Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt
V. Die Freiheit im Weltzusammenhange
Projektive Geometrie
Vieles ließe sich von hier aus über das Weltgeschehen spekulieren: ist die Evolution und Variation der Organismen, welche scheinbar sprunghaft verläuft und ohne nachweisbare Zwischenglieder Gestalten aneinanderreiht, deren Zusammenhang aus dem konkret Gegebenen, ohne gewaltsame Hypothesen gar nicht begriffen werden kann1, vom Standpunkte der Natur nicht das gleiche Phänomen, wie die Spontaneität, das freie Schaffen des Menschengeistes, das im bewussten Ausdruck gleichfalls sprunghaft fortschreitet und dennoch in Wahrheit lückenlos zusammenhängt? Vielleicht sind noch andere Funktionen der Weltgleichung, als sie der Menschengeist bezeichnet, einer scheinbar spontanen, unvermittelten Weiterentwicklung fähig? — Wissen können wir das nicht. Aber dafür ist uns in der Gewissheit, dass die Voraussetzungen, Postulate und Synthesen, von denen wir ausgehen und die dem Bewusstsein als spontane Einfälle, der objektiven Betrachtung als willkürliche Setzungen erscheinen, in Wahrheit nach mathematischen Gesetzen — denjenigen der Perspektive — notwendig zusammenhängen, eine Erkenntnis von außerordentlicher Tragweite gewonnen. Unsere ganze Freiheit besteht darin, nach unseren immanenten Gesetzen den Mittelpunkt unseres Gesichtsfeldes zu verlegen; der Zusammenhang zerreißt nirgends und bleibt als solcher immer gleich wahr — eröffnet uns das nicht die weitesten Aussichten? — Zunächst ersehen wir jetzt den wahren Sinn und die volle Berechtigung unserer Auffassung der Aufmerksamkeit, des Wandels innerhalb der Persönlichkeit, der Umzentrierung, der Umkehr; wir sagten, der formale Zusammenhang aller Teile des Menschen — das eigentliche Ich — bliebe stets der gleiche, könne aber verschiedene Ausdrucksformen annehmen: das bedeutet nichts anderes, als was wir nunmehr mathematisch begriffen haben. Auch jene Verschiebungen geschehen durch Freiheit, gleichviel ob sie willkürlich oder unbewusst und passiv vor sich gehen; auch sie bedeuten die Ersetzung einstiger Voraussetzungen durch neue, mit den früheren oft gänzlich Inkommensurable. Und andrerseits sind solche Umformungen und Umdeutungen nur dann möglich, wenn das Ich das formale Gesetz des Menschen ist — was einen unzweideutigen, obzwar negativen Beweis zugunsten der These des vorigen Kapitels gibt. Das einzige Rätsel bleibt die Möglichkeit der Umzentrierung und der Spontaneität an sich; dieses ist aber unlösbar, absolut unlösbar und dabei müssen wir uns bescheiden. Goethe sagt:
Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.
Weiter aber besitzen wir nunmehr eine methodische Einsicht von schwer zu überschätzender Tragweite: mancher wird sich darüber gewundert haben, dass wir im Laufe unserer Untersuchung denselben Problemen gegenüber sehr verschiedene Standpunkte einnahmen; die Meisten sind der Meinung, dass immer nur ein Gesichtspunkt richtig
sein könne, dass z. B., wenn Kant recht hat, Wundt oder Mach oder Cornelius gleich in Allem irren müssten, oder dass unsere Betrachtungsart unmöglich mit der Kantischen zusammen bestehen könnte — während mein ganzes Bestreben dahin ging, deutlich zu machen, dass die verschiedensten Perspektiven, sofern sie in sich haltbar sind, sich keineswegs ausschließen, sondern sich ergänzen.
Jetzt, dünkt mich, dürften auch die überzeugtesten Fanatiker der Einseitigkeit, wenn sie nur ehrlich sind und wirklich nach Einsicht streben, nichts Stichhaltiges mehr gegen unser Verfahren einzuwenden haben: es gibt keinen einzig-möglichen
Gesichtspunkt, weil alle Gesichtspunkte durch die bloße Möglichkeit ihrer Einnahme ihre Berechtigung dartun — denn im Menschengeiste wie in der ganzen Natur ist nur das gesetzlich Notwendige möglich. Darum hat sowohl Kant als Mach als Cornelius recht — allerdings nicht in derselben Hinsicht: der Menschengeist kann seinem Wesen nach nicht anders als einseitig verfahren — gerade so wie das Auge — und infolgedessen ist er außerstande, alles von einem Gesichtspunkte aus zu übersehen, was Kant sieht; dafür ist Mach blind, aber deswegen ist Mach nicht für alles blind, und noch weniger können aus seiner Blindheit Schlüsse auf Kant gezogen werden. Möglich und berechtigt ist jede Perspektive, welche in sich wahr ist, d. h. den Denkgesetzen entspricht und dem betrachteten Objekte keine Gewalt antut; über ihren Wert aber entscheidet die Praxis. Manche Aussichten sind zu eng begrenzt, andere zu weit und darum verschwimmend, wieder andere nicht hell genug beleuchtet2 — wir können sie daher verlassen und nach zweckentsprechenderen suchen. Doch dürfen wir ihre Möglichkeit nicht bestreiten; denn auch die Voraussetzungen des Menschengeistes hängen nach Gesetzen notwendig zusammen.
