Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

II. Kontinuität und Diskontinuität

Objektivität der mathematischen Erkenntnis

Ordo et connexio idearum idem
est ac ordo et connexio rerum.

Spinoza

Dem Leser, welcher das erste Kapitel aufmerksam durchlas, wird sicherlich eines aufgefallen sein — gleichviel ob er sich im übrigen zustimmend oder ablehnend zu der dargelegten Betrachtungsart verhielt: dass ich mich, durchgehends mathematischer Gedankengänge und Beispiele bediente und scheinbar nicht das geringste Bedenken trug, die Folgerungen, die sich im Mathematischen aus ihnen ergaben, auf die weitesten Zusammenhänge anzuwenden. Ist das nun möglich? Darf man wirklich aus der projektiven Geometrie Schlüsse auf die Erkennbarkeit des Weltalls ziehen? Ergeht es mir nicht am Ende ähnlich wie Spinoza, der more geometrico die Existenz Gottes zu beweisen unternahm, oder dem Bernard Bolzano, dem geistvollen böhmischen Mathematiker und Gottesgelehrten, welcher die Logik in eine objektiv gültige Wissenschaft verwandeln wollte und von Sätzen an sich träumte, deren Inhalt von der Form, von Subjekt und Objekt, ja selbst von der Möglichkeit des Gedachtwerdens unabhängig sei?

Hierüber gilt es zunächst Klarheit zu gewinnen.

In Vorhergehendem waren wir zum Ergebnisse gelangt, dass an eine materiale Einheit von Denken und Welt nicht zu denken sei, und dass diese Einheit — falls sie überhaupt existiert — nur eine formale sein könne — ein Ergebnis, welches nur eine Wiederholung dessen bedeutet, was seit den Tagen der Griechen jedermann bewusst sein sollte. Dem Menschengeiste stehen nun bloß zwei Wege zu Gebote, um der formalen Seite des Geschehens beizukommen: der logische und der mathematische. Wie völlig unzulänglich der erstere ist, das haben Plato und Kant für immer dargetan — ich sage für immer trotz des stets erneuten Hervortauchens jenes ungeheuerlichen Wahngebildes, welches in Gestalt von Hegels Naturphilosophie noch vor fünfzig Jahren das Denken der Menschheit sterilisierte1. Die Logik operiert hauptsächlich mit den Sätzen der Identität und des Widerspruchs, sie ist eine analytische Wissenschaft; vom Sein zum Nichtsein, vom selben zum anderen — um in Platos Sprache zu reden — überzugehen, das vermag sie nicht. In der gesamten Natur aber findet sich dieser Übergang, die Synthese des Unterschiedenen, des sich logisch Widersprechenden. Schon die Hellenen mussten das erfahren — sie, denen die Worte noch als Dinge galten, welchen der Logos als Weltprinzip die verständlichste Grundannahme bedeutete, die kraft ihrer spezifischen Denkart keine andere Einheit als die rationelle verstehen konnten. Und aus dem Ringen mit der großen Aufgabe, dieses Paradox zu begreifen und zu erklären, entspross Platos Ideenlehre, welche im Gesetze, der Beziehung das Band statuierte, welches das an sich Heterogene zur Einheit zusammenschließt. Die Geometrie aber war es, welche Plato den Weg zur Erkenntnis wies; sie lehrte ihn die synthetische Methode, und der große Grieche dachte so hoch von ihrem Erkenntniswerte, dass er als oberstes Gesetz der Akademie die bekannte Forderung festsetzte: άγεωμέτρητος είσίτω. Und wieder war es die Geometrie, welche Kant die Lösung der fundamentalen Frage verriet, ob und wie synthetische Urteile a priori möglich seien, eine Frage, welcher die Logik ohnmächtig gegenüberstand; und auch er traute dieser Wissenschaft das Höchste zu, als der einzigen, deren Erkenntnisse unmittelbar gewiss seien, das Wissen bereicherten und sich auf die gesamte Natur anwenden ließen. Nicht die Logik also, sondern allein die Mathematik ermöglicht uns, den formalen Zusammenhang des Naturgeschehens zu begreifen.

Was ich hier sage, ist jedem von uns längst in Fleisch und Blut übergegangen; keinem würde es mehr einfallen, die Wahrheit dieser Behauptung anzufechten. Doch musste ich das Thema wenigstens berühren, da wir nun einen weiteren Schritt unternehmen müssen: jetzt gilt es die Antwort auf die Frage zu finden, warum denn die Mathematik und nicht die Logik dem Weltgeschehen gerecht werden kann? — Die häufigste Antwort, dass die Logik eben nur für unser Denken und nichts anderes gälte und daher jede Anwendung auf andere als gedachte Zusammenhänge unmöglich sei, ist durchaus unzulänglich; denn ja auch die Mathematik schöpft ihre Gewissheit bloß daraus, dass sie es mit den Denkformen zu tun hat — in dieser Hinsicht besteht also kein wesentlicher Unterschied. Die andere Antwort aber, dass die Mathematik eine synthetische, die Logik eine analytische Wissenschaft sei, erklärt wohl, warum unter den formalen Wissenschaften nur jene unsere Erkenntnis bereichern kann, darüber aber, warum die Mathematik so offenbar gewisse Erkenntnis in allen Zweigen des Geschehens ermöglicht, sagt sie nichts aus. Und gerade dieses ist es, was wir wissen wollen.

Von Kants transzendentalem Standpunkte aus kann diese Frage nicht entschieden werden; dieser ermöglicht uns immer nur den Einblick in die Seite eines allseitigen Zusammenhanges, welche das Erkennen des Subjektes betrifft, und unsere Frage betrifft offenbar eine andere Seite. Sie gehört wiederum zu denjenigen, welche nur der Standpunkt der Mitte, oder, im bildlichen, der zweite Spiegel beantworten kann, der uns Natur- und Denkgesetze gemeinsam zu überblicken gestattet. Daher gilt es, von vornherein einen anderen Ansatz zu finden.

Erinnern wir uns zunächst der Definitionen, welche Kant für Philosophie und Mathematik aufstellt. Kant nennt Philosophie Wissenschaft aus Begriffen, Mathematik Wissenschaft aus Konstruktion der Begriffe2; beide befänden sich gleichsam auf demselben Niveau, da sie das Formale zum Objekt hätten, aber beider Gebäude seien durchaus verschieden. Fassen wir beide Wissenschaften jetzt von unserem Standpunkte aus scharf ins Auge!

Wir erkannten, dass die Kategorien des Universums, wie sie sich dem Denken vor allem in denjenigen der Kraft, des Stoffes und des Lebens darstellen, nicht ineinander überzuführen sind; wir erkannten gleichfalls, dass uns von allen möglichen Kategorien, wie Kant es bewiesen, nur das Bild, die Erscheinung, in unserer Sprache also nur die Projektion auf das Leben zugänglich ist, und dass unsere Gedanken und Begriffe, wenn es ein oberstes Gesetz alles Geschehens gibt, wohl dessen Folge bedeuten mögen, aber auf seine anderen Funktionen ohne weiteres gewiss nicht übertragbar sind. Wohl also dürfte der menschliche Begriff von Schönheit oder Harmonie eine Funktion desselben Gesetzes sein, welches im Universum die für unser Auge schönen und harmonischen Verhältnisse schafft; aber diese beiden Funktionen sind keineswegs identisch. Aus diesem Gesichtswinkel betrachtet sind nun die menschlichen Begriffe durchaus subjektiv; sie sind es genau in demselben Sinne, wie die Farbenempfindungen subjektiv sind im Verhältnis zu den objektiven Wellenverhältnissen des Lichtäthers. Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Gleichnisse. Die Theorie der spezifischen Sinnesenergien behauptet, wie bekannt, dass der Sehnerv alle Eindrücke der Außenwelt, wie immer sie beschaffen sein mögen, als Lichtempfindungen vermittelt, das Ohr als Schallempfindungen usw. Ob die Theorie richtig ist, kümmert uns hier nicht, daher können wir getrost die Annahme machen, es gehe irgend etwas, ein x, in der Außenwelt vor sich, und dieses selbe x, in der Gesamtheit seiner Äußerungen werde von allen Sinnen zugleich perzipiert, so zwar, dass das Auge Licht sieht, das Ohr einen Schall vernimmt, die Nase es riecht u. s. f. Das Resultat aller dieser Eindrücke wäre nun keineswegs eine einheitliche Gesamtempfindung, obwohl das Reaktiv eines war; denn Licht-, Schall-, Geruchs-, Tast-, Temperaturempfindungen, wie sie alle heißen mögen, sind absolut nicht miteinander zu vergleichen. Das hohe C hat mit der Farbe Violett und dem Dufte des Veilchens radikal nichts Gemeinsames; mathematisch gesprochen, die verschiedenen Eindrücke wären inkommensurabel. Und weiter: unsere Weltanschauung beruht wesentlich auf dem Auge; wir deuten alle nur möglichen Verhältnisse in visuelle um — wie etwa die Tonhöhen in Wellenlängen — und schaffen dadurch die Einheit, welche anders für die Sinne nicht existieren würde. Nun könnte es sehr wohl Wesen geben, deren Weltanschauung ausschließlich auf dem Gehöre fußte — unsere größten Musiker weisen den Weg zu dieser Vorstellung — und sie schüfen sich auf ihre Weise eine gewiss ebenso befriedigende Einheit, wie es uns für das Auge gelingt; die Weltanschauung des Vorstehhundes, wie vieler anderer Tiere, beruht zweifelsohne wesentlich auf dem Geruchssinne — und ähnliches ließe sich für alle anderen Sinne ausdenken; angenommen nun, diese völlig verschieden zentrierten Philosophen seien von ganz gleicher Begabung und hätten genau dieselben Gedanken, so könnten sie sich dennoch niemals verständigen; denn ihre Weltanschauungen wären inkommensurabel. In demselben Sinne nun, meine ich, sind die menschlichen Begriffe auf die übrigen Kategorien des Universums nicht zu übertragen, obwohl sie alle Erscheinungsformen desselben Gesetzes sein mögen. Vom kosmischen Standpunkte mögen sich die Formen des begrifflichen Denkens zu denjenigen des Stoffes oder der Kraft nicht wesentlich anders verhalten als beim Menschen die Gesichts- zu den Schallempfindungen; wie bei diesen kein gegenständlicher Vergleich möglich ist, weil jede Basis dazu fehlt, so braucht sich auch der Begriff mit seinem Objekte keineswegs in anderem als symbolischem Sinne zu decken; an sich sind unsere Denkschemen und die Realitäten der Natur qualitativ voneinander verschieden. Darum kann uns eine Wissenschaft aus Begriffen immer nur ein Bild des wahren Zusammenhanges liefern und a priori nicht vielmehr Anspruch auf Genauigkeit erheben, als dieses etwa für ein Gemälde möglich wäre, welches die Sonate pathétique getreulich wiederzugeben vorgäbe; die Mechanik der Begriffe aber, wie sie die Gesetze der Logik darstellen, ist ganz und gar außerstande, irgendeinen anderen Zusammenhang als eben einen logischen auszudrücken; ihre Gesetze gelten nur für sie. Wenn die Welt nicht endlich ist, so folgt daraus für die Logik ihre Unendlichkeit; ein Drittes gibt es nicht. Doch ist es trotzdem wahrscheinlich, dass sie weder das eine noch das andere ist — die Antinomien beweisen es — da jene Begriffe nur den Notwendigkeiten des Lebens entstammen, folglich nur für dieses sicher zulangen, und nichts uns dafür steht, dass ihnen irgendeine transiente Realität zukommt. Da der Mensch, als er die Sprache erfand, zwischen Menschlichem und Universalem noch nicht zu scheiden wusste, so ist das Gegenteil wahrscheinlicher. Jedenfalls sind die logischen Antithesen nicht erschöpfend. Den Satz des Widerspruchs könnte man z. B. dem Farbenkontraste vergleichen: sagt nun ein Farbenkontrast — etwa zwischen Rot und Grün — nur das Geringste über einen Gegensatz in anderen Hinsichten aus? — Gewiss nicht; und weil eine Rose und ein Papagei beide rot sind, so sind sie deswegen doch nicht identisch, wie es, ins Logische zurückgedeutet, der Satz der Identität verlangen würde.

Jetzt ist es, dünkt mich, recht deutlich, warum und inwiefern das Formale am begrifflichen Denken, die Logik, auf das Formale des Naturgeschehens keine Schlüsse zulässt. Die Logik bedeutet das schlechthin Subjektive, gleichsam die Farbe des Denkens, dasjenige also, was auf keine andere Kategorie als das Leben — und auch auf diese nur insoweit sie im Denken zum Ausdruck gelangt — anzuwenden ist.

Nun nahmen wir aber in unserer Hypothese an, dass das x, welches in jedem Sinnesorgan verschiedene Empfindungen hervorruft, dessen Bilder also völlig disparat sind, an sich stets ein und dasselbe bleibt. Gibt es gar keinen Weg, diese Einheit zu erkennen? Gibt es nicht irgend etwas allen Gemeinsames, woran, platonisch gesprochen, alle an sich noch so verschiedenen Empfindungen teilhätten? Gewiss; es ist das Gesetz, die Relation, welche in allen noch so verschieden gefärbten Erscheinungen stets als dasselbe zum Ausdruck gelangt. Violette Strahlen, die wir sehen, und ultraviolette, die dem Auge verborgen bleiben, sind für dieses offenbar unvergleichbar; und ebenso die Farbe mit den chemischen Wirkungen, welche das unsichtbare Licht auslöst. Dennoch ist es sehr wohl möglich, beide Strahlengattungen zu vergleichen, wenn wir nur das Verhältnis der Wellenlängen in Betracht ziehen und vom Sinnlichen absehen. Und wäre — unserer Hypothese entsprechend — ein gleiches x denkbar, welches Auge und Ohr zugleich affizierte, so wäre es möglich, in den Verhältnissen der x-Wellen die Einheit zu erkennen, die Auge und Ohr nie zu fassen vermöchten. Wir gelangen zur Einheit also dadurch, dass wir vom Konkreten, vom Anschaulichen abstrahieren und einen gedachten, intelligiblen und zugleich rein formalen Zusammenhang, der das Konkrete bedingen soll, konstruieren, durch die Konstruktion eines begrifflichen Verhältnisses. Die Wissenschaft aus Konstruktion der Begriffe ist aber die Mathematik.

So sehen wir, dass die Mathematik einen einheitlichen Zusammenhang dort festzustellen vermag, wo alle anderen Erkenntnismöglichkeiten versagen3. Aber wie? Sie operiert ja gleichfalls mit Begriffen, und erkannten wir diese nicht als das schlechthin Subjektive? Gibt auch sie infolgedessen nicht mehr als ein Bild des wahren Zusammenhanges? — ja und nein; ja, weil sie die tatsächlichen Verhältnisse in eine dem Denken entsprechende Form fasst; nein, weil es mir scheinen will, als blieben die Verhältnisse wesentlich erhalten, als sei das Bild ein Spiegelbild des wahren Zusammenhanges, also eine wesentlich unverzerrte Projektion. Hierauf müssen wir näher eingehen; denn es handelt sich um eine grundlegende Erkenntnis.

Die Logik hat es zwar mit dem Formalen des Denkens zu tun, doch betrifft dieses Formale immer ein Materiales4: wenn in einem Satze zwei Begriffe in Zusammenhang gebracht werden, welche sich logisch widersprechen, so liegt der Widerspruch nicht in der Form des Zusammenbringens an sich, sondern in dem Sinn, dem Inhalte der Begriffe: Wahrheit und Irrtum z. B., einander gegenübergestellt, widersprechen sich nur, sofern beiden Worten der übliche Sinn unterliegt; sonst nicht. Und ebenso betrifft der Satz der Identität nicht eine formale Gleichsetzung — formal lassen sich auch widersprechende Begriffe gleichsetzen — sondern eine Identität des Inhalts, des Materialen, der logisch in Beziehung gesetzten Begriffe. Das Formale der Logik gilt demnach nur in bezug auf das Materiale des Denkens, den Sinn, die Bedeutung der Begriffe. Mit anderen Worten, die Logik handelt von Denkgesetzen nur, insofern sie Gedanken betreffen, vom Denken nur, insofern von Verstehen die Rede ist. Sie hat es also eigentlich nicht mit der Form des Denkens an sich, sondern mit derjenigen des richtigen Denkens oder genauer des Verstehens zu tun. Vom kosmischen Standpunkte ist aber das Verstehen des Menschen eine schlechtweg subjektive Erscheinung, so wie beim Menschen die Farbenempfindung etwas durchaus Subjektives darstellt, welches trotz aller entsprechenden Eindrücke von außen her nicht eintreten kann, wenn das aufnehmende Sinnesorgan versagt. In dieser Richtung wäre daher alles Suchen nach dem Objektiven in der Erkenntnis unmöglich.

Anders steht es mit der Mathematik; ihre Begriffe sind mit den bis hierher betrachteten keineswegs identisch. Um dem Leser von der Bedeutung mathematischer Symbole von vornherein ein richtiges Bild zu geben, will ich zuerst drei führenden Mathematikern selbst das Wort erteilen:

En analyse, sagt Cauchy5, on appelle expression symbolique ou symbole toute combinaison de signes algébriques qui ne signifie rien par elle-même, ou à laquelle an attribue une valeur différente de celle qu’elle doit naturellement avoir. Und Couturat6 sagt: Qu’on ne se méprenne pas sur la signification du mot Symbole: il ne signifie pas, comme dans l’usage ordinaire, un objet qui représente un autre objet; tout au contraire, dans le langage mathématique un symbole est une expression qui n’a pas de sens par elle-même, un signe qui ne signifie rien.

In der Mathematik existiert eben ein Begriff nur kraft der Definition oder sofern er definiert ist, während ein philosophischer z. B. schon an und für sich einen Inhalt hat, der durch die Definition bloß erläutert und umgrenzt, aber nicht eigentlich geschaffen wird. Und wie wenig auch die Geometrie, welche doch auf der Anschauung fußt und von der man wohl glauben möchte, dass sie sich für das Konkrete ihrer Konstruktionen — das Äquivalent der Bedeutung im Begrifflichen — interessiert, wie wenig auch sie auf das Materiale ihrer Erkenntnisart Bezug nimmt, das bezeuge folgender Ausspruch Poincarés7:

Le géomètre cherche toujours plus ou moins à se représenter les figures qu’il étudie, mais ces représentations ne sont pour lui que des instruments; il fait de la géométrie avec de l’étendue comme il en fait avec de la craie; aussi doit-on prendre garde d’attacher trop d’importance à des accidents qui n’en ont souvent pas plus que la blancheur de la craie.

Wir sehen also, wie fundamental der Unterschied ist zwischen den Begriffen, Konstruktionen und Symbolen des logischen Denkens und denjenigen der Mathematik: die Mathematik abstrahiert völlig von der Bedeutung der Symbole, mit denen sie operiert. Ob x eine Kraft, Beschleunigung, Zeit, Masse — was auch immer bedeutet, bei der Konstruktion ihrer Gleichungen ficht sie das nichts an. Sie berücksichtigt nur den rein formalen Zusammenhang der Erscheinungen, welche sie in die Gleichung bringt, ohne Bezugnahme darauf, was das materiale Substrat des Formalen sein möge, was und ob sich etwas bei den Symbolen denken lässt. Während also die Logik mit den Begriffen selbst operiert, deren Inhalt sie stets im Auge behalten muss, hat es die Mathematik mit ihnen selbst gar nicht zu tun, sondern nur mit ihrem gesetzmäßigen Zusammenhange. Wie ein Mathematiker8 sich ausdrückt:

Es muss in der Tat, wenn anders die Geometrie wirklich deduktiv sein soll, der Prozess des Folgerns überall unabhängig sein vom Sinn der geometrischen Begriffe, wie er unabhängig sein muss von den Figuren; nur die in den benutzten Sätzen, bzw. Definitionen niedergelegten Beziehungen zwischen den geometrischen Begriffen dürfen in Betracht kommen.

Mit anderen Worten: die Mathematik kümmert sich nicht um Gedanken, sondern bloß um Denkgesetze, nicht um die Möglichkeiten des Verständnisses, sondern bloß um die Notwendigkeiten des formalen Gedankenverlaufes. Somit ignoriert die Mathematik das gesamte menschlich-sinnliche Weltbild und interessiert sich ausschließlich für die Gesetze, nach welchen es zustande kommt. Das war der Grund, warum Plato so überschwenglich hoch von ihr dachte: die Mathematik verkehrt direkt mit der Ideenwelt, und die φλυαρία des Erscheinenden bleibt ihr fremd. Trotzdem gingen wir irre, wenn wir nun glaubten, alles Subjektive (im früher präzisierten Sinne) sei in der Mathematik ausgeschaltet: allerdings operiert sie mit den reinen Formen des Erkennens ohne Bezugnahme auf deren möglichen Inhalt; aber andrerseits ist sie gezwungen, ihre Darlegungen diesen selben Formen entsprechend zu gestalten, weil wir ihnen sonst nimmer zu folgen vermöchten, und somit ist ihr Gewand, ihre Farbe wiederum subjektiv. Dennoch bedeutet dieser Umstand kein ernstliches Hindernis: versinnbildlichen wir uns, wie wir’s früher schon taten, die menschlichen Begriffe durch Farben, und stellen wir uns in diesem Zusammenhange etwa ein rotes Dreieck vor: so würde der Begriff oder eine Wissenschaft aus Begriffen nur das Rote erkennen; die Mathematik, die Wissenschaft aus Konstruktion der Begriffe, zwar ein rotes Dreieck, aber immerhin ein Dreieck; sie zeigt uns nicht nur die Farbe, wie das Denken, sondern gefärbte Zusammenhänge.

Jetzt sind wir soweit, die Objektivität der mathematischen Erkenntnis begreifen zu können: die Mathematik handelt bloß von den Gesetzen unseres Denkens, nicht von Gedanken; sie formuliert, ohne Bezugnahme auf die Realität, die Verhältnisse und Beziehungen, welche den Menschengeist regieren; in Kants Worten: sie operiert mit Konstruktionen von Begriffen, nicht mit Begriffen selbst. Diese verschwinden hier in demselben Sinne, wie es die materiellen Punkte tun, wenn man sie in mathematische umwandelt. Daher ist die Mathematik zunächst zweierlei: erstens eine Abstraktion aus der Physik und eine Ökonomie des Denkens — denn sie sublimiert alles Materiale, bis die bloße Form des Geschehens übrig bleibt, und gewinnt hierdurch die Möglichkeit, höchst komplizierte und mannigfaltige Zusammenhänge durch einfache und eindeutige Formeln auszudrücken und zu beschreiben, was eine enorme Ersparnis an Zeit und Mühe bedeutet; sie ist eine aus der Erscheinung — das Wort im weitesten Sinne genommen — abstrahierte Methode. Sodann aber der unmittelbarste Ausdruck des Reinmenschlichen: denn sie operiert mit den reinen Denkgesetzen, ohne Rücksicht auf die Realität oder das Konkrete überhaupt, wodurch sie, aller Schranken bar, ins Unendliche schweifen, ins Überschwängliche verallgemeinern, die grandiosesten Gebäude konstruieren kann — ohne dass sie von außen her je widerlegt zu werden vermöchte. Sie fußt eben im Menschengeiste allein, als Absolutum betrachtet, auf seinen immanenten Formen; ihre Induktionen und Verallgemeinerungen sind richtig und unfehlbar, weil sie es nur mit dem Menschlichen zu tun hat und über das Außermenschliche gar nichts präjudiziert9; und wenngleich sie erst an der Erfahrung wirklich wird, so beruht doch ihre Möglichkeit auf nichts anderem als auf dem Geiste selbst, jenem aktiven Prinzipe, das alle Erfahrung schafft und folglich aus dieser nicht abgeleitet werden kann. Darin besteht die Apriorität der Mathematik, an welcher übrigens kein klardenkender Mensch — ich sage das bei voller Kenntnis der modernen empiristischen Deutungsversuche — je gezweifelt hat10.

Das ist aber nur die eine Seite: wohl schaffen wir die mathematische Wissenschaft, aber die Gesetze, welche jene Schöpfung allererst ermöglichen und auf welchen sie fußt, schaffen wir nicht; diese sind uns gegeben, wir übernehmen sie gleichsam in dem Augenblicke, wo der Verstand zum ersten Male erwacht, ja wir können von ihnen nicht einmal abstrahieren, sofern wir uns bei unseren Konstruktionen irgend etwas denken wollen; denn dass zwei mal zwei fünf machen sollte, ist für unsere Begriffe — trotz aller transfiniten Gleichungen, trotz der antieuklidischen Geometrien — absolut unmöglich: jene Gesetze gehören zum Wesen des Menschen, sie schließen ihn gleichsam ab. Sie bedingen sein Denken, lenken seine Phantasie; sie liegen sozusagen diesseits des Denkens, in jener Region, wo die Natur allein waltet, wohin wir nur auf Umwegen durch Ideen gelangen können — im Wesen des Lebens selbst. Und suchen wir nun trotzdem einen Einblick in dieses Verhältnis von außen her zu gewinnen — was gewahren wir? — Die Grundgesetze der Mathematik sind die Gesetze des Menschengeistes — des Menschengeistes nicht nur nach außen zu, zum Erkennen, sondern auch nach innen zu, als Naturprodukt, als abgeschlossenes Objekt betrachtet; sie sind nur insofern reinmenschlich, als das Menschliche Ausdruck des Natürlichen, des Universalen ist — nicht menschlich im Gegensatz zur Natur; sie regieren den Menschengeist im selben, unbedingten Sinne, wie der Bauplan das Sein und Wirken jedwedes Organismus beherrscht; sie sind der begriffliche Ausdruck dessen, was der Mensch, als ein Teil der Natur ist. Und da der Mensch nur eine spezielle Erscheinungsform des Lebens bezeichnet, welches im Wesentlichen überall einheitlich und eines ist; da alles dafür spricht, dass dessen allgemeine Gestaltungsgesetze das Leibliche wie das Geistliche regieren, dass es hier keine prinzipiellen Unterschiede gibt; da wir ferner annehmen müssen — falls es eine Einheit des Universums gibt, was wir ja voraussetzen —, dass auch das Leben dem formalen Zusammenhange des Weltalls angehört — und einen solchen können wir uns nur auf eine Art vorstellen11 —: so können wir jetzt nicht umhin, den Schluss zu ziehen, dass allerdings die Mathematik und nur sie imstande sein muss, den objektiven Zusammenhang wiederzugeben; denn sie bezeichnet die einzige dem Menschen unmittelbar gegebene Funktion des obersten Gesetzes alles Geschehens.

Die Mathematik gibt uns also kein Bild des Zusammenhanges, in dem Sinne, wie es die Begriffe tun, sondern sie ist dieser Zusammenhang selbst, so wie er sich im Menschengeiste ausdrückt und spiegelt12. Die Gesetze der Mathematik sind Funktion und Spiegel zugleich der Gesetze des Universums; ersteres als Ausdruck derselben Beziehungen, welche den menschlichen Leib ebenso wie seinen Geist und im letzten Grunde wohl die ganze Natur beherrschen, letzteres indem sie, die Projektion des Weltgeschehens in sich aufnehmend, die Brücke zwischen Naturnotwendigkeit und Verständnismöglichkeit herstellen. In diesem und nur in diesem Sinne besteht das Wort Spinozas13 zu Recht:

Ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum.

Jetzt begreifen wir die Möglichkeit der Darstellung alles Geschehens in der Natur durch mathematische Formeln: die Mathematik handelt nicht bloß von den abgeleiteten Funktionen der obersten Weltgleichung, als welche wir die formalen Verhältnisse der menschlichen Geistestätigkeit betrachten, sondern sie ist zugleich eine dieser Funktionen, und deswegen sind wir imstande, die anderen Funktionen durch sie auszudrücken: so wie φ¹ aus φ sich herleitet und umgekehrt von φ¹ auf φ geschlossen werden kann.

Somit haben wir an der Mathematik das Mittel gewonnen, uns dem Zusammenhange der Natur zu nähern, ohne befürchten zu müssen, in Anthropomorphismus zu verfallen. Wenn es ein oberstes Gesetz gibt, so muss die Mathematik imstande sein, eine Gleichung für dasselbe aufzustellen; und umgekehrt, die Erkenntnisse dieser Wissenschaft dürfen wir ohne Scheu auf das Formale alles Geschehens, welcher Art es auch sei, umdeuten, da sie ja selbst einen Ausdruck desselben Formalen darstellt. In diesem Sinne möchte ich meine Behauptung im vorhergehenden Kapitel verstanden wissen, dass die Projektion des Universums auf das Leben wohl imstande sein müsse, den wahren Zusammenhang unverzerrt wiederzugeben: die Mathematik ist Funktion des Weltgesetzes, und ebenso wie φ¹ durch φ darstellbar ist, oder im Geometrischen das Unendliche im Endlichen, die Fläche in der Linie und diese im Punkte — als Projektion — so dürfte auch das Weltgeschehen in mathematischer Fassung formulierbar sein; das Wesen der Mathematik bürgt für die Zulänglichkeit der Metapher.

Ich sage absichtlich Metapher — ebenso wie ich kürzlich im selben Zusammenhange das Wort Umdeuten an Stelle von Anwenden benutzt habe: noch sind wir nicht in der Lage, alle Qualitäten so weit zu sublimieren, dass sie eine rein formale Behandlung zuließen, und solange dieses nicht der Fall ist, können wir uns der. mathematischen Sprache, wo es sich um Qualitäten komplizierter Art handelt, nur metaphorisch bedienen. Dabei aber vermag uns keine feste Regel zu stützen; es bedarf des Instinktes, um nicht zu sagen des Taktes, um nicht anstatt fruchtbarer Ideen hohle Phantasmen zu produzieren. Und beim Leser muss ich andrerseits eine gewisse Intuitionskraft voraussetzen, welche ihm spontan das Verständnis gewisser Synthesen und Zusammenhänge eröffnet, die durch noch so sorgfältig abgewogene Argumentation in Worten kaum plausibel zu machen sind. Wenigstens zunächst muss ich das; das Problem ist so schwierig und bedeutungsvoll, dass es rein aus sich selbst, ohne indirekte Beleuchtung durch konkretere und leichter lösbare Probleme, kaum eigentlich gefasst werden kann — diese Beleuchtung kann aber erst später stattfinden. Und außerdem will ich offen gestehen, dass ich selbst für den Augenblick nicht mehr zu sagen wüßte; das Vorgetragene bedeutet einen vorläufigen Abschluss. Manches Weitere wird sich im Lauf unserer Untersuchungen finden, vieles Wichtige muss unberührt bleiben. Es geht nicht anders; im Übrigen möchte ich mir aber folgendes Wort aus der Vorrede zur Instauratio magna des Francis Bacon zu eigen machen:

De nobis ipsis silemus: de re autem, quae’ agitur, petimus: ut homines eam non Opinionem, sed Opus esse cogitent!.
1 Wer sich über die Unzulänglichkeit der Logik in allen anderen als logischen Fragen nicht völlig klar sein sollte, dem empfehle ich das vortreffliche Buch Gaston Milhauds: Essai sur les conditions et les limites de la certitude logique. Paris 1898.
2 Der Wortlaut der betreffenden Stelle der Vernunftkritik (Methodenlehre, I. Hauptstück, 1. Abschnitt p. 552 der Rosenkrantzschen Ausgabe) ist folgender:
Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunfterkenntnis aus Begriffen, die mathematische aus Konstruktion der Begriffe.

Die Definition ist gewiss nicht einwandfrei oder ausführlich genug (wie der Meister sagen würde), da wahre Philosophie gerade so sehr auf der Anschauung fußt und nur etwa die Hegelsche sich mit vollem Rechte als Vernunfterkenntnis aus Begriffen bezeichnen dürfte. Kant war hier wohl absichtlich einseitig, um den Gegensatz zwischen Philosophie und Mathematik deutlicher hervortreten zu lassen. Doch kommt es für unsere Zwecke nicht darauf an; gerade das Unzulängliche der Bestimmung wird für uns produktiv werden.

3 Folgender naiv-geniale Ausspruch des großen Roger Bacon dürfte im Zusammenhange mit dem hier Vorgetragenen nicht ohne Interesse sein:
Es gibt mancherlei, das wir gerade hin und leicht erkennen; anderes aber, das für uns verborgen ist, welches jedoch von der Natur wohl gekannt wird. Dergleichen sind alle höheren Wesen, Gott und die Engel, als welche zu erkennen die gemeinen Sinne nicht hinreichen. Aber es findet sich, dass wir auch einen Sinn haben, durch den wir das gleichfalls erkennen, was der Natur bekannt ist, und dieses ist der mathematische; denn durch diesen erkennen wir auch die höheren Wesen, als den Himmel und die Sterne, und gelangen auf diesem Wege zur Erkenntnis der übrigen erhabenen Naturen, und zwar auch auf eine einfache und leichte Weise.
(Goethes Übersetzung.)
4 Ich meine selbstverständlich nur die klassische, die aristotelische Logik, und wenn ich trotzdem von Logik schlechtweg rede, so darf ich dies aus dem Grunde, weil außer den Fachleuten nur wenige mit der modernen — die übrigens seit sehr kurzer Zeit erst, vornehmlich in Italien und England, aufzukommen beginnt — vertraut sein dürften; nur für jene trifft das Gesagte zu. Diese, die moderne Logik, ist etwas ganz anderes; sie umschließt sowohl die klassische Logik als auch die Mathematik, beide einem höheren Zusammenhange einverleibend; sie deckt die allgemeinsten Denkgesetze und -prinzipien auf, von jedem möglichen Ausdrucke abstrahierend, und in bezug auf diese ist — da ja alle Geistestätigkeit, wie immer sie beschaffen sein mag, ursprünglich einem geistigen Zusammenhange entstammt — sogar die Mathematik eine angewandte Wissenschaft — und sei es auch nur auf Raum und Zeit. Heutzutage wird sie geradezu als ein Zweig der reinen Logik definiert. Näher kann ich das hier nicht auseinandersetzen; ich verweise auf die Schriften Pieris, Peanos, Whiteheads, besonders Bertrand Russels Principles of Mathematics, Cambridge 1903, und auf die Artikelserie Louis Couturats, erschienen in verschiedenen Heften der Revue de métaphysique et de morale ab Januar 1904. Wollte ich streng exakt sein, so müsste ich in folgendem natürlich reine Logik statt Mathematik und klassische Logik anstatt Logik schlechtweg sagen; die moderne Logik ist ja noch formaler — sofern ein solcher Komparativ möglich ist — als die Mathematik. Doch änderte diese Umdeutung nichts Wesentliches, und für unsere Zwecke kommt wirklich nur die reine Mathematik in Betracht. Nur noch eine Bemerkung für Fachmänner:
Das Bestreben der neuesten Mathematik geht dahin, ihre Grundlagen möglichst von aller Anschauung zu säubern und auf rein logische Prinzipien zurückzuführen. In vielen Hinsichten ist dies bereits gelungen, ob in allen, weiß ich nicht: doch zweifle ich nicht an der theoretischen Möglichkeit dieses Unternehmens. Nur scheint mir der tiefere Sinn dieser erstrebten Vereinheitlichung gar nicht, wie viele wähnen, darin zu liegen, dass die Anschauung durch Denken, durch Logik, das Konkrete durch Abstraktes ersetzt wird; das mathematische Denken, Kombinieren und Produzieren wird in jeden konkreten Falle doch immer von den Axiomen der Anschauung ausgehen, verständlich werden die bestfundierten logischen Sätze erst durch Rekurrenz auf anschauliches Material, in erkenntniskritischem Verstande bleiben die alten Grundlagen dennoch das Primäre, und wenn man erfährt, dass das Konzept der Zahl logisch demjenigen der Größe vorangeht, oder dass sich die (synthetische) Idee der Kontinuität auf diejenige der Ordnung zurückführen lasse, so ist das zwar ebenso richtig, aber auch ebenso hoffnungslos paradox, wie die weitere Wahrheit (cf. Couturat R. de mét. et de mor. XII, 5, p. 829), dass der absolute projektivische Raum (mit unendlich viel Dimensionen) einfacher sei als der euklidische — denn er bedarf zu seiner Definition einer geringeren Anzahl von Postulaten! Die logische Einfachheit ist eben oft tausendmal komplizierter als das verschränkteste Anschauungsobjekt, und überdies deckt sich die logische Ursprünglichkeit keineswegs mit der erkenntniskritischen. Nein, der wahre Sinn besagter Vereinheitlichung — und so ist sie von allerhöchster philosophischer Bedeutung — ist folgender: die Anschauung kann freilich nicht auf gleichem Niveau zweckmäßig und befriedigend durch Denken ersetzt werden; das wird hier auch gar nicht bezweckt: die moderne Logik strebt danach, die allgemeinsten Prinzipien und Gesetze aufzudecken, welche sowohl der Anschauung als dem Denken (im Kantischen