Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

I. Die Einheit des Universums

Kraft und Stoff

Die moderne Naturforschung steht unter dem Zeichen der Konvergenz; was einst vereinzelt dastand, jetzt reiht es sich in höhere Zusammenhänge ein, und kein Jahr vergeht, welches nicht neues Material hinzubrächte, um die noch vorhandenen Lücken zu füllen. Es gab eine Zeit, wo die Schwere das einzig feststehende Universalgesetz bedeutete; auch jetzt noch bildet sie das festeste Fundament des Universums, sozusagen ein Skelett, weil sie die allgemeinste, weiter nicht zurückführbare Kraft darstellt, weil sie alles bedingend, selbst unbedingt erscheint1, — aber an das Skelett haben sich mittlerweile die Muskeln angeschlossen. Das Spektroskop enthüllte uns die Einheit des Stoffes durch das ganze Weltall; Maxwell, und nach ihm Heinrich Hertz, wies die Wesensgleichheit von Licht, Elektrizität und Magnetismus nach, welche neuerdings durch Prof. Brauns Experimente endgültig dargetan worden ist. Seit Faradays Zeiten wird die Chemie unaufhaltsam zur Physik, indem sich die chemische Affinität als eine Form der elektrischen Energie erweist und folglich auch physikalisch begriffen werden kann. Und seitdem auch die organischen, die physiologischen Reaktionen sich einer elektrodynamischen Beschreibung erschlossen haben und die Elektrizität sich als dasjenige zu entpuppen scheint, was man in alten Zeiten als Lebensinflux bezeichnete, — seitdem liegt es wohl nahe, eine einheitliche Weltanschauung auf die Elektrizität zu gründen. Da traten noch jene verblüffenden Entdeckungen über die Radioaktivität hervor; zuerst die X-Strahlen Röntgens, dann die Kathoden-, die α-, β- und γ-Strahlen des Radiums, denen sich heute bereits die N-Strahlen der Herren Blondlot und Charpentier angeschlossen haben — alles dieses Entdeckungen, welche ins Grenzenlose hinausweisen und zur Spekulation geradezu zwingen. Eine neue, bisher unbekannte Eigenschaft der Materie hat sich hiermit enthüllt; es scheint, als ob die chemischen Elemente nicht unveränderlich seien — die Entstehung des Heliums aus der Emanation des Radiums gilt für erwiesen — , man träumt von dem Aufbau der Elemente aus Uratomen, und die Elektronentheorie, welche ihre glücklichste Fassung wohl in Joseph John Thomsons Korpuskulartheorie2 gefunden hat, gewinnt täglich mehr Anhänger. Für die Existenz bestimmter Elektrizitätsatome waren schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts viele bedeutende Forscher eingetreten; jetzt erscheint es wahrscheinlich, dass die Materie selbst aus positiven und negativen Elektronen bestehe3, dass das Elektron also ein Atom von Stoff und Kraft zusammen bedeute. Aber dabei hat man sich noch nicht beruhigen wollen dass die Elektrizität sich als das fundamentalste Ingrediens des Universums erweist, sagt noch nichts über ihr Wesen aus. Dieses Wesen hat man nun auch erforscht, und dasselbe in demjenigen, was früher bloß für das Substrat alles physischen Geschehens galt, im Äther4 entdeckt. Der Äther gilt heute vielen für ein statisches Gleichgewicht positiver und negativer Elektronen; damit wäre denn die Materie in Äther aufgelöst.

Wahrlich, einheitlicher war noch kein Weltbild! Eine Substanz, Kraft und Stoff zugleich in sich schließend, bildet die Grundlage des Universums; durch verschiedene Konstellation und Anordnung schafft dasselbe Urelement die ganze farbige Mannigfaltigkeit unseres Weltalls, und das εν χαι παν — einst der tiefsinnige Gedanke spekulativer Geister — es scheint sich als das letzte Resultat wissenschaftlicher Analyse zu ergeben! Ja, großartig ist dieses Weltbild — und klingt es nicht beinahe philisterhaft, wenn ich nun frage, ob es denn auch wirklich standhält? — Ein gewichtiges Bedenken führte ich bereits an: die Gravitation, die fundamentalste Kraft des Universums, lässt sich nicht mit Elektrizität in Zusammenhang bringen, und auch die Chemiker scheinen den neuen Theorien nicht sonderlich geneigt zu sein5 — ein Umstand, der gewiss zu berücksichtigen ist.

Viele, sehr viele Einwände sind noch nicht gehoben… Gut, aber was nicht ist, kann werden, wird man antworten, und dagegen lässt sich nichts sagen: Never to prophesy, unless you know ist das beherzigenswerte Wort eines amerikanischen Lebensphilosophen, und nichts liegt mir ferner, als der Zukunft in sachlichen Angelegenheiten vorgreifen zu wollen. Anders aber steht es, wenn ich der Frage nun vom erkenntniskritischen Standpunkte aus näherzutreten suche. Sehen wir zu, wie sich das moderne Weltbild von hier aus ausnimmt.

Der Äther — von dem noch Lichtenberg6 mit modernen Ohren unglaublich klingender Respektlosigkeit behauptete, er sei der physikalische Scherwenzel und ein Hirngespinst, gerade so wie der Mercurius der Alchemisten, die Weltseele oder der Berggeist — der Äther gilt heute, kurz gesagt, für eine empirisch bestimmte Erscheinung. Zahllose Forscher, besonders in England, und unter diesen die allerbedeutendsten, wie Lord Kelvin, J. J. Thomson, Heavyside, Larmor und andere, haben sich nach mathematischen wie physikalischen Methoden seinem Studium gewidmet, und die meisten seiner Eigenschaften gelten für so weit sichergestellt, dass ein Forscher — ich vergesse, welcher — sich unlängst zu der Behauptung verstieg, wir wüßten von dem Äther mehr als von der Materie. Aber unendlich viele und unerträgliche Widersprüche haften diesem empirischen Äther an:7 schon jener bekannteste, dass er einerseits ein kontinuierliches Medium darstellen, anderseits aus fest ineinander verzahnten positiven und negativen Elektronen bestehen soll, welche durch elektromotorische Kräfte auseinandergerissen werden können, ist schwer zu überbrücken. Diese Widersprüche beweisen nun keineswegs, dass die heutige Äther­konzeption eine absurde ist — wie viele höchst zweckmäßige Theorien, welchen die Wissenschaft die größten Fortschritte verdankt, leiden nicht an Widersprüchen! — sondern nur folgendes: dass, wenn wir gezwungen sind, dem Äther dergleichen Eigenschaften beizulegen, es sich dabei unmöglich um etwas rein Empirisches handeln könne. Und hier möchte ich an Kants posthumes, leider kaum bekanntes Werk erinnern, betitelt Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik.8 Es handelt von denjenigen Prinzipien, welche einerseits den subjektiven Bedingungen der Erfahrung, anderseits aber den bewegenden Kräften der Natur, als Realitäten betrachtet, zugehören.

