Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt
II. Kontinuität und Diskontinuität
Grundantinomien
Wir wissen jetzt, dass es nur die Mathematik ist, welche für unsere Untersuchungen in Betracht kommen kann, da sie allein formale Zusammenhänge objektiv zu fassen vermag. Gehen wir jetzt daran, die Grundantinomie, welche, wie wir sahen, auch dem formalen Weltbilde anhaftet, diejenige von Kontinuität und Diskontinuität, ihrer Lösung entgegenzuführen. Nur muss ich darum bitten, das über die Mathematik Gesagte im Auge zu behalten und sich über noch so paradox klingende Umdeutungen mathematischer Wahrheiten nicht zu entsetzen.
Wir hatten gesehen, dass das Weltbild in bezug auf den Stoff, wie wir uns auch stellen mögen, ein diskontinuierliches bleibt. Dem bloßen Auge zeigt die Natur allenthalben Grenzen und scharfe Unterschiede; vereinheitlichen wir die Mannigfaltigkeit auf chemischem Wege, so gelangen wir zu neuen diskreten, wenn auch homogenen Einheiten, den Atomen, die qualitativ und quantitativ scharf voneinander geschieden sind; und suchen wir, wie es heutzutage geschieht, allen Stoff in ein einheitliches x, den Äther, aufzulösen, so haben wir wiederum Atome und überdies den leeren Raum: die Diskontinuität hat auf dem Wege des Strebens nach Kontinuität ihren Höhepunkt erreicht. Solange wir uns um den Stoff nicht geradezu herumdrücken, seine Existenz überhaupt in Betracht ziehen, solange bleibt unser Weltbild, welcher Art es auch sein möge, ein diskontinuierliches. Die Begriffe von Stoff und Diskontinuität — so erkannten wir — sind vom kosmischen Standpunkte aus korrelativ.
Andrerseits ist der Mensch gezwungen, sein Weltbild stetig zu gestalten; eine diskrete Einheit vermag er nicht zu fassen, er muss die Stetigkeit des Naturgeschehens voraussetzen, ja, wie Poincaré1 mit Recht sagt:
si la croyance à la continuité disparaissait, la science expérimentale deviendrait impossible.
Aber die Erfahrung selbst lehrt ihn wiederum, dass die Welt in einer Hinsicht jedenfalls stetig ist: nämlich in bezug auf die Kraft. Die Kraft schafft das Band, welches die diskreten stofflichen Teile des Universums zusammenhält. Stoff und Kraft sind aber zwei letzte Instanzen, über welche wir nicht hinauskönnen, und deren, sei es auch nur formale, Einheit dem Menschen ein transzendentes Problem bleibt. In der Tat — die Welt ist dem Stoffe nach diskontinuierlich, der Kraft nach stetig; wie lassen sich diese beiden Seiten des Universums — selbst wenn wir von allen qualitativen Differenzen absehen — unter einer höheren Einheit zusammenfassen? Die Antwort scheint unmöglich; und doch glaube ich, dass unsere letzten Betrachtungen geeignet sind, Licht über diese dunkle Frage zu verbreiten.
Die Antinomie, mit der wir uns jetzt beschäftigen wollen, hat — wie ich gleich im voraus bemerken will — mit der berühmten Kantischen gar nichts gemeinsam; sie entspricht dem besonderen Gesichtspunkte, welchen wir eingenommen haben, und Kants Lösung können wir daher auf unsere Antinomie nicht anwenden. Subjektiv
bedeutet vom Standpunkte der Mitte aus nicht dasselbe, wie für Kant: für uns ist die Antinomie ebensowohl eine objektive als eine subjektive; denn wir wollen ja Subjekt und Objekt nicht trennen oder verknüpfen, sondern ihre Verschiedenheit aufdecken, um aus dieser die Einheit zu erschließen.
Zunächst ist an der Antinomie offenbar so viel in unserem Sinne Subjektives, als sie logischer Natur ist. Kontinuität und Diskontinuität widersprechen sich als Begriffe, und da liegt es nahe, in diesem Widerspruche nichts als einen Farbenkontrast zu sehen, der mit einem objektiven Widerstreit vielleicht gar nichts zu schaffen hat. Die Bilder und Begriffe, selbst die Anschauung kann uns nichts darüber lehren, ob der ganze Gegensatz nicht an der Projektion liegt und im objektiven Zusammenhange wegfallen würde. Dagegen ist aber eines zu bemerken: wo der Mensch Gegensätze erblickt, wie etwa in Farbenkontrasten, da existiert in den objektiven Verhältnissen zwar kein Widerspruch
, aber doch ein Unterschied. Und einmal zugegeben, die Antinomie Kontinuität-Diskontinuität bezeichne überhaupt einen Unterschied, so können wir nicht umhin, ihr eine über das Subjektive hinausreichende Bedeutung zuzuerkennen — und in Gedanken bleibt sie in jedem Falle bestehen. Jetzt erinnern wir uns unserer Erkenntnis, dass nur die Mathematik uns das Verständnis des Universums erschließen kann: vermag sie uns nicht ein Licht über die Antinomie aufzustecken, welche im Denken schlechterdings nicht zu lösen ist? Sie könnte es in dem Fall, wenn sich dieselbe Antinomie in ihr selbst vorfinden sollte; und findet sie sich, so dürfte sich hieraus die Lösung des Widerstreites ergeben, sofern eine solche überhaupt möglich ist.
Stetigkeit und Diskontinuität sind nun Begriffe, mit welchen die Mathematik ständig operiert. Die Arithmetik kennt nur diskrete Teile; jegliches Kontinuum löst sie in ein Diskontinuum auf, indem sie letzte analytische Einheiten statuiert, welche sie durch Zahlen darstellt. Für die Arithmetik ist die Teilungsmöglichkeit des Kontinuums unendlich; auf jede Zahl kann und muss eine weitere folgen, ohne dass je eine Grenze erreicht würde, welche das arithmetische Diskontinuum zur Stetigkeit hinüberleitete. Für die Arithmetik ist die Linie eine Summe von Punkten, die Fläche eine Summe von Linien, und das Unendliche existiert für sie nur in der Form unendlicher Teilbarkeit. Und da zu jedem Teil sich ein weiterer aliquoter hinzudenken lässt, der sein Symbol wiederum in einer diskreten Zahl findet, so kann die Arithmetik die Kontinuität, wie sie die Anschauung kennt, nicht darstellen. Dasselbe aber gilt von der verallgemeinerten Arithmetik, der Algebra. Obgleich die Gültigkeit ihrer Formeln — ganz allgemein gesprochen — nicht durch die spezielle Bedeutung, welche sie durch die Anwendung auf Zahlen gewinnen, bestimmt wird, sondern gänzlich auf den allgemeinen Gesetzen der Ordnung und der Kombination beruht, was den Eindruck erwecken könnte, als bestände die Algebra ganz unabhängig vom Konzepte der Zahl, so ist diese es doch, wie heute endgültig feststeht, welche ihr ihr Fundament gibt. Ohne die Möglichkeit, die algebraischen Symbole durch Zahlen zu ersetzen, wäre die Algebra undenkbar, So kennt denn auch sie das Kontinuum nicht; wie Couturat2 sagt:
En général, le principe de continuité n’a pas de place en Algèbre et ne peut pas être invoque pour justifier la généralisation algébrique du nombre. Non seulement la continuité n’est nullement nécessaire aux spéculations de l’Arithmétique générale, mais elle répugne à l’esprit de cette science et à la nature même du nombre. Le nombre est essentiellement discontinu
3.
Darum kann die Arithmetik das Kontinuum nicht darstellen; um ein physikalisches Bild zu verwenden: sie führt notwendig zum Atomismus. —
Für die Geometrie hingegen ist das Kontinuum die Voraussetzung; das Axiom der Stetigkeit, welches, wie Dedekind4 zuerst nachwies, auf Zahlen nur durch die Vermittlung von (räumlichen) Größen anwendbar ist, bildet das Fundament und die Macht der Geometrie
C’est au principe de continuité
, sagt Couturat5, que la géométrie moderne doit ses progrès immenses et ses plus puissantes méthodes de généralisation.
Der Geometrie ist die Linie, keine Summe von Punkten; der Punkt ist, wie schon Plato es nach Aristoteles6 Zeugnis erkannte, kein Element der Linie, kein στοιχεΐον, sondern eine αρχή, Anfang der Linie. Plato statuierte unteilbare Linien
, d. h. er begriff, dass bei geometrischer Fragestellung von jeder Teilbarkeit abzusehen ist und nur das Kontinuum in Betracht kommt. Die moderne Geometrie hat nun diese Anschauungsart zu einer festen Methode gestaltet; sie operiert wesentlich mit dem Stetigen, dem Unendlichen, wie es die Arithmetik wesentlich mit dem Diskreten, dem Endlichen zu tun hat; ihr Atom ist der lückenlose Zusammenhang, die synthetische Einheit, während dasjenige der Arithmetik erst im Resultat der Teilung ins Unendliche zu finden ist. Die Geometrie geht, im weitesten Sinne, von dem aktuellen Unendlichen, der Allheit aus, während die Arithmetik in indefinitum nach ihr strebt, ohne sie je erreichen zu können, ohne je auf anderes als diskrete Teile zu stoßen.
Hier haben wir dieselbe Antinomie wieder vor uns, welche dem physikalischen Weltbilde anhaftet — nur jetzt in rein formaler Gestalt. Aber ein wesentlicher Unterschied fällt sofort auf: während jene formal zwar auf dem Denken fußen mag, ihren Halt aber an den Tatsachen der Erfahrung findet, welche sie uns aufnötigen, beruht die mathematische Antinomie offenbar nur auf den verschiedenen Gesichtspunkten, welche wir derselben Erscheinung gegenüber einnehmen: es ist dieselbe Linie, welche uns bald als unendliche Summe von Punkten, bald als unteilbares Kontinuum entgegentritt. Und wo es zwei Gesichtspunkte gibt, welche dieselbe Erscheinung in verschiedenem Lichte zeigen, da muss es einen dritten geben, welcher zwar nicht beide umfasst — das ist durchaus nicht notwendig — wohl aber über ihren Zusammenhang Aufschluss gewährt. Dieser Gesichtspunkt, welchen Descartes als erster einnahm, ist derjenige der analytischen Geometrie.
Die analytische Geometrie setzt Geometrie und Algebra — und diese ist nur verallgemeinerte Arithmetik — in feste Beziehung, indem sie zeigt, dass jedes geometrische Gebilde durch eine Gleichung ausgedrückt werden kann, und umgekehrt, jede Gleichung (in der Theorie wenigstens) durch eine geometrische Konstruktion. Dadurch wird die ursprüngliche Antinomie zu einer Wechselbeziehung7. In der Tat, wenn jedem geometrischen Kontinuum — dem Kreise, der Ellipse z. B. — eine aus diskreten Teilen bestehende Gleichung genau entspricht, so schwindet der Gegensatz: Kontinuität und Diskontinuität erweisen sich, allgemein gesprochen, als verschiedene Aspekte, als Vorder- und Rückansicht gleichsam desselben Zusammenhanges. Hiermit ist nun eine außerordentlich weittragende Erkenntnis gewonnen: zwei logisch sich widersprechende Begriffe entsprechen sich in der Mathematik; das Diskontinuum x2 + y2 = r2 z. B. — wahrlich ein Unstetiges, denn die Gleichung setzt durchaus diskrete Teile, wie hier zwei Koordinaten und den Radius, zueinander in Beziehung — drückt genau dasselbe aus, wie die synthetische Anschauung, die wir als Kreis bezeichnen. Wie gewaltsam diese Gleichsetzung immer klingen und sein mag, die Korrespondenz steht fest. Und diese Erkenntnis bedeutet noch nicht die letzte Staffel, die der Mensch zu erklimmen vermag: sie weist uns ihrerseits den Weg zu dem höchsten Standpunkte, demjenigen nämlich, von welchem aus die Diskontinuität in die Kontinuität übergeht. Mit diesem Problem beschäftigt sich die Analysis, die Infinitesimalrechnung, deren Grundstein Leibniz legte, und welche wohl zu den stolzesten Errungenschaften des Menschengeistes gehört. Sie ist ein von den bis hierher betrachteten Rechnungsarten gänzlich Verschiedenes: den fundamentalen Unterschied zwischen der Algebra und der Arithmetik einerseits und der Analysis sowie der Funktionslehre andrerseits bezeichnet der Umstand, dass die Zahlen in den ersteren Wissenschaften als unveränderlich, als stabil betrachtet werden, in den letzteren dagegen für veränderlich, beweglich, gleichsam für flüssig gelten8. Die Antithese der Algebra — zwischen Bekanntem und Unbekanntem — wird in der Analysis durch diejenige zwischen dem Beständigen und dem Veränderlichen ersetzt. Wenn nun die Zahlen oder Symbole veränderlich sind, so ist hiermit die Möglichkeit gegeben, die scharfen Grenzen, welche die Algebra statuiert, zu überbrücken, ein Symbol in ein anderes überzuführen, zu verwandeln. An Stelle der unendlichen Teilbarkeit, wie sie die Arithmetik voraussetzt, postuliert die Analysis die unendliche Wandelbarkeit, wodurch immer neue Möglichkeiten entstehen, um Bindeglieder zwischen den diskreten Teilen zu schaffen, das Diskontinuum auszufüllen. Auf diese Weise ist es möglich, ein (geometrisches) Kontinuum durch eine unendliche Zahlenreihe darzustellen, welche in unendlicher Annäherung dasselbe wiedergibt wie jenes. Allerdings aber nur in unendlicher Annäherung was die Geometrie tatsächlich gibt, das erstrebt die Analysis, was in jener ist, das wird in dieser9. Hiermit ist aber auch die letzte Grenze der Vereinheitlichung erreicht: indem das aktuelle Kontinuum der Geometrie sich in dem potentiellen der Analysis spiegelt, das geometrische Sein im analytischen Werden, geht die Antinomie Kontinuität-Diskontinuität in jene von Sein und Werden über, welche, als Grundantinomie des Lebens10, vom Menschengeiste nicht auszudenken ist. Somit lehren unsere letzten Betrachtungen uns folgendes: Diskontinuität und Kontinuität sind zwei Ansichten desselben Zusammenhanges, welche sich genau entsprechen, sich — wie die analytische Geometrie es beweist — gegenseitig auszudrücken imstande sind. Überdies ist das Diskontinuum in unendlicher Annäherung in das Kontinuum überzuführen, ein Übergang, welcher in der Infinitesimalrechnung tatsächlich stattfindet. Für unser Verstehen aber bleibt ein unüberwindliches Hindernis bestehen: was im geometrischen Kontinuum tatsächlich ist, das wird im analytischen, und Sein und Werden
bedeutet die Grundantinomie des Lebens, welche der Mensch zwar in jedem Augenblicke überlebt, in Gedanken aber unmöglich überbrücken kann.
Betrachten wir die, gewonnenen Ergebnisse jetzt aus dem zweiten Spiegel, der uns schon mehr denn einen Einblick in sonst dunkle Zusammenhänge gestattet hat!
Im Mathematischen ist das Kontinuum zugleich ein Diskontinuum, insofern als beide Begriffe zwei Ansichten desselben Zusammenhangs bezeichnen; das eine lässt sich durch das andere ausdrücken, und in der Analysis besitzen wir das Mittel, das eine in das andere überzuführen; das Sein
der Geometrie ist im Werden
der Analysis einer Spiegelung fähig. So können wir jetzt getrost behaupten, dass im Mathematischen ein Zusammenhang beides umfasst, dass Kontinuität und Diskontinuität sich nicht gegenseitig widerstreiten, sondern sich vielmehr gegenseitig bedingen, voraussetzen. Ein mathematischer Zusammenhang ist also nicht entweder stetig oder diskontinuierlich, sondern er ist sowohl das eine als das andere, wie wenig diese Tatsache auch dem logischen Denken zusagen mag11. Hieraus können wir nun folgenden bedeutsamen Schluss ziehen: es gibt Zusammenhänge — die Mathematik beweist es unwiderleglich — welche den Denkgesetzen entsprechen, obwohl sie dem Denken selbst unfasslich bleiben; es sind Begriffskonstruktionen möglich, von welchen der Mensch sich keinen Begriff machen kann; die Denkgesetze bringen Einheit in Dinge, welche dem Denken völlig disparat erscheinen, sie ermöglichen Verbindungen und Übergänge, welche über alles Verstehen transzendieren. Und hier sind wir an dem Punkte angelangt, von welchem aus wir in das eigentliche Wesen der Antinomie, die uns in diesem Kapitel beschäftigt, werden blicken können: der Widerstreit von Stetigkeit und Diskontinuität besteht als solcher offenbar nur im logischen Denken; an sich sind es Wechselbegriffe; und in der mathematischen Konstruktion vermögen beider Gebiete ineinander überzugehen. Trotzdem ist es unmöglich, den einheitlichen Zusammenhang wirklich zu begreifen, weil die obengenannte Antinomie im letzten Grunde mit derjenigen von Sein und Werden zusammenfällt: mit dieser ist ein Dualismus12 in unserer Weltbetrachtung ein für alle Male gegeben; jeder monistische Versuch muss ins Bodenlose führen. Ein Dualismus — d. h. die Notwendigkeit, demselben Probleme gegenüber zwei inkongruente Gesichtspunkte einzunehmen, oder zwei unvergleichbare Betrachtungsarten anzuwenden —; das Faktum leuchtet schon jetzt als unbestreitbar ein. Doch können wir der Frage nicht näherkommen, bevor wir sie nicht ins Erkenntniskritische umgedeutet haben. Dieses bedeutet jetzt unsere nächste Aufgabe.
In dem Descartes-Vortrag seines Kant-Werkes hat H. S. Chamberlain neues Licht über das Verhältnis von Anschauung und Denken durch den Nachweis verbreitet, dass erstere der Geometrie, letzteres der Arithmetik entspricht, und es ist ihm gelungen, durch die Anwendung mathematischer Schemen Zusammenhänge aufzudecken, welche aller reinbegrifflichen Fassung bisher entgangen waren und notwendig entgehen mussten. Wiedergeben kann ich Chamberlains Gedankengänge hier nicht — man nehme das Werk selbst zur Hand —; ich muss sie als bekannt voraussetzen, um von ihnen aus weiterzuschreiten. Wenn nun die Geometrie der Anschauung, die Arithmetik, die Algebra und im letzten Grunde auch die Analysis — da auch sie mit diskreten Symbolen operiert — dem Denken entspricht, so muss dasselbe auch von der Kontinuität (Geometrie) einerseits und der Diskontinuität (Arithmetik) andrerseits gelten — dieser Schluss ist logisch unabweisbar. Die Kontinuität entspricht der Anschauung13, die Diskontinuität dem Denken. Durch diese Gleichung sind wir sofort in die Lage versetzt, unsere Antinomie aus erkenntniskritischem Gesichtswinkel ins Auge zu fassen: wie verhalten sich Anschauung und Denken zueinander? Gibt es hier Übergänge oder nicht?
Ich sagte, dass der Mensch an der Analysis ein Mittel in der Hand habe, ein sozusagen diskontinuierliches Kontinuum herzustellen, fügte aber gleich hinzu, dass diese Gattung Konstruktionen im letzten Grunde unfasslich bleibe, weil sie in der Antinomie Sein und Werden
ein dem Denken unübersteigbares Hindernis enthielte. Betrachten wir diese Frage nun etwas genauer.
Um ein geometrisches Gebilde in analytischer Fassung darzustellen, bedarf der Mathematiker allerorts der komplexen Zahlen, welche ihren Typus in dem Symbol , geschrieben i, finden. Eine gewöhnliche Vektorenformel — ich wähle ein beliebiges Beispiel — hat z. B. folgendes Aussehen:
X + i y = ςeϑi
bedeutet nun für die Arithmetik sowohl als für das begriffliche Denken ein absolutes Absurdum. In letzterer Hinsicht leuchtet das wohl jedermann von vornherein ein; in ersterer hat es lange Kämpfe gekostet, ehe die Verteidiger der komplexen Zahlen vom arithmetischen Gesichtspunkte aus den endgültigen Rückzug antraten; jetzt aber ist es allgemein anerkannt, dass nichts sie arithmetisch zu rechtfertigen vermag, dass jeder Versuch überhaupt, es zu tun, notwendig missglücken muss14. Die Berechtigung der komplexen Zahlen beruht einzig und allein auf der Möglichkeit ihrer Anwendung auf geometrische Konstruktionen, und hier erhalten sie einen durchaus konkreten Sinn: auf die Geometrie übertragen bedeutet das arithmetische Absurdum, ein Perpendikularitätssymbol15, es drückt also ein ganz bestimmtes räumliches Verhältnis aus; nach dem Wortlaute eines Mathematikers16:
Toutes ces conventions en apparence, arbitraires ont pour but de traduire en nombres des constructions géométriques parfaitement réelles. Si l’emploi des imaginaires en algèbre est légitime, et si le calcul des nombres complexes conduit à des résultats valables, c’est parce que les opérations indiquées, qui n’auraient pas de sens sur les nombres purs, ont un sens géométrique, une fois appliquées aux grandeurs que ces nombres représentent.
Allgemein gesprochen: das gedankliche Absurdum stellt eine Wahrheit der Anschauung dar, diese allein ist es also, welche den analytischen Begriffen einen Sinn verleiht.
Ganz ebenso steht es — obwohl es nicht ebenso allgemein anerkannt sein dürfte — mit den Symbolen O und ∞, deren sich ja auch die Algebra allenthalben bedient. Auf den Unterschied im Begriffe des Unendlichen, je nachdem er analytisch oder geometrisch gefasst wird, wiesen wir schon hin. Das Unendliche der Algebra bedeutet nichts anderes als die Möglichkeit der Teilbarkeit oder Vermehrbarkeit ins Unendliche, dasjenige der Analysis nichts anderes als die unendliche Wandlungsmöglichkeit — beide also eine Operation oder genauer die Möglichkeit einer solchen. Ein aktuelles, tatsächlich gegebenes, nicht bloß in unendlicher Annäherung zu erstrebendes Unendliches können beide Wissenschaften ihrem Wesen nach nicht kennen. In diesem Sinn sagt Couturat17
L’infini se présente, en arithmétique et en algèbre, comme un symbole d’impossibilité, comme une solution absurde et fausse.
Und wenn das Unendliche der Analysis zwar allerdings eine Übersetzung des geometrischen Unendlichen darstellt, wie diese Wissenschaft ja überhaupt nur durch die Anwendbarkeit auf räumliche Konstruktionen einen Sinn erhält, so ist es doch bloß eine Übersetzung — wie wir sahen, aus dem Sein ins Werden, was den wesentlichen Dualismus nur anders kleidet, aber nicht vernichtet. Freilich rechtfertigt die unendliche Größe, wie die Geometrie sie faktisch kennt, die Annahme der Zahl Unendlich nicht nur — nein, sie postuliert sie sogar — zum Zwecke der Rechnung —; aber doch bleibt der Begriff einer unendlichen Zahl an sich
sinnleer: man definiere die Zahl, wie man will — als Verhältnis, als Operation oder als Atom — solange von Kardinal- und nicht von Ordinalzahlen die Rede ist, bleibt obiger Begriff ein Absurdum: das Unendliche ist ein Absolutum, folglich keine Beziehung auf etwas, eine Operation ist eine Möglichkeit und daher ohne faktischen Inhalt (in abstracto, ein unendliches Atom ist kein Atom im analytischen Sinne, und verlassen wir das Niveau mathematischer Definitionen, um die Frage philosophisch zu betrachten, so müssen wir sagen, dass das Wesen der Zahl — um von anderen Eigenschaften abzusehen — ihre Begrenztheit ist, da sie nur durch Abgrenzung entsteht; eine Zahl ist größer als diese und kleiner als jene andere Zahl. Was soll da eine grenzenlos große oder eine grenzenlos kleine? Sie widerspricht sich selbst. Und da die Zahl O das Gegenstück, das Inverse der Zahl Unendlich bedeutet, wie die Mathematik18 lehrt, so gilt das bei dieser Zutreffende auch für jene. Eine Zahl, die überhaupt keine mehr ist, entbehrt jedes Sinnes19. Beide Symbole aber — O wie ∞ — besitzen in der Geometrie dagegen eine durchaus konkrete, greifbare Bedeutung — und ebenso in der Analysis dann, wenn sie als bloße Übersetzung geometrischer Wahrheiten betrachtet werden. Der Nullpunkt der Geometrie, ebenso wie derjenige der thermometrischen Skala, bedeutet nur den Anfangspunkt, von welchem aus gerechnet wird, den Ausgangspunkt einer Linie, eines Vektors; ergibt eine auf eine geometrische Operation bezügliche Rechnung das Resultat = O, so ist die Lösung keine absurde, wie dies in der reinen Arithmetik der Fall wäre, sondern sie bedeutet bloß, dass der Endpunkt eines Vektors z. B. mit dem Anfangspunkte zusammenfällt. Und ebenso enthält ein Resultat x=∞ keinen Widersinn; es sagt aus, dass sich der Endpunkt einer Linie, einer Bewegung in unerreichbarer Ferne vom Ausgangsorte befindet; und in dieser Form ist das Unendliche für die Anschauung eine Tatsache der Erfahrung. Die unendliche Kontinuität ist für diese etwas Empirisches20. So entsprechen den Symbolen O und ∞ in der Anschauung konkrete Vorstellungen, wogegen sie für das Denken an sich ganz sinnleer sind. Allgemein gesprochen: das Aktuelle der Anschauung ist im Begrifflichen ein Absurdum, was die Anschauung greifen kann, das bleibt dem Denken unbegreiflich.
Der Schluss, den wir aus der Betrachtung der komplexen Zahlen sowie der Symbole O und ∞ zu ziehen haben, ist nun der, dass sich die Kontinuität in die Diskontinuität, die Anschauung in das Denken nur auf Kosten der Begreiflichkeit übersetzen lässt. Gewiss ist es möglich, ein geometrisches Gebilde in vollauf befriedigender Weise analytisch auszudrücken, aber dieser Ausdruck selbst ist für das Denken eigentlich absurd; eine Konstruktion der Anschauung lässt sich zwar in begrifflicher Fassung wiedergeben, nur impliziert dieses die Annahme sinnleerer Begriffe. Und doch: gerade durch diese sinnleeren Begriffe
gelangen wir zu verständlichen Resultaten! Wie löst sich dieses unerträgliche Paradoxon?
Mir scheint, folgendermaßen: Denken und Anschauung, soweit sie einen Inhalt haben, lassen sich schlechterdings nicht ineinander überführen. Noch keinem Menschen ist es geglückt, sich eine Zahl als ein unendliches Kontinuum zu veranschaulichen, und ebenso unmöglich ist es, sich von einem geometrischen Gebilde, ausgedrückt durch eine Gleichung zum Teil imaginärer Ausdrücke, einen verständlichen Begriff zu bilden. Die spezifischen Inhalte von Anschauen und Denken schließen einander aus. Die Denkgesetze ermöglichen aber diese Überführung; in der reinen Form der Erkenntnis liegt also die Möglichkeit, Zusammenhänge zu fassen, welche der Erkenntnis, sofern sie den Inhalt der Form betrifft, unfasslich bleiben müssen.
Wir gelangen hier zu demselben Ergebnisse, zu welchem uns zu Beginn dieses Kapitels die Gegenüberstellung der logischen und mathematischen Begriffe führte, nur jetzt in viel präziserer Form: die menschlichen Begriffe, so sagten wir, verhalten sich zu den formalen Verhältnissen des Universums wie Farbenkontraste zu den Wellendifferenzen des Äthers; dasselbe Bild passt genau auf das Verhältnis der begrifflichen zur mathematischen Erkenntnis: unser Verstehen, das schlechthin Subjektive, vermag die Möglichkeiten des Geistes nicht zu erschöpfen. Dieser besitzt in formaler Hinsicht Fähigkeiten, mit welchen die Inhalte, die Erscheinungen der Denkformen niemals Schritt halten können. So, gerade so verhält sich auch die Mathematik zur Philosophie — das Wort im weitesten Sinne verstanden: die Mathematik schafft Möglichkeiten, die Philosophie hingegen Grenzen; jene operiert mit Denkgesetzen, diese mit Gedanken. Jene kann ins Unendliche schweifen, das Heterogenste kombinieren, die verwickeltesten Zusammenhänge schaffen und auflösen, und die Philosophie ist außerstande, ihr überhaupt zu folgen, geschweige sie zu widerlegen. Nur eines vermag sie — und das ist ihr höchster Beruf: die Grenzen abzustecken, wo das Verständnis aufhört und wo folglich jeder Flug der Phantasie unnötige Kraftvergeudung bedeutet; zu zeigen, was es mit diesen Grenzen für eine Bewandtnis hat. Gerade wie das Auge Ätherwellen oberhalb und unterhalb einer bestimmten Amplitude nicht mehr als Farben empfindet, obwohl die Strahlen- oder Wellengattungen nach beiden Richtungen hin stetig und grenzenlos aufeinander folgen, so vermag auch die Philosophie oder das Denken schlechthin gewisse Zusammenhänge nicht mehr zu fassen, obschon sie in sich wahr, möglich und tatsächlich vorhanden sind. So ist es in unserem speziellen Falle: obwohl Anschauen und Denken verständlich nicht ineinander überzuführen sind, so ermöglichen doch dieselben Gesetze, welchen das Verstehen gehorcht, eine Verbindung beider, die uns an sich unbegreiflich bleibt, in ihren Konsequenzen aber wieder verständlich wