politisch zu lenken strebt, darf sich um praktische Rücksichten nicht kümmern.
Aus diesem Gründe ist es durchaus unstatthaft, den Freiheitsbegriff seiner Gültigkeit nach auf das Gebiet zu beschränken, welches für das Recht und den Staat, für die soziale Verantwortlichkeit in Frage kommt: der Mensch ist stets sein eigenes Gesetz … Ja, aber gilt nicht dasselbe für das Leben überhaupt? — Die Autonomie ist in der Tat dessen Hauptkennzeichen dem Anorganischen gegenüber. Während es lächerlich wäre, einem Kristall oder einem Sterne ein Subjekt, ein Ich, ein immanentes Gesetz zuzusprechen — er entsteht, dauert, wirkt und vergeht zwar nach Gesetzen, ist aber keines; er ist, erkenntniskritisch gesprochen, nichts als Erscheinung —, ist ein Organismus ohne ein solches gar nicht zu denken. Er ist sowohl Idee als Erscheinung, Subjekt und Objekt zugleich, er verkörpert in seiner Gestalt ein besonderes gesetzmäßiges Verhältnis, welches sich bei der Interferenz mit dem äußeren Naturgeschehen nicht wandelt, wie etwa die Stoffe in chemischen Reaktionen, sondern stetig beharrt. Durch physico-chemische Betrachtungen reicht man an das Wesentliche des Lebens gar nicht heran2. Mathematisch gesprochen: das Verhältnis eines Organismus zur Außenwelt lässt sich niemals durch eine Gleichung erschöpfend ausdrücken — wie dies z. B. beim Prozess einer chemischen Verbindung der Fall ist —; es bedarf dazu einer weiteren, selbständigen, in bezug auf die erste (variable) gleichsam Konstanten, welche nie übersehen werden darf und die der äußeren Betrachtung ein X ist, welches trotz der genauesten Kenntnis aller übrigen Symbole samt deren Wechselbeziehungen nicht aufgelöst werden kann. Jedes Lebewesen umfasst eben schon an sich, eine gesetzliche Beziehung, abgesehen von dem Verhältnisse, in welchem es zur Außenwelt steht.
Insofern ist jeder Organismus autonom — in des Wortes eigentlicher Bedeutung; und blicken wir nun zurück, so erkennen wir, dass Kants Lehre von der intelligiblen Freiheit im letzten Grunde für die Gesamtheit des Lebens gilt! Der Meister hat, ohne es zu ahnen, das Organische vom Anorganischen geschieden, wo er nur vom Menschen reden wollte! Autonomie ist allem Lebendigen eigentümlich … Gilt dasselbe nun auch von der Freiheit? — Es klingt abgeschmackt, einen Seestern oder einen Baum als frei zu bezeichnen; fassen wir den Begriff so weit, so verliert er allen verständlichen Inhalt. Und doch erscheint diese Erweiterung berechtigter, als die bisher übliche Beschränkung seines Gültigkeitsbereiches; denn die menschliche Freiheit unterscheidet sich bloß graduell, keineswegs spezifisch oder prinzipiell von den Wirkungsformen anderer Organismen.
Die Materie reagiert bloß, der Organismus handelt — als Handlung bezeichne ich jede autonome Reaktion des Lebendigen gegenüber der Außenwelt, gleichviel, wie ihr Ausdruck beschaffen sein mag3. Aus dieser Perspektive hält es leicht, den Zusammenhang der menschlichen Taten mit allen sonstigen Lebensäußerungen zu überschauen: bei Tieren, deren ganzes Leben sich in automatischen Reflexen erschöpft, bedeuten diese die einzigen Handlungen; und auch sie sind autonom in des Wortes voller Bedeutung; denn das Wesen erschöpft sich nicht in der Erscheinung. Weder dürfen wir die Nerven oder äquivalenten Körperregionen als indifferente Leitungsdrähte ähnlich dem Telegraphen auffassen — sie sind nicht indifferent —, noch lässt sich die Art der Reaktion aus dem Reize allein verstehen: der spezifische Charakter des reagierenden Organismus und im Besonderen seiner Rezeptionsorgane bleibt stets das Wesentliche — im prinzipiell gleichen Sinne, wie bei uns selbst, wie verschieden der konkrete Ausdruck immer sein mag. Aber freilich ist das Gesetz dieser Tiere mit dem unserigen vollkommen unvergleichbar. Auch die Ameise, dieses hochbegabte Insekt, ist nicht im selben Sinne autonom, wie der Mensch; trotzdem ist sie es auf ihre Art durchaus und würde sich bei menschlichem Bewusstsein für gerade so frei halten, wie wir es tun. Auch sie handelt — freilich nicht in unserem Sinne —, ja ihre Taten ließen sich sogar ethisch werten, aber nur nach Ameisenart, nicht unter den menschlichen, mit denen anderer Wesen völlig inkommensurablen Voraussetzungen.