Der Übergang, so heißt es daselbst, ist der Inbegriff aller a priori gegebenen Verhältnisse der bewegenden Kräfte der Materie, welche zum empirischen System, d. h. zur Physik erforderlich sind. Und anderweitig Es existiert ein Elementarsystem der bewegenden Kräfte der gesamten Materie, als die Basis aller Bewegungen.

Der Übergang handelt von gleichsam zwitterhaften Prinzipien, welche sowohl der transzendentalen, als auch der empirischen Betrachtungsweise zugänglich sind. Als erstes Postulat des Überganges stellt Kant nun den Wärmestoff auf:

Die Existenz des Wärmestoffes ist das oberste Prinzip des Überganges … denn ohne einen solchen Stoff als die Basis aller bewegenden Kräfte, welche zusammen das reale Prinzip einer möglichen Erfahrung ausmachen, würden wir lauter Wahrnehmungen haben und kein Ganzes der Erfahrung, durch bewegende Kräfte omni modo determiniert.

Kant zeigt, dass es einen alldurchdringenden, allgegenwärtigen Stoff geben müsse als Basis aller Materie und aller Bewegung, und führt aus, dass wir gezwungen sind, ein solches Medium anzunehmen, ganz unabhängig von seiner möglichen realen Existenz, weil es für das Erkennen die Grundlage alles physikalischen Geschehens bedeute, und wir mit dem leeren Raume nichts anzufangen wüßten. Imponderabel müsse der Wärmestoff sein, weil er die Grundlage aller Schwere bilde, inkompressibel, weil er die Bedingung der Zusammendrückbarkeit darstelle u. s. f. Anderseits sei dieser Stoff gewiss auch einer empirischen Betrachtung zugänglich, da sein Begriff keiner rein transzendentalen Forderung entspringe.9

Kants Wärmestoff ist nun mit dem heutigen Äther dem Prinzip nach offenbar identisch. Zu seiner Begründung schlug unser größter Philosoph zwar einen anderen Weg ein, als die Physiker; aber er führte genau zu dem gleichen Ziele: es ist dieses eben das Eigentümliche der Grenzprinzipien zwischen Physik und Metaphysik, dass ihnen von beiden Seiten beizukommen ist. Auf empirischem Wege können wir ihnen viel Erkenntnis abgewinnen, nur dürfen wir nie vergessen, dass sie anderseits wieder zu den Bedingungen der Erfahrung gehören, und dass infolgedessen unsere möglichen Erfahrungen unmittelbar von den Voraussetzungen abhängen, welche wir zur Erfahrung gemacht haben.

Was folgt daraus? — Erstens, dass die Widersprüche in der Ätherkonzeption mehr oder weniger belanglos sind, weil der Äther ein Grenzprinzip ist — zwischen Physik und Metaphysik — ebenso wie das Ding an sich ein Grenzbegriff ist zwischen Transzendentalem und Transzendentem, die irrationale Zahl ein Grenzsymbol zwischen Geometrie und Arithmetik, und dass infolgedessen der Äther eine ebenso berechtigte Rolle in der Physik spielen mag, wie etwa ein imaginärer Ausdruck in einer Gleichung. Die zweite und wichtigste Folge aus dem Gesagten ist aber diese: der Äther ist kein empirischer Begriff (d. h. kein Bild eines Erfahrungszusammenhanges); sollte es also wirklich einmal dahin kommen, dass er als die einzige physikalische Wesenheit angesehen wird, so würde damit das Gebiet der Physik überschritten, und man befände sich auf dem schwanken Stege, der von der Physik zur Metaphysik hinüberführt. Das Weltbild würde dadurch vielleicht kein schlechteres (?), nur wäre es kein physisches mehr, sondern ein metaphysisches.

Diese Aussicht ist gewiss nicht unbedenklich; und so stellt sich denn die Frage, ob es wohl zweckmäßig ist, die Vereinfachung und Vereinheitlichung so weit zu treiben? —

Fassen wir aus derselben Perspektive zunächst noch einige weitere Erscheinungen ins Auge. Den Äther will man, wie schon bemerkt, in positive und negative Elektronen auflösen. Gilt nun die Gleichung Äther = Elektrizität, wobei wir uns erinnern müssen, dass der Äther Fundament und Baustein zugleich der Materie sein soll, so bedeutet das, erkenntnistheoretisch gesprochen, eine Gleichsetzung von Stoff und Kraft, so zwar, dass wir nur noch von Kraft reden und vom Stoffe absehen. Was ergibt sich aus dieser Identifizierung? — Unendlich viel Mühe und Arbeit wurde im vorigen Jahrhundert darauf verwandt, die Fernwirkung zu bannen. Man hatte den absolut leeren Raum als unvorstellbar abgewiesen — und jetzt drängt er sich mit Gewalt wieder auf: wenn der Äther aus positiven und negativen Elektronen besteht, so ist der Raum, wie Sir Oliver Lodge mit Recht bemerkt, nicht materiell erfüllt, sondern nur funktionell. Der Äther erfüllt den Raum, wie eine Truppe einen Landstrich besetzt, also nur der Kraft, nicht dem Stoffe nach; materiell gesprochen haben wir wieder den leeren Raum vor uns. Da nun der horror vacui wenigstens dem Menschengeiste angeboren ist, so wird sich mit der Zeit wohl wieder ein neues materielles Substrat einstellen. In der Tat hat Mendelejew, der Schöpfer des periodischen Systems der Elemente, bereits den Versuch gemacht, den Äther unter die Gase aufzunehmen; findet diese Anschauung Anklang, so wäre wieder Platz für einen neuen Äther frei; — doch das nur nebenbei. Tatsächlich herrscht in der Gegenwart das Bestreben, Kraft und Stoff zu einem Konzepte zusammenzuschweißen. Und da dieses nicht ohne weiteres geht, so bekämpfen sich zwei entgegengesetzte Tendenzen; die eine strebt danach, die Kraft zu verstofflichen, die andere, den Stoff in Energie aufzulösen.
Ersteres geschieht dort, wo die Elektrizität, die Kraft par excellence, als stoffliches Fluidum10 betrachtet wird. Da man von Elektrizitätsmenge reden kann, da sie Masse und Trägheit besitzt, kurz die wichtigsten Kennzeichen des Stoffes, da ferner die Radiumstrahlen (zum Teil wenigstens) materieller Natur sind, da man sogar die Größe und Masse eines Elektrons hat nahezu berechnen können — was ist natürlicher, als dass man dort jetzt überall Stoff sehen will, wo man vor kurzem nur von Kraft träumte? — Da ereignet sich aber das Unterhaltende, dass die Verstofflichung der Kraft nun selbst wieder logisch zu einer Verkraftlichung (man verzeihe die Wortbildung) des Stoffes führt! Ist es wahr, wie es Rutherford, Soddy, Thomson, Lodge und Ramsay behaupten und wie es Sir Norman Lockyer auf dem Wege der Spektralanalyse zu bestätigen sucht, dass die chemischen Elemente unter gewissen Bedingungen aufbrechen und in letzter Instanz nur aus einer bestimmten Kombination von Elektronen bestehen; ist es ferner wahr, dass die Elektronen den Raum funktionell und nicht materiell erfüllen — ja wo bleibt dann der Stoff? Die letzte Zuflucht bleibt der Äther, ein Grenzprinzip!