Sinne) vorangehen; also die gemeinsame Wurzel beider Grundstämme menschlicher Erkenntnis zu definieren. Und da sich das Gesetzliche nur abstrakt fassen lässt, so muss sie natürlich, wie paradox dies auch klingen mag, auch zu den intuitiven Wahrheiten logische Grundlagen suchen: diese Vergewaltigung ist durch die Gewaltsamkeit des Unternehmens, hinter den immanenten Dualismus menschlicher Erkenntnisart zu blicken, notwendig bedingt. Nur auf diese Weise gelingt es, alle Zweige der Mathematik sowohl als der Logik im populären Wortsinne auf einige wenige formale Grundprinzipien zurückzuführen. Darum darf man nicht von einer Ersetzung der Anschauung durch Logik reden, noch weniger behaupten, man habe auch für die Praxis einfachere Grundlagen gefunden; in erkenntniskritischem Verstande existieren sie gar nicht, sie haben eben nur logische Bedeutung. Doch ist die bloße Möglichkeit, soweit durch bloße Begriffszergliederung zu gelangen, von eminenter philosophischer Bedeutung.
5 Cours d’Analyse 1821 ch. VII § 1.
6 De l’infini mathématique Paris 1896 p. 70.
7 La science et l’hypothèse 1903 p. 29.
8 Pasch, Vorlesungen über neuere Geometrie, 1882 p. 98.
9 Aus demselben Grunde sind die Induktionen der Physik nicht unfehlbar: in der Mathematik können wir sicher verallgemeinern, weil wir den Zusammenhang unserer Gesetze zu überschauen vermögen und die Mathematik es nur mit diesen zu tun hat. Dagegen fehlt uns die Übersicht über den Zusammenhang des Universums, welcher nicht in unserem Kopfe allein liegt. Er ist uns nicht gegeben, und das wäre die notwendige Voraussetzung, wenn die Induktionen und Verallgemeinerungen der Physik ebenso unfehlbar sein sollten wie die mathematischen. Wir können gegenüber der Außenwelt nie wissen, ob wir verallgemeinern dürfen oder nicht. Vgl. hierzu Poincaré l. c. p. 24. Dieselbe Erkenntnis lässt sich auch folgendermaßen fassen: die Funktion der Weltgleichung, welche er selbst bezeichnet, kann der Mensch nach Herzenslust differenzieren und integrieren, die Grundgleichung des Universums im glücklichsten Falle erschließen — aber er kann nicht von ihr ausgehen, was notwendig wäre, wenn er unfehlbar sein wollte.
10 Hierzu eine Bemerkung für Fachmänner: die Apriorität der Geometrie beruht freilich nicht auf der Apriorität des Raumes an sich — aus dem Raume allein lässt sich die Geometrie ebensowenig erklären, wie die Arithmetik aus der bloßen Zeit. Die Geometrie setzt aber auch keine Grenzen im Raume voraus, wie so viele meinen, die dann folgerichtig weiter schließen, dass sie eine analytische Wissenschaft sein muss, keine synthetische sein könne: sie setzt einzig Richtungen im Raume voraus — die Fähigkeit, Richtungen zu unterscheiden, ist aber apriorisch in des Wortes strengster Bedeutung, da sie die Erfahrung allererst ermöglicht, aus ihr nicht hergeleitet werden kann. In der Tat, wie könnten wir uns überhaupt orientieren, wenn es unsere innerste Organisation — man denke nur an das Verhältnis der rechten zur linken Hand, die Labyrinthkanäle und manches andere mehr — nicht mit sich brächte, dass wir, abgesehen von aller Erfahrung, Richtungsunterschiede wahrzunehmen vermögen? — Diese Fähigkeit aber, zusammen mit der Raumvorstellung überhaupt, bildet die tiefste erkenntniskritische Grundlage der Geometrie, welche somit wirklich eine synthetische Wissenschaft ist: sie kann ohne Bezugnahme auf Grenzen im Raume (welche ihrerseits Körper oder Substanzen voraussetzen würden) definiert werden. Auf dieses Verhältnis hat übrigens meines Wissens bisher noch niemand hingewiesen.
11 Vgl. Kap. 1.
12 Die Mathematiker haben von jeher an die transiente Realität der Gesetze ihrer Wissenschaft geglaubt. So sagt A. Cournot (De l’origine et des limites de la correspondance entre l’algèbre et la géométrie, 1847 p. 369):
L’objet des mathématiques existe hors de l’esprit humain et indépendamment des lois qui gouvernent l’intelligence.

In dieser Fassung ist diese Anschauung freilich unhaltbar; aber wenn Georg Cantor schreibt (Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre, 1883 p. 18):

Es unterliegt für mich keinem Zweifel, dass diese beiden Arten der Realität (transiente und immanente) stets sich zusammenfinden in dem Sinne, dass ein in der ersteren Hinsicht als existent zu bezeichnender Begriff immer in gewissen, sogar unendlich vielen Beziehungen auch eine transiente Realität besitzt, deren Feststellung freilich meist zu den mühsamsten und schwierigsten Aufgaben der Metaphysik gehört … Dieser Zusammenhang beider Realitäten hat seinen eigentlichen Grund in der Einheit des Alls, zu welchem wir selbst mitgehören —

so weist er damit auf denselben Weg hin, den wir hier eingeschlagen haben. Vielleicht tragen vorliegende Betrachtungen dazu bei, über diese mühsamste und schwierigste Aufgabe der Metaphysik, wie Cantor sie nennt, einiges Licht zu verbreiten.

13 Ethica pars II prop. VII.
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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