Aus diesem allgemeinen Gesichtswinkel müssen wir auch die menschliche Freiheit zu verstehen suchen. Genau besehen, und unter Voraussetzung des umfassendsten Freiheitsbegriffs, wie ihn die Natur etwa denken möchte, ist das Leben an sich eine freie Tat, denn es wächst und wandelt sich stets aus sich selbst heraus; und insofern haben jene Heiligen recht, die den Menschen für seine Existenz als verantwortlich betrachteten, in der bloßen Tatsache des Lebens eine Schuld erblicken wollten. Die tiefste Ethik wertet das Sein schlechthin und kümmert sich gar nicht um die Handlungen. Praktisch ist aber diese Anschauungsweise unfruchtbar, wie alles Allzutiefe: der Mensch ist ein so komplexes Wesen, die Differentiation seiner Lebensprozesse ist eine so ungeheure, die Verquickung bewusster und unbewusster, automatischer und gewollter Taten, von Trieben, Impulsen und reflektierten Willensentschlüssen eine so unübersehbare, dass er sich der Einheit seines Seins in concreto gar nicht bewusst werden kann. Zu seinem Ich rechnet er überhaupt nur das, was sich auf der Bühne des Bewusstseins abspielt, und fühlt sich infolgedessen nur insoweit frei, als er die Prämissen und Motive zu übersehen vermag und, wie man sagt, vernünftig handelt. Aber in Wahrheit handelt er überall, wo sein Subjekt, das Gesetz seiner Persönlichkeit unmittelbar zum Ausdruck gelangt, und Tat ist jede Lebensäußerung, die sein innerstes Wesen spiegelt.
Darum muss der Tatbegriff sehr viel weiter gefasst werden. Bisher hat er — für die ethische Wissenschaft zum Mindesten — eigentlich nur einen sozialen Inhalt gehabt; unter praktisch
verstand noch Kant nur das Handeln am Mitmenschen, das vor der Gesamtheit verantwortliche Tun — daher leitete er die Willensfreiheit ausschließlich aus der Tatsache des Gewissens ab und beschränkte ihr Gültigkeitsbereich auf das spezielle Gebiet der Moral. Nun deckt sich aber das Soziale keineswegs mit dem Individuellen; und ebensowenig vermag das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft seine persönliche Ethik zu erschöpfen. Die soziale Moral ist ein Produkt der Gesamtheit, gilt für den Einzelnen nur in bezug auf diese; sie drückt eine konventionelle Gesetzesordnung der Gesellschaft aus, der sich das Individuum zu fügen hat, wenn es aus dem Verbande nicht heraustreten will. Ihren tieferen Sinn schöpft sie bloß aus dem Umstande, dass das Menschengeschlecht wirklich ein Ganzes ist, eine Einheit vor der Natur, weswegen seine willkürlichen Satzungen in gewisser Hinsicht dennoch Naturgesetze bezeichnen. Trotzdem ist aus dem sozial noch so Notwendigen kein Rückschluss auf das Individuelle möglich; denn aus dem, was für ein Volk sein soll, folgt nicht das Geringste für den Einzelnen, dessen Pflichten sich aus seinen Fähigkeiten ergeben, welche ihrerseits geradezu antisozial sein können. Entweder man leugnet das Individuum — wie es in gewisser Hinsicht bei den Römern und allen politisch hochbeanlagten Völkern der Fall war —, dann fällt natürlich die ganze individualistische Fragestellung fort; oder aber man erkennt es an, wie die christliche Weltanschauung es fordert, und dann besteht ipso facto Inkongruenz zwischen dem Individuellen und dem Sozialen. Die Moral — um es noch einmal zu sagen — spiegelt die Daseinsbedingungen der Gesellschaft; die Ethik eines Menschen bezeichnet dagegen seine eigene, persönliche Gesetzmäßigkeit, die Form seines individuellen Seins und Lebens an sich, ohne Rücksicht darauf, wie sie sich zu den Postulaten der Gesamtheit verhalten mag.