— Man sieht also, die auf diesem Wege gewonnene Einheit lässt sehr viel zu wünschen übrig. Sehen wir jetzt zu, wie es mit dem umgekehrten, dem bloß auf Kraft beruhenden Weltbilde bestellt ist, welches sich heute unter dem Namen Energetik zahlloser Anhänger erfreut. Energie ist im Grunde nichts anderes als Kraft, um eine Etage tiefer gerückt: wenn wir Kraft als Ursache irgendwelchen Geschehens, etwa einer Bewegung, definieren, so ist Energie die Wirkung, welche diese Kraft ausübt, das also, was unsere Sinne unmittelbar affiziert. Die energetische Weltanschauung fußt also nicht auf der Kraft an sich, sondern auf der von ihr verrichteten Arbeit.

Das Gegebene ist, sagt Ostwald,11 der begeisterteste Vorkämpfer der Energetik, was wir durch unsere Sinne erfahren, und diese reagieren nicht auf Kräfte, sondern auf Energien. Schon in diesem Sinne ist also zweifellos die Energie das Ursprünglichere. Aber auch insofern, als sie in Faktoren zerlegt werden kann (Bewegung z. B. in Kraft und Weg), muss sie als das Ursprünglichere angesehen werden.

Ostwald eliminiert folgerichtig den Substanzbegriff, ebenso wie denjenigen der Kraft, und die Welt wird für ihn zu einem Kaleidoskop von Energien — z. B. Formen-, Volum-, Distanzen-, Bewegungs-, Oberflächenenergie — wozu im Organischen noch Nerven- und Bewusstseinsenergie hinzutritt. Für gewisse Zwecke ist nun diese Parterre-Betrachtungsart, gegen welche, abgesehen von einigen argen Ungereimtheiten, aus empirischem Gesichtswinkel nicht gerade viel einzuwenden ist, außerordentlich fruchtbar. Die Ionenlehre, die Theorie des chemischen Gleichgewichts, der Phasen und noch vieles andere, was die wesentlichsten Fortschritte der Chemie innerhalb der letzten Jahre ausmacht, — sie wurden erst durch die energetische Betrachtungsart möglich oder wenigstens fruchtbar. Aber dieselben Vorteile — ich meine Vorteile für gewisse Zwecke — kann schließlich jede Theorie, besonders die von den Energetikern so arg geschmähte Atomtheorie, für sich anführen. Betrachten wir dagegen die Energetik aus höherem, allgemeinerem Gesichtspunkte, so erweist sie sich als völlig unzulänglich. Einige Bedenken hat Eduard von Hartmann12 so treffend formuliert, dass ich sie lieber in extenso hersetze:

Die Leugnung der molekularen und Atom-Mechanik zugunsten der qualitativen Energetik hebt die Einheit der unorganischen Natur und die Möglichkeit auf, sich die innere Energie der Körper als eine in sich gegliederte und bestimmte zu denken. Die Leugnung des Äthers vernichtet die formelle Gleichartigkeit der Energie in allen ihren Erscheinungsformen, weil sie in der strahlenden Energie eine Energieform statuiert, die im Gegensatz zu allen anderen keinen Extensitätsfaktor hat. Die qualitative Energetik muss also auf alle die Erklärungsmittel verzichten, die die Physik bisher aus der Atomistik und der Ätherhypothese geschöpft hat. Sie muss die Übergänge zwischen rhythmischer Übertragung mechanischer Energie, Schallwellen und Ätherwellen ignorieren. Sie hat nur die Wahl, entweder andere, gleichwertige oder bessere Erklärungen an die Stelle der bisher angenommenen zu setzen, oder dem Erklärungsbedürfnis des menschlichen Verstandes gewaltsam Schweigen zu gebieten. Bisher hat sie zu dem ersteren keinen Versuch gemacht; letzteres aber durch Berufung auf ihre Freiheit von Hypothesen zu rechtfertigen, scheint schon darum nicht stichhaltig, weil die einheitliche Energie als Produkt von Faktoren und als Proteus, der die wesentlich verschiedenen Gestalten annimmt, selbst eine Hypothese im eminenten Sinne des Wortes und noch dazu eine höchst bedenkliche, mit vielen Schwierigkeiten und Unbegreiflichkeiten behaftete Hypothese ist.

Die Energetik wird eben ganz unhaltbar, sobald sie dazu dienen soll, eine einheitliche Weltanschauung zu begründen; diese muss vor allem anschaulich sein, Energien sind aber die Negation der Anschauung.

Angenommen, in der Tat, die Welt wäre wirklich nur ein Kaleidoskop sich beständig wandelnder Energien — könnten wir uns eine solche Welt — ehrlich gesprochen — überhaupt vorstellen? Der Wandel wird uns nur dadurch fassbar, dass wir dasjenige kennen, was sich wandelt, oder aber die Ursache des Wandels. Dem Energetiker ist aber der Wandel selbst die letzte Instanz, da er sowohl das Substrat des Wandels, als die Kausalität schlechtweg negiert. Mit dem Werden allein, ohne entsprechendes Sein, kann sich das Erklärungsbedürfnis des Menschengeistes nicht zufrieden geben. Und dann — wenn es uns in der Theorie auch gelingen sollte, ohne Stoff, Materie, Substanz — wie immer wir es nennen mögen — auszukommen: sobald es die Zusammenfassung der konkreten Erscheinungen zu einer höheren Einheit gilt, schleicht sich der Substanzbegriff doch immer wieder ein; wir sind eben außer Stande, mit der Kraft an sich, ohne stoffliches Substrat, fertig zu werden, ebensowenig wie mit dem Stoff allein. Wie bei konsequenter Durchführung des stofflichen Monismus der Stoff sich zuletzt in Kraft verwandelt und die Physik in Metaphysik, so wird umgekehrt, wie ich es an dem Beispiele der Elektrizität andeutete, die Kraft zuletzt zum Stoffe — und so fort in indefinitum; es ist ein ewiger Kreislauf.