Aus diesem Grunde ist auch unsere Voraussetzung — die formale Einheit des Universums — unanfechtbar. Schon Kant lehrte, sie sei das Korrelat der Einheit des Ich, und an dem Zusammenhang der Natur hat kein verständiger Mensch je gezweifelt. Auch die Zweckmäßigkeit unseres Standpunktes scheint mir außer Frage zu stehen; denn vieles gelang es von dort aus zu übersehen, was aus anderer Perspektive notwendig dunkel und verschwommen bleiben musste. Nur ein Bedenken beharrt noch — es betrifft die Hauptsache, die Methode: ist es wirklich möglich, aus dem Geiste der Mathematik heraus das Universum zu rekonstruieren, das Menschliche zu überfliegen, den objektiven Charakter des Weltgeschehens zu erfassen? Haben wir die Kühnheit unseres Unternehmens wirklich nicht durch gewaltsame Postulate unterstützt, haben wir es uns nicht zu leicht gemacht? — Die künstlerische Bedeutung unseres Baues bliebe trotzdem bestehen; doch bedeutete er dann nicht mehr — was mein größter Ehrgeiz ist — eine kritische Tat. — Auch diese wichtige Frage können wir nunmehr, dank unseren letzten Betrachtungen, entscheiden; es gilt bloß, die Quintessenz alles Erfassten, Gedachten und Erschauten in wenigen Sätzen zusammenzufassen: mathematische Gesetze beherrschen das Universum samt dem Menschen; in immer wechselndem Ausdruck regieren einheitliche Normen die Natur. Der kosmische Zusammenhang spiegelt sich im Geiste, das Weltzentrum strahlt aus dem Ich zurück. Ich und Natur, das Innere und das Äußere, umspannt ein idealer, unendlicher Kreis. Der Geist bedingt nach außen zu die gedachte Einheit des Weltalls; von innen her ist er aber selber durch jene Einheit bedingt. Und diese Erkenntnisse ermöglichte uns das Schema der projektiven Geometrie; wir setzten voraus, dass es anwendbar sei, denn in der Projektion wird das Unfassliche fassbar, dass Unentwirrbare einfach, das Inkommensurable vergleichbar; und die formalen Verhältnisse tangiert die Spiegelung nicht. Die projektive Methode führte uns zu berauschenden Ausblicken, und nirgends begegneten wir Verhältnissen, die uns gezwungen hätten, dem Faktischen Gewalt anzutun, um unsere Prämissen zu retten. Nur Eines fehlte bisher: der kritische Beweis für die Zulänglichkeit der Methode selbst — denn die schönsten Ergebnisse nützten in dieser Hinsicht nichts. Jetzt ist er uns geworden — bei unserer letzten Etappe, beim Studium des Freiheitsproblems, das die Kluft zwischen Natur und Geist am Weitesten zu spannen scheint: der Menschengeist selber operiert unabänderlich nach den Gesetzen der Perspektive, und die Voraussetzungen, die er spontan setzt und aus denen heraus er schafft, die völlig zusammenhanglos und keiner wie immer beschaffenen Begründung fähig erscheinen, sie sind doch nach mathematischen Gesetzen notwendig und lückenlos verknüpft! Jetzt ist kein Zweifel mehr möglich: der Weg, den der Geistesprozess einhält, um Ideen zu verknüpfen, das Empfangene zu verstehen, Unbekanntes vorauszusehen und freie Schöpfungen zu begründen, ist an und für sich kein anderer als derjenige der projektiven Geometrie; wie diese durch Umstellung und Umdeutung der Koordinaten und ihres Mittelpunktes den gleichen Zusammenhang in stets erneuter Gestalt erschaut, so gelangt der Geist seinem Wesen nach nur dadurch zu neuen Errungenschaften, dass er nach projektivischen Gesetzen den unwandelbaren dynamischen Zusammenhang umstellt und umformt und auf andere Zentren bezieht; mehr vermag er nicht. So ist denn die Methode meiner Philosophie die Methode des Menschengeistes, von innen besehen, selbst; wir tun nichts anderes, als den Weg fortsetzen, den die Natur im Menschen, jenseits des Bewusstseins, wandelt.
1 | Keineswegs verhilft dazu die heute beliebte Evolutionstheorie: denn die Interpretation, die sie von dem Tatbestande gibt — mein Angriff richtet sich, wohlbeachtet, nicht gegen die Facta, sondern nur gegen deren Deutung — ist philosophisch alles andere denn einwandsfrei. Um nur auf Eines hinzuweisen: sie geht von der Voraussetzung aus, dass die Arten — Denkmethoden, richtige platonische Ideen — sich materiell auseinander entwickeln. Ideen, die leiblich voneinander abstammen — welch ungeheuerlicher Gedanke! Vielleicht ist folgende Auffassung — die ich heute nur skizzieren kann — sinnvoller: das Leben existiert schlechterdings nur in bezug auf die Außenwelt, die äußeren anorganischen Bedingungen, hängt in jeder Hinsicht von diesen ab. So leben wir Menschen eigentlich nur in bezug auf die Luft — an sich, als absolute, selbständige Wesenheiten gegenüber der Außenwelt dürfen wir uns füglich kaum betrachten. Bei den niederen Tieren, wo das äußere Milieu (das Meerwasser) zugleich das innere bedeutet, tritt dieses Verhältnis noch klarer zutage: wie lässt sich ein lebender Seestern etwa abgesehen vom Wasser, in dem er lebt, verstehen oder gar als absolutes Wesen dem Milieu gegenüberstellen, da dieses Milieu selbst zu seinem Inneren gehört? — Das Leben ist, seinem Wesen nach, stets nur eine Beziehung auf das Leblose, nicht nur ein Relativum, sondern geradezu eine Relation. Selbständig steht es der Natur überhaupt nicht gegenüber.
Darum war es einst auf Erden unmöglich, darum schmückt es wahrscheinlich die wenigsten unter den Himmelskörpern. Seit seinem Aufkommen nun haben sich die äußeren Verhältnisse unseres Planeten sehr wesentlich gewandelt, in der Sukzession der geologischen Epochen; so war die Atmosphäre während der Karbonzeit eine von der heutigen gänzlich verschiedene — wahrscheinlich fehlte sogar das Sonnenlicht, da der Himmel ständig bedeckt war —, und es ist sehr möglich, dass die Chemie der Erdoberfläche in der Trias z. B. von der jetzigen wesentlich abwich. Mit diesen äußeren Wandlungen gehen Veränderungen in den Faunen und Floren nachweislich Hand in Hand. Hier haben die Arbeitshypothesen des Darwinismus und Lamarckismus zu positiven und reichen Ergebnissen geführt: es ist über jeden Zweifel erhaben, dass das Leben sich unter verschiedenen äußeren Verhältnissen entsprechend verschieden ausprägt. Aus dieser Abhängigkeit nun den Schluss zu ziehen, dass das Milieu allein die organischen Typen prägt, wäre gleichwohl völlig verfehlt: allerdings kann das Leben nicht aus dem Organismus an sich verstanden werden — sonst wären die korrelativen Wandlungen dem Milieus gegenüber unverständlich; doch auch nicht aus dem Milieu allein: das Leben kann nur aus dem Zusammenhange von Organismus und Außenwelt begriffen werden. Soviel geht aus dem Tatbestande eindeutig hervor. Wie wäre es nun, wenn dieser Zusammenhang den Sinn hätte, dass unbedingte Korrelation zwischen dem Leben und der Außenwelt herrschte? — Ich meine das weder in dem tatsächlichen, aber oberflächlichen Sinne der äußeren Anpassung, als Mimicry,, Verfärbung usw., noch in dem rohen darwinistischen, dass sich das Leben im Kampf ums Dasein nach statistischen Gesetzen der Umgebung ohne innere Gesetzmäßigkeit anschmiegen sollte — denn die Zweckmäßigkeit ist Grundeigenschaft des Lebens, lässt sich gar nicht weiter ableiten —; ich meine das folgendermaßen: sollte nicht ein inneres Gesetz dergestalt walten, dass das Leben notwendig, kraft seiner immanenten Zweckmäßigkeit, unter verschiedenen äußeren Bedingungen verschiedene Form annimmt, so dass es sich gar nicht dank Zuchtwahl, Überleben des Zweckmäßigsten und anderen mehr oder weniger zufälligen und willkürlichen Umständen wandelt, wenn die umgebende Natur sich ändert, sondern seinem Wesen nach sich korrelativ zu den physikalischen und chemischen Bedingungen modifiziert? So dass der Organisationstypus, der z. B. im Tertiär als Hipparion in die Erscheinung trat, im Quartär aus innerem Müssen die Gestalt des Pferdes annahm, weil unter den neuen Existenzbedingungen und kraft der immanenten Zweckmäßigkeit des Lebens eine andere Gestalt gar nicht möglich war? — Mir scheint diese Betrachtungsart fruchtbarer, als die übliche, weil sie keine |
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2 | Letzteres gilt zumal von der sogenannten immanenten Philosophie, den erkenntniskritischen Anschauungen Ziehens, Cliffords und anderer, welche, an Berkeley anknüpfend, ein bedenkliches, ja geradezu peinliches Gemisch sensualistischer, panpsychistischer und roh-realistischer Tendenzen vertreten. Selbst Bischof Berkeley würde ungern diese Filiation anerkennen; die genannten Theorien sind totgeboren, ganz unfruchtbar, fördern die Erkenntnis nicht, und darum sind sie zum Mindesten überflüssig. Unwillkürlich denkt man bei dieser Lektüre an Kants gutmütige Bemerkung, dass es eben nicht nötig sei, dass ein jeder sich mit philosophischen Fragen befasse. |