In dieser Hinsicht nun ist der Mensch vor Niemandem außer sich selbst verantwortlich; es gibt kein Sollen für ihn, außer in bezug auf das eigene Leben oder die eigene Vollkommenheit, wie der Edle sich ausdrücken wird; die Ehrfurcht vor sich selbst, die Goethe lehrte, ist sein kategorischer Imperativ, die einzige Richtschnur seines Handelns — und man sieht sofort, dass die persönliche Gesetzmäßigkeit mit ihren Geboten und Postulaten aus sozialer Perspektive gar nicht überschaut, geschweige denn beurteilt werden kann. Dass man diese zwei völlig unvergleichbaren Kategorien — des Ethischen und des Moralischen — fast immer verwechselt, daran trägt, nebenbei bemerkt, das 18. Jahrhundert die Schuld. Dieses brachte das unglückselige Dogma von der Gleichheit aller Menschen auf, und entspräche dieses wirklich den Tatsachen — ja, dann allerdings wäre, wie Kant es wollte, das Individuelle mit dem Sozialen, das Ethische mit dem Moralischen identisch. Heute haben wir endlich begriffen, dass dem nicht so ist: jeder Mensch verkörpert ein besonderes, einziges Gesetz, und ob oder inwiefern es sich den sozialen Normen einzufügen vermag — diese Frage ist bloß für die Politik von Bedeutung; den ethischen Menschen braucht sie, theoretisch gesprochen, überhaupt nicht zu berühren. Große Menschen waren immer amoralisch; viele unter ihnen geradezu antisozial — wie sollte man ihnen aus sozialem Blickpunkte überhaupt gerecht werden können!
Als Tat ist — wenn wir von der metaphysischen Bedeutung des Wortes, welche das gesamte Leben umspannt, absehen und uns bei praktisch bestimmbaren Grenzen bescheiden — alles das, aber auch nur das zu betrachten, worin sich das gesamte Wesen der Persönlichkeit ausprägt, worin es sich spiegelt. Aus diesem Gesichtswinkel hat der Begriff für die Theorie, in abstracto, einen unendlichen Inhalt; für das konkrete Individuum dagegen einen engbegrenzten: wohl ist das Leben an sich schon eine Tat, aber nur bei wenigen drückt es sich in dem, was man gewöhnlich als Leben
bezeichnet, vollständig aus. Wie gering ist doch die Zahl derer, die ihre ganze Kraft auf die Gestaltung ihrer persönlichen Existenz setzen! Nur Frauen können das aufrichtig von sich behaupten, und unter Männern bloß die Unfähigen, die Ästheten, oder aber die ganz Großen, bei denen kein Bruch das Werk vom Leben trennte. Das Werk, das indische Karma — das ist es! Nicht auf die Tat im engmoralischen, oder allgemeiner im atomistischen Sinne — die Einzelhandlung — kommt es an; hier herrscht das Zufällige, das äußerlich Bedingte, das Unpersönliche. Nur darnach, worin sich die Persönlichkeit gleichsam als Absolutum spiegelt, in der Projektion des innersten Lebensgesetzes auf die Außenwelt, nur nach der organischen Synthese, welche das Echo des gesamten Organismus bedeutet, nur darnach dürfen wir den ethischen Menschen werten. Dieses Eine, Einzige ist aber das Werk. Nur in dem Werke, in dem, worin der Mensch über sich hinausgeht, drückt sich sein wahres Leben aus — ebenso wie sein eigentlicher Charakter nur in dem, was er stetig, weil aus innerstem