Ich hoffe, diese flüchtigen Betrachtungen genügen zum vorläufigen Nachweise dessen, wie wenig die skizzierten Anschauungen geeignet sind, zu einem befriedigenden Weltbilde zu verhelfen. Sowohl der stoffliche Monismus wie derjenige der Kraft muss vollständiges Fiasko machen, wenn es gilt, die Einheit des Weltganzen zu begreifen. Dem Reichtum der Natur werden wir um so weniger gerecht, je ärmer und dürftiger — gewöhnlich sagt man allerdings je einfacher — unsere Grundannahmen sind. Daran ist nichts zu ändern.

Goethe sagt mit Recht: In der Natur ist alles einfacher, als man denken kann, zugleich verschränkter, als zu begreifen ist. Dies gilt im Großen wie im Kleinen.

Fassen wir die gewonnenen Ergebnisse jetzt einmal aus allgemeinster Perspektive ins Auge. Der stoffliche Monismus ist notwendig Atomismus; denn er muss, um der gegebenen Mannigfaltigkeit irgendwie beizukommen, die Welt aus letzten, homogenen Wesenheiten konstruieren. Die Einheitlichkeit wird in die Teile verlegt. Das wesentliche Charakteristikum jedes atomistischen Weltbildes ist nun dessen Diskontinuität. Wir sahen, wie die moderne Ätherkonzeption unweigerlich zur Annahme des leeren Raumes führen musste; zerlegen wir den Stoff bis ins Unendliche, so erhalten wir immer nur diskrete Teile, und wandeln wir diese zuletzt in mathematische Punkte um und deuten sie als Kraftzentra, so haben wir damit nur eine Eselsbrücke geschlagen, welche auf Kosten der Begreiflichkeit und Denkbarkeit Kraft und Stoff zu einer fiktiven Einheit zusammenschmilzt. Je weiter wir die Vereinheitlichung treiben, je mehr wir die gegebene Mannigfaltigkeit der Welt in letzte, gleichartige Bestandteile aufzulösen trachten, desto diskontinuierlicher muss unser Weltbild werden. Und wenn wir den Stoff zuletzt bis zum Äther sublimieren, — was hilft es uns, wenn wir damit, wie ich hoffe gezeigt zu haben, das Gebiet der Physik verlassen und an der Grenze der Metaphysik anlangen? Wir befinden uns zwischen zwei gleich verhängnisvollen Alternativen: wenn wir die Vereinheitlichung konsequent durchführen, so müssen wir entweder die Kontinuität der Welt preisgeben und mit dem leeren Raume rechnen, oder aber wir geben die Physik preis und treiben Metaphysik. Letzteres wird wohl kein ernster Naturforscher beabsichtigen; ersteres hat man zu allen Zeiten getan, und das Verfahren war fruchtbar, solange es die Erforschung begrenzter Erscheinungskomplexe zum Ziel hatte; völlig unzulänglich wird es dagegen, sobald wir uns ein einheitliches Weltbild gestalten wollen. Denn die erkenntniskritische Vorbedingung eines solchen ist die Kontinuität. In der Tat, können wir uns ein in sich zusammenhängendes geschlossenes Ganzes, welches zugleich nicht kontinuierlich ist, überhaupt vorstellen? — Es wäre eine contradictio in adjecto. Führen wir also die stoffliche Vereinheitlichung des Universums konsequent durch, so begeben wir uns in einen unlösbaren Widerspruch mit unserer Absicht selbst: nämlich ein einheitliches Weltbild zu konstruieren; dieses muss stetig sein.

Dieser Bedingung scheint die Energetik allerdings zu genügen; sie wird dem stetigen Verlauf der Erscheinungsreihen durchaus gerecht. Aber dafür ist die Energie ein wesenloses Schema für Empfindungskomplexe, und der tatsächlich vorliegenden Begrenztheit und Diskontinuität innerhalb der sichtbaren Welt vermag sie keine Rechnung zu tragen. Was für einen Schluss müssen wir nun aus all diesen Bedenklichkeiten ziehen? — Keinen anderen, als dass jeder Monismus unzulänglich ist, dass der Menschengeist außerstande ist, Kraft und Stoff ineinander überzuführen, ohne ins Absurde zu geraten — und dieses völlig unabhängig von einer möglichen transzendenten Einheit beider Kategorien. Freilich wissen wir vom Stoffe nur durch Kraftwirkungen — darin sprechen die Energetiker wahr — und von der Kraft nur im und am Stoffe — wie die Atomisten mit Recht behaupten13 — aber doch ist die Vereinheitlichung beider unmöglich, weil Kraft und Stoff in jedem Fall für das Denken selbständige Kategorien bedeuten. Und so können wir mit Lichtenberg14 sagen:

Es ist in der Tat traurig, dass man Menschen mit dem Namen von tiefen Denkern belegt, die unser Wissen bis zu jener (äußersten) Grenze zurückführen, und dann Dinge, die an verschiedenen Endpunkten des Begreiflichen liegen, nunmehr auf ein einziges Unbegreifliches zurückbringen wollen.

Projizieren wir nun die Kategorien Stoff und Kraft ins Räumliche hinaus und suchen wir sie durch ein abstraktes Symbol zu umschreiben, so finden wir, dass der Kraft die Kontinuität, dem Stoff die Diskontinuität entspricht; und diese beiden logisch sich widersprechenden Begriffe, auf welche uns jede Analyse immer führen wird, müssen dennoch in eine Synthese des Weltalls aufgenommen werden, wenn sie weder dem Stoffe noch der Kraft zu nahe treten soll. Immer werden wir genötigt sein, der Materie, gleichviel in welcher Form, eine atomistische Konstitution zuzusprechen,15 und immer werden wir der Kraft bedürfen, um die Kontinuität, welche die Einheit unseres Weltbildes fordert, wieder herzustellen. Somit hat es bis zum Monismus noch gute Wege. Ob und wie es möglich sein wird, die Zweiheit zu einer Einheit zusammenzuschließen — das wollen wir später untersuchen. Zunächst müssen wir die beiden Grundkategorien noch etwas näher ins Auge fassen.

Zugegeben, dass Kraft und Stoff nicht weiter zu vereinheitlichen sind — können wir nicht wenigstens einen Grundstoff und eine Grundkraft annehmen?  — Die Forschungsergebnisse der letzten fünfzig Jahre legen diese Annahme sehr nahe. Die Verwandelbarkeit aller Energien ineinander, die Einheit vieler, welche früher für durchaus verschieden galten — sie steht jetzt fest. Sollte es wirklich nur einerlei Kraft geben?  — Die Zukunft wird das entscheiden; zunächst aber gilt es vorsichtig zu sein. Es erscheint zwar sehr wahrscheinlich, dass alle Kräfte Erscheinungsformen einer Grundkraft sind oder aber Resultanten aus einer Mehrheit jener; aber behaupten können wir es nicht, ohne dogmatische Metaphysik zu treiben. Die Frage nach dem Sein von Kräften ist schon an sich bedenklich, weil eine Kraft — wie Chamberlain es jüngst so schön ausgeführt hat16 — überhaupt nur wird, niemals ist. Sollte es da wirklich ratsam sein, seine Weltanschauung von solchen Voraussetzungen abhängig zu machen, deren Richtigkeit, selbst wenn sie empirisch dargetan werden könnte, in erkenntniskritischem Verstande auf immer zweifelhaft bleiben muss?  — Ich denke nicht. Was wir von der Kraft wissen, ist ihre Wandelbarkeit, und dieser muss ein Gesetz zugrunde liegen — mehr können wir nicht sagen. Wollen wir schon nach unserem heutigen Kenntnisstande ein einheitliches Weltbild skizzieren, so muss darin für eine Mehrheit von Kräften Platz sein. Ob diese im letzten Grunde nur gleichsam verschieden gefärbte Strahlen desselben X darstellen — das darf uns nicht bekümmern. Weit bedenklicher steht es mit der völligen Vereinheitlichung des Stoffes. Die Aussicht ist freilich berauschend, dass der Äther — wie immer man das Urelement bezeichnen mag — durch verschiedene Kombination seiner Atome die chemischen Elemente bildet; die Entstehung des Heliums aus aufgebrochenem Radium ist zum mindesten wahrscheinlich und die Änderung des Spektrums der Elemente bei verschiedenen Temperaturen erwiesen. Schon 1900 wagte es der englische Astronom Sir Norman Lockyer, eine Entwicklung des Anorganischen (Inorganic evolution) zu schreiben, in welcher er eine Entwicklung der Elemente auseinander nach der Temperatur — in einer der Mendelejewschen Skala mehr oder weniger entsprechenden Reihe — nachzuweisen versuchte: auf den heißesten Sternen verrate uns das Spektrum nur die Anwesenheit einiger weniger Elemente — welche, nebenbei bemerkt, auffallenderweise gerade denjenigen entsprechen, welche das Protoplasma zusammensetzen — und mit fallender Temperatur schlössen sich dann die übrigen, anscheinend in gesetzmäßiger Reihe, den ersterschienenen an. J. J. Thomson hat eigentümliche mathematische Zusammenhänge zwischen dem Atomgewicht, der Konfiguration des Spektrums und den Lagerungs- und Gruppierungsmöglichkeiten polar elektrisierter Körper aufgedeckt, und demselben verdanken wir höchst ingeniöse Hypothesen über die Struktur des Atoms. Leider handelt es sich bei alledem zunächst noch um keine Tatsachen, wie verlockend die Theorien auch klingen mögen; und auch von der Aufbruchstheorie der Elemente, wie sie die jüngsten Studien über die radioaktiven Substanzen gezeigt haben, kann man heute nur sagen, dass sie die am wenigsten unwahrscheinliche17 ist; erwiesen ist noch nichts. Vielleicht ist das Radium gar kein Element,18 vielleicht sind alle die kühnen Gedankengebilde unserer Tage nur Träume? — Natura e piena d’infinite ragioni che non furon mai isperientia, sagt Leonardo da Vinci. Der Tag, an dem die Einheit des Stoffes wird proklamiert werden können, ist noch nicht gekommen; so müssen wir denn, wenn wir schon heute ein Weltbild entwerfen wollen, welches nicht von dieser oder jener ungewissen Tatsache abhängt, mit der Mannigfaltigkeit des Stoffes rechnen.

In Stoff und Kraft haben wir demnach zwei Pole gefunden, um welche sich unsere Erkenntnis dreht, welche wir nicht zu einer höheren Einheit zusammenziehen können. Aber in diesen beiden Kategorien ist das Universum noch nicht erschöpft: auch das Leben müssen wir in Betracht ziehen. Es ist eine Erkenntnis, welche — trotz vieler und bedeutender Vorgänger im einzelnen19 — zuerst Houston Stewart Chamberlain in dem Plato-Vortrage seines großen Kantwerkes in klarer Fassung niedergelegt und philosophisch begründet hat, dass das Leben eine dritte, nicht weiter zurückführbare Kategorie bedeutet, welche durch Kraft und Stoff nicht erschöpft noch ersetzt werden kann. Chamberlain verwirft sowohl den Begriff der Lebenskraft, wie den der organisierten Materie, er zeigt, wie das Leben zwar in Kraft und Stoff sich äußert, an sich aber eine höhere Einheit darstellt, und weist überzeugend und in glänzender Weise nach, wie jede Reduktion des Lebens auf andere Elemente zu Absurditäten führen muss. Obwohl diese bahnbrechende Erkenntnis noch so jung ist, dass sie den wenigsten bekannt sein dürfte, muss ich hier gleichwohl auf eine Wiedergabe von Chamberlains Ideen verzichten und sie als Voraussetzung benützen; den Leser aber bitte ich eindringlichst, mir diese Voraussetzung nicht aufs Wort zu glauben, falls sie ihm noch unbekannt sein sollte, sondern sie im Original nachzuprüfen.

Das Leben ist also ein drittes, welches, ebenso wie Kraft und Stoff, nicht hinwegzudisputieren, noch weiter zu zerlegen ist, welches wir also als völlig selbständigen Faktor im Weltbilde berücksichtigen müssen20. Dagegen können wir von dem Leben dasjenige fest behaupten, was wir bei Kraft und Stoff nur vermuten konnten21: dass es eines, eine Einheit ist. Gleichviel, in welcher Gestalt es sich verkörpert, gleichviel, ob alles Leben eines Ursprungs ist oder nicht — dadurch, dass wir von einem Gegenstande aussagen, er besitze Leben, ist er völlig eindeutig bestimmt. Und diese Einheit besteht nicht nur im begrifflichen, sondern vor allem auch im tatsächlichen Sinne: das gesamte Leben in seinen Milliarden von Verkörperungen bildet doch ein organisches Ganzes. Gleichwie jedes Organ, jeder Teil des einzelnen Lebewesens in seinem Leben wie seiner Entwicklung von jedem anderen Teil sowohl als der Gesamtgestalt abhängt — man nennt diese Erscheinung Korrelation — so herrscht auch unter allen Individuen und Arten unbedingter Zusammenhang. Pflanzen bedürfen der Insekten zu ihrer Befruchtung, und diese entnehmen dafür jenen ihre Nahrung; von den Insekten hängt die Existenz zahlloser anderer Tiere ab, welche wiederum anderen zur Nahrung dienen — um von der fundamentalen Korrelation zwischen Pflanzen- und Tierwelt in bezug auf die Sauer- und Kohlenstoffassimilation gar nicht zu reden. Alles, alles ist Zusammenhang — die Verhältnisse sind so bekannt, dass ich sie nicht näher zu schildern brauche — und die erstaunlichen Erscheinungen der Symbiose, der Mimicry, usw. bezeichnen doch nur die auffallendsten Beispiele desjenigen, was alles Leben wesentlich charakterisiert. Das Leben ist ein Kosmos für sich …