Müssen, betreibt, nicht in den zusammenhanglosen Reaktionen, die ihm die krause Willkürlichkeit äußerer Einflüsse abnötigt. Und dieses sein wirkliches Tun und Handeln steht — jetzt sehen wir es deutlich — in der Mehrzahl der Fälle außerhalb der Sphäre des sozialen Tatbegriffs. Für einen Napoleon, einen Bismarck, für alle aktiven Naturen war das Verhältnis zur Gesamtheit allerdings wesentlich — wenngleich nicht in dem Sinne, dass sie an den Menschen handelten, sondern durch ihre Vermittlung schufen, wie der Maler vermittelst der Farben —; für einen Goethe, einen Richard Wagner, einen Leonardo nicht. Goethes wahrhafte Taten waren — wenn wir von der Gesamtheit seines Lebens absehen, denn er gehörte zu jenen wenigen Halbgöttern, die ihre, ganze Existenz zu gestalten vermochten — seine Dichtungen und Gedanken; sein soziales Verhalten war im Vergleich zu diesen durchaus zufällig, unpersönlich; es fiel sozusagen von ihm ab — gemäß der indischen Lehre, dass äußere Handlungen den Wissenden nicht zu tangieren vermögen. Wagner gab sich ganz nur im Musikdrama — im gewöhnlichen Leben äußerten sich bloß Fragmente, ja Splitter seiner Natur —, Leonardo, der universellste Geist, von dem wir wissen, vielleicht in allem, außer seiner bürgerlichen Existenz. Kants ganzes Tun schlug sich in den Kritiken nieder — das Übrige hätten ihm andere geradezu abnehmen können —, für die Heiligen war das Leiden die Tat, oder die beschauliche Kontemplation. Die unglaubliche Banalität der äußeren Lebensumstände, welche die meisten Fürsten des Gedankens charakterisiert hat, beweist allein schon, wie unwesentlich für sie dasjenige war, was den meisten das Leben bedeutet. Und bedürfen wir nun doch eines allgemeinen Begriffes, um die unendliche Mannigfaltigkeit dessen zu umschreiben, worin sich die Ethik des Menschen äußern kann, so finden wir ihn dort, wo ihn wohl die wenigsten vermuten dürften: an der Kunst. Wir haben schon gelernt, die ganze Welt ihres Bereiches zu ermessen; wir wissen, dass nur sie das Innerste des Menschen, seine Eigenart, seinen Charakter spiegelt, dass nur sie das Reinmenschliche und folglich das Einzige ist, wofür der Mensch vor dem Weltall verantwortlich erscheint. Wir sagten, im Werke äußere sich das wahre Leben; jetzt können wir hinzufügen: im Kunstwerk. Und daher kommt die soziale Moral ethisch nur insofern in Betracht, als sie notwendige Schöpfung des Einzelnen ist — sei es im Sinne des Erfindens oder der naturnotwendigen Übernahme. Das Problem des Praktischen dagegen, und folglich auch der Freiheit, umfasst das gesamte menschliche Schaffen, welcher Art dies immer sei. So verstanden wir es bereits im dritten Kapitel; insofern ist die Kunst und nur sie frei.
Jetzt erfassen wir erst die ganze Tragweite der Kantischen Freiheitslehre: sie scheidet das Organische vom Leblosen, das Schaffen des Menschen von seinem natürlichen Sein. Aber da die Freiheit selber eine Form der Gesetzmäßigkeit ist, die dem Umkreise des Naturgeschehens in keiner Hinsicht entrinnt, so ist auch die Kunst ein Teil des Universums, von ewigen Gesetzen innerlich bedingt.