… Ja, wäre die ganze Welt ein Organismus, dann hielte es leicht, ihre Einheit zu begreifen, sie als Kosmos zu erkennen — so wie die Griechen das Wort verstanden! Kraft und Stoff sehen wir im Dienste des Lebens; keine Lebensäußerung, welche nicht nach und in diesen beiden Kategorien verliefe, und doch machen sie das Leben selbst nicht aus. Es herrscht — ein für die Erkenntnis transzendentes Prinzip — über alle die Faktoren, welche die anorganische Welt ausmachen; es schließt sie zur Einheit zusammen, wo sie an sich vielleicht antagonistisch sein mögen, und Kraft und Stoff werden eins im Leben! Auch die Antinomie von Kontinuität und Diskontinuität, wie sie dem anorganischen Weltbilde immanent ist — hier sehen wir sie gelöst: das Leben selbst ist eine stetige Einheit, im Nebeneinander sowohl als im Nacheinander. Ersteres im Zusammenhang und der Korrelation der Organismen untereinander, letzteres in der Sukzession der Generationen. Und doch herrscht Diskontinuität zwischen den einzelnen Lebewesen: jede Gestalt ist ein Wesen für sich, scharf begrenzt; und der Tod scheidet die Generationen. Und ferner wäre die Welt ein Organismus, dann kämen wir nicht in Versuchung, atomistische, überhaupt monistische Erklärungsversuche anzustellen. Wir würden es uns nicht einfallen lassen, alles in gleiche Bestandteile aufzulösen, Kraft und Stoff zu vereinheitlichen, das Universum als Summe von Atomen oder Energien zu betrachten. An Stelle der Addition dächten wir sofort an Ergänzung, Kompensation und ließen es uns nicht weiter anfechten, wenn wir auf Mannigfaltigkeiten in betreff des Stoffes und der Kraft stießen: der Begriff der Arbeitsteilung ist ja jedermann geläufig, und das Leben jedes Einzelwesens herrscht doch über eine Vielheit und Mannigfaltigkeit von Lebenseinheiten: die Einheit in der Vielheit, wie sie Plato lehrt. Ja, wenn die Welt ein Organismus wäre …

Weltseele, komm, uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.

Leider ist an diese Auffassung im Ernste nicht zu denken alle die hylozoistischen Träume — deren vielleicht schönsten noch Gustav Theodor Fechner geträumt — sie verwehen zu nichts, sobald man sich darüber klar wird, was die Ausdrücke organisch und Leben denn wirklich bedeuten. Wer sich dessen einmal bewusst geworden ist — und niemand hat mehr zur Klärung dieser Begriffe beigetragen, als H. S. Chamberlain — der mag von der Allbeseelung, diesem ästhetischen Äquivalent der Mitleidsmoral, dieser zart und duftig klingenden philosophischen Roheit, nichts mehr wissen. Wohl ist es wahrscheinlich, dass das Leben ein kosmisches Phänomen und nicht an unseren kleinen Planeten gebunden ist; aber den Kosmos selbst für belebt zu halten, das wäre Wahnwitz. Wenn es eine Weltseele gibt, so ist sie keinesfalls mit dem organischen Lebensbegriff zu erschöpfen. Anorganische und organische Welt sind schroff voneinander geschieden, und die Einheit, welche wir voraussetzen müssen, wenn wir an die Einheit des Universums glauben — sie muss mit der Koordination von Kraft, Stoff und Leben rechnen, welche drei Kategorien ihrerseits einem letzten und höchsten Prinzipe — welcher Art dieses auch sei — untergeordnet sind. Also nicht Kraft und Stoff im Leben, wie beim Organismus, sondern Kraft, Stoff und Leben müssen die Faktoren sein, aus welchen die oberste Einheit des Weltalls besteht.

1 Alle Versuche, die Gravitation auf andere Kräfte, z. B. elektrodynamische, wie es Mosotti (1836), Tisserand (1872) und Zoellner (1876) unternahmen, zurückzuführen, sind als gescheitert zu betrachten. So schrieb Professor John Poynting (Nature, vom 23. August 1900):
No attack an gravitation has succeeded in showing that it is related to anything but the masses of the attracting and the attracted bodies. It appears to have no relation to physical and chemical condition of the active masses or the intervening medium … This unlikeness, this independence of gravitation of any quality but mass, bars the way to any explication of its nature.

Für die Gravitation sind alle Körper durchsichtig, sie pflanzt sich mit unendlicher Geschwindigkeit fort, sie wirkt in die Ferne und, wie Stallo sagt (l. c. 54):

Die Wirkung in die Ferne, deren Unmöglichkeit die Theorie zu behaupten sich genötigt sieht, erweist sich als eine letzte, auf Grund der Prinzipien des Stoßes und Drucks einander unmittelbar berührender Körper nicht weiter erklärbare Tatsache.

Und Arrhenius sagt in seinem Lehrbuch der Kosmischen Physik (S. 88):

Es ist wohl eine sonderbare Erscheinung, dass diejenige Naturkraft, welche wir am genauesten durch Rechnung verfolgen können, das größte Rätsel in physikalischer Hinsicht darbietet.

Mir scheint dessen Lösung dennoch nicht unmöglich — freilich in anderem Sinne als gewöhnlich gemeint wird —; vielleicht gestattet man mir eine etwas ausführlichere Betrachtung alle agierenden Kräfte in der Natur sind polaren Charakters; so gibt es z. B. positive und negative Elektrizität — zwei Erscheinungsformen der einen Kraft, die nur korrelativ zueinander existieren, sich gegenseitig kompensieren, sich wie rechts zu links zueinander verhalten. Nur die Gravitation bildet — trotz Kants entgegengesetzten Postulates — eine Ausnahme: es gibt keine negative Schwere. Warum? — Nun, weil die Gravitation gar keine Kraft im selben Sinne wie die Elektrizität bezeichnet. Niemand wird vernünftigerweise eine negative Kohäsion postulieren; nicht so sehr deswegen, weil sie zu den sog. toten Kräften, d. h. denjenigen gehört, welche keine Beschleunigung erfahren können, als aus dem Grunde, weil Kohäsion nichts anderes besagt als die dynamisch gefasste Tatsache der Körperlichkeit. Mit der Bestimmung, ein Körper werde durch Kohäsion zusammengehalten, wird dem Begriffe des Körpers gar nichts hinzugefügt. Erst wenn ein durch Kohäsion bestehender Gegenstand zu anderen Gegenständen in Beziehung gesetzt wird, erst dann können polare, d. h. überhaupt eigentliche Kräfte auftreten denn die Polarität setzt eine Relation relativer Faktoren voraus, ein Körper, an sich bei betrachtet, ohne Bezugnahme auf andere Objekte, ist aber ein Absolutum. Was die Kohäsion dem Körper ist, das bedeutet die Gravitation für das Universum; von negativer Schwere ließe sich allenfalls dann reden, wenn das Universum als Ganzes einem anderen Universum begegnete — eine Hypothese, mit der wir uns nicht weiter zu befassen brauchen. Die Schwere ist der dynamische Ausdruck für die Tatsache des Universums, für dessen Erforschung die Voraussetzung — und darum bleibt sie der Physik natürlich ein Rätsel. Sie ist eben gar keine richtige empirische Kraft, sondern sie gehört recht eigentlich — wie Kant richtig erkannte — in die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft. — Freilich nicht in dem Sinne, dass sie eine transzendentale Erfahrungsbedingung bedeutete: denn der Menschengeist ist ihr nicht unterworfen. Wohl aber die transzendentale Existenzbedingung des Universums als Erscheinung, die oberste Synthese, welche sich nicht weiter erklären noch zurückführen lässt — wie das die Physik allmählich wohl zugeben wird. Was — nebenbei bemerkt — im Geistigen der Schwerkraft entspräche — vielleicht wirklich entspricht — ist die Liebe zu sich selbst, der Drang zur Selbsterhaltung. Lichtenberg sagt:

Die Attraktion scheint bei der leblosen Materie das zu sein, was die Selbstliebe bei der lebendigen ist.
2 Siehe vor allem J. J. Thomsons Electricity & Matter, Westminster 1904; desgleichen sein umfangreiches Werk The Conduction of Electricity through Gases, Cambridge 1903.
3 Siehe z. B. Sir Oliver Lodge Modern views an electricity S. 416, die Schriften J. J. Thomsons, Rutherfords und Soddys. Eine sehr klare Zusammenfassung der betreffenden Theorien findet sich in Lodges Modern Views an Matter (The Romanes Lecture, Oxford 1903) und in J. Stark Die Dissoziierung und Umwandlung chemischer Atome. Braunschweig 1903.
4 Vgl. Lodge Modern views an electricity S. 18, 247, 407, 416 usw. S. 416 fasst Lodge sein Weltbild folgendermaßen zusammen:
One continuous substance filling all space, which can vibrate as light, which can be sheared into positive and negative electricity, which in whirls constitutes matter and which transmits by continuity and not by impact, every action and reaction of which matter is capable.
5 So vor allem der berühmte Mendelejew; in seiner letzten Schrift (A Chemical conception of the ether 1904) sagt er S. 17:
In recent years there has been much talk about the divisions of atoms into more minute electrons, and it seems to me that such ideas are not so much metaphysical as metachemical.

Und — um nur einen unter vielen zu nennen — Wilhelm Ostwald meint (Elements & Compounds, The Faraday Lecture, 19. April 1904)

The chemist will look at these structures with due respect indeed, but with some reserve. Long experience has convinced chemists that every hypothesis taken from another science ultimately proves insufficient. They are adapted to express certain sides of his, the chemis’s, facts, but, an other, not less important sides, they fail, and the end is inadequacy.
6 Physikalische und mathematische Schriften, Bd. IX S. 377. (Ausgabe von 1803.)
7 Vielleicht interessiert es den einen oder den anderen, wenn ich eine kleine Anthologie der Haupteigenschaften des Äthers zusammenstelle Herrschel (Familiar lectures etc. pag. 282) postulierte einen diamantharten Äther; heute gilt er den Physikern für gewisse Zwecke als vollkommene Flüssigkeit, für andere als vollkommenes Gallert, für weitere als eine Flüssigkeit in Wirbelbewegung (s. Pearson. The Grammar of Science, pag. 263); Pearson hat eine Theorie von ether squirts and ether sinks aufgestellt, nach welcher es auch negativen Äther geben muss. Für Sir Oliver Lodge ist er ein incompressibles, aber äußerst elastisches Fluidum, welches wesentlich stetig ist; für Joseph Lamor (Aether and Matter, pag. 77) ein kontinuierliches Fluidum, in welchem die Atome als Kerne schwimmen und ähnliche Rollen spielen, wie der Zellkern im Protoplasma. Lord Kelvin hält den Äther neuerdings (Baltimore Lectures an molecular dynamics, 1904) für an elastic medium with finite rigidity but perfectly labile as regards compression, und derselbe hat seinerzeit das Gewicht (?) des Äthers berechnet und dafür den beiläufigen Betrag von 0,000,000,000,000,0001 g für den Kubikmeter gefunden. J. J. Thomson endlich vertritt die Überzeugung (Electricity and Matter pag. 51), dass der Äther eine unendlich viel größere Dichte besitze als alle übrigen Substanzen; für diesen Forscher ist er überdies nicht stetig, sondern er besitzt eine Fibrillarstruktur, dank den faraday-tubes, welche wie Fäden das Continuum durchsetzen (l. c. pag. 63). Endlich hat Mendelejew eine chemische Äthertheorie aufgestellt. Trotz alledem muss der Äther überdies noch ein alles durchdringendes Medium sein und alle diejenigen Eigenschaften nicht besitzen — wie Gewicht, Undurchdringlichkeit, Trägheit — welche die Materie wesentlich charakterisieren, da der Äther eben nicht Materie sein soll.

Ich begnüge mich mit dieser Auslese. Wenn diesem Äther wirklich etwas in der Natur entspricht, so beweisen uns die heutigen Auffassungen jedenfalls eines: wie entfernt wir noch von einem widerspruchslosen Weltbilde sind; und bildet er wirklich eine Grundkraft, so erkennen wir wieder die tiefe Wahrheit der Worte Kants (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft Lehrsatz 7, Anm. I):