1 | Kritik der praktischen Vernunft p. 106 Anm. (Rosenkrantz). |
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2 | Zunächst sind alle organischen Substanzen unbeständig, ohne Mitwirkung und Direktion des Lebens — sei es in der Zelle oder unter den Händen des intelligenten Chemikers — kämen sie nie zustande, könnten sich nicht erhalten — schon dieser Umstand beweist hinlänglich, dass die Chemie allein das Leben nicht zu erklären vermag; organische Substanzen setzen den Organismus voraus. Aber treten wir der Frage näher: die Kräfte der anorganischen Natur leben und regen sich, bis ein Körper entsteht; mit dem Sein hört das Werden auf, und es kann aus dem Schlummer nur dann erwachen, wenn anderes, mächtigeres Werden das für einmal erreichte Sein zu überwältigen imstande ist. Der Organismus bewegt sich oder lebt schlechtweg gerade dann, wenn er entstanden ist; im Werden offenbart sich das Sein; die Gegensätze der anorganischen Natur werden eins im Leben. In jener bedeutet das Streben nach Gleichgewicht (im chemischen Sinne z. B.) ein Streben nach dem Ende; ist das Gleichgewicht erreicht, so geschieht nichts mehr. Das Leben aber kennt kein Ende, denn auf das chemische Werden folgt erst das eigentlich organische — das Wachstum. Dieses verläuft zwar auf chemischen Wegen, doch führen diese zu Resultaten, welche die bloße Chemie nie und nimmer hervorbringen könnte: nämlich zu morphologischen. Jeder einzelne Augenblick der Assimilation lässt sich nach chemischen Formeln begreifen; Substanzen werden gebildet, andere ausgeschieden — gerade wie bei jeder Reaktion. Bloß würde auf diese, wenn keine anderen Faktoren mitwirkten, Gleichgewicht, Stillstand des Geschehens erfolgen, während sich beim Organismus dieselbe Reaktion ad infinitum wiederholt. Das ist aber ein absoluter Unterschied; diese Art des Geschehens ist geradezu antichemisch, denn anstatt zu vergehen, vermehrt sich die reagierende Substanz während des Reagierens; die Reaktion dauert stetig fort, anstatt sich augenblicklich zu erschöpfen. Und derselbe Umstand ist, aus dem Gesichtswinkel des Ergebnisses betrachtet, zugleich antiphysikalisch; ein Muskel kräftigt sich und wächst durch Übung, während jede Maschine sich durch den Gebrauch abnützt. Aber weiter: dieses fortlaufende Ende chemischer Reaktionen führt im Organismus zu Wachstum und Zellteilung — Resultaten, die mit den angewandten Mitteln genau ebenso viel gemein haben, wie die künstlerische Wirkung eines Gemäldes mit der chemischen Zusammensetzung seiner Farben. Beide Vorgänge sind inkommensurabel; das Gesetz des Wachstums lässt sich aus den Gesetzen der Chemie nicht herleiten. Und frage ich erst nach dem eigentlichen Leben, dem Funktionieren des Organismus, so kann keine Physik mir zu einer Antwort verhelfen — und dieses, trotzdem die Glieder der Tiere ausschließlich nach physikalischen Gesetzen arbeiten; denn der Bauplan, der aus einer Anzahl Muskeln, die sich bloß verkürzen können, ein Bein zu schaffen wusste, das da schreitet (Uexküll l. c. p. 29), ist aus keiner anderen als einer reinbiologischen, mithin formalen Perspektive heraus zu begreifen. So sehen wir denn, dass das Leben überall und in jedem Sinne eine Synthese oberhalb von Stoff und Kraft bedeutet; und deren objektiven Charakter können wir, gemäß unseren Denknormen, nur als Gesetz, als Idee, als Bauplan oder Gestalt begreifen, deren subjektives Korrelat, wie wir im vorigen Kapitel sahen, eben das Subjekt, das Ich ist. |
3 | Um jedem Missverständnisse vorzubeugen, will ich hier bemerken, dass ich unter Handelnnatürlich nicht die konstitutiven (d. h. dem inneren Aufbau dienenden) Reaktionen verstehe, obwohl auch sie im vollen Wortsinne autonom sind. Ich meine nur die unmittelbar nach außen wirkenden Lebensäußerungen. Die anderen — allerdings höchst interessanten — liegen außerhalb unserer augenblicklichen Fragestellung. |