Dass man die Möglichkeit der Grundkräfte begreiflich machen sollte, ist eine völlig unmögliche Forderung; denn sie heißen eben darum Grundkräfte, weil sie von keiner anderen abgeleitet, d. h. überhaupt nicht begriffen werden können.
8 Dieses hochbedeutsame Werk ist bis heute nur einmal — und auch dort leider nicht vollständig — abgedruckt worden in den Jahrgängen 1882-86 der Altpreußischen Monatsschrift, die sehr schwer zu beschaffen sind. Leider habe ich mir bei dem einzigen Male, wo ich das Werk in Händen hatte — im British Museum — den Ort der Zitate nicht notiert. Es steht wohl sehr zu wünschen, dass diese letzte und in mancher Hinsicht größte Tat des greisen Kant einem größeren Leserkreis nicht länger vorenthalten bleibt.
9 Auf eine Diskussion und nähere Begründung dieser Auffassungsart kann ich mich hier nicht einlassen. Einiges wird das 3. Kapitel erläutern; im übrigen muss ich bitten, das Gesagte vorläufig hinzunehmen, bis ich einmal Gelegenheit finde, in einer anderen Schrift die Frage des Übergangs ausführlich zu behandeln.
10 S. Lodge Modern views an electricity pag. 18. Selbstverständlich wird man immer eines stofflichen Trägers der elektrischen Energie bedürfen, aber zwischen einem Träger und der Identifizierung mit demselben besteht dennoch ein Unterschied.
11 Vorlesungen über Naturphilosophie, 1902 pag. 175.
12 Die Weltanschauung der modernen Physik, 1902 pag. 196.
13 Charakteristisch ist die Definition, welche der große James Clerk Maxwell für Stoff und Energie aufstellt:
We are acquainted with matter only as that, which may have energy communicated to it from other matter and which in its turn may communicate energy to other matter. Energy, an the other hand, we know only as that which in all natural phenomena is continually passing from one portion of matter to another.

Und ein seltenes Maß philosophischen Einblicks verrät Mendelejew, wenn er zu den modernen Einheitsbestrebungen bemerkt (A chemical conception of the ether, pag. 35):

When I am told that the doctrine of unity in the material of which the elements are built up responds to an aspiration for unity in all things, I can only reply that at the root of all things a distinction must be made between matter, force and mind. (Statt mind stünde besser life.)
14 l. c. pag. 133.
15 Drude sagte auf dem Physikerkongreß zu Paris im Jahre 1900:
Quelle que soit l’hypothèse à laquelle an soit conduit sur la nature de la matière, elle ne saurait différer en principe de l’hypothèse atomique.
16 Siehe den Exkurs im fünften Vortrage seines Immanuel Kant. München 1905.
17 Dieses Urteil vernahm ich aus dem Munde Henri Becquerels selbst, des Entdeckers der Uranstrahlen.
18 Das Thorium ist mittlerweile durch Professor Baskersville in Carolina in zwei Elemente (Carolinium und Berzelium) zerlegt worden. (Beilage zur Allgemeinen Zeitung Nr. 84, 1904.) Und neuerdings vertritt auch Rutherford (Nature vom 16. Juni 1904) die Ansicht, dass das Radium eventuell ein Desaggregationsprodukt aus den anderen schweren Elementen der Pechblende darstelle.
19 Wohl kein wahrhaft denkender Mensch hat je an der Selbständigkeit und Einzigkeit des Lebens, an der Unmöglichkeit gezweifelt, es auf andere Faktoren zurückzuführen. Dem Dogma von der schrankenlosen Einheit des Naturgeschehens — wie es fast die gesamte Wissenschaft des 19. Jahrhunderts angenommen hatte — dass nämlich in den lebenden Wesen durchaus keine anderen Faktoren wirksam seien, als einzig und allein die Kräfte und Stoffe der unbelebten Natur, lassen sich die Anschauungen von Goethe, Kant, Schopenhauer, Schelling, Karl Ernst von Baer, Pasteur, Justus Liebig, Johannes Müller, Lord Kelvin, ja sogar Rudolf Virchow — um nur einige wenige zu nennen — entgegenhalten, und heute scheint endlich eine gesundere Strömung die Oberhand zu gewinnen. Man gelangt zur Einsicht, dass der Vitalismus noch nie widerlegt worden ist (cf. Neumeister, Betrachtungen über das Wesen der Lebenserscheinungen. Jena 1903, pag. 9), und täglich wächst die Zahl derer, welche — wie Gustav Wolff, J. v. Uexküll, Driesch, Reinke, Breuer, Frederic Houssay u. a. — von einem rationelleren Gesichtspunkte aus an die Lebenserscheinungen herantreten. Zwar wird es gewiss noch lange dauern, ehe die Wissenschaft ihre monistischen Vorurteile, welche sie dem naiven Menschenverstande, dem Leben und Leblosigkeit nun einmal grundsätzlich verschieden erscheinen, stolz entgegenhält, wird endgültig überwunden haben, obwohl der Philosoph Charles Renouvier sehr mit Recht bemerkt hat:
La véritable science ne craint pas de distinguer là où le peuple, où l’humanité distingue, parce que pour elle la synthèse suit et précède l’analyse, loin d’en être jamais exclue;

doch dämmert wenigstens die wahre Erkenntnis, und so steht ernstlich zu hoffen, dass Chamberlains Ideen, welche vor zwanzig Jahren wohl kaum Beachtung gefunden hätten, auf fruchtbaren Boden fallen werden. Nichts wirkt ermutigender in dieser Hinsicht, als J. von Uexkülls herrlicher Leitfaden in die vergleichende Biologie der Wassertiere, Wiesbaden 1905, der mir leider erst während des Drucks dieser Zeilen zu Gesicht gekommen ist. Uexkülls Voraussetzungen sind mit den Chamberlainschen identisch, und da Uexküll zu den anerkannt bedeutendsten Biologen unserer Zeit gehört, so dürfte seine Autorität der Verbreitung von Chamberlains Ideen auf erfreuliche Weise zustatten kommen. Jedenfalls sei der Leitfaden jedermann aufs wärmste empfohlen; den allgemeinen Teil wird auch der Laie mit Verständnis lesen können.

20 J. Reinke, welcher höchst gesunde Anschauungen über das Wesen der Lebenserscheinungen vertritt, sagt (Die Welt als Tat, 1904, 5.459) in ähnlichem Zusammenhange:
Die geringste Zahl von Grundkräften, die wir nötig haben, um die Welt zu begreifen, ist die Zweiheit. Wir brauchen neben der Energie — wenn wir derselben die Materie einmal zurechnen — noch die Intelligenz.

An Stelle des Ausdrucks Intelligenz verwende ich lieber denjenigen des Lebens, welches doch die Bedingung des Geistes darstellt. Dass nicht eine Zweiheit, sondern eine Dreiheit tatsächlich erforderlich ist, das hat Chamberlain (I. c.) sehr schön dargetan.

21 Kraft und Stoff, obwohl Begriffe so allgemeinen Inhalts, dass sich alles nur Mögliche, abgesehen vom Leben, unter ihnen begreifen lässt, implizieren dennoch keine so eindeutige Definition, wie der Begriff Leben es tut. Die verschiedenen Kräfte und Stoffe weisen allerorts tiefgreifende, spezifische Differenzen auf, und durch die Definition eines Gegenstandes als Kraft oder Stoff wissen wir so gut wie gar nichts über seine wirklichen Eigenschaften, da diese von einem zum anderen in jeder nur denkbaren Form wechseln. Die spezifischen Eigenschaften des Lebens sind dagegen immer die gleichen, und die Unterschiede betreffen im Grunde nur Einzelheiten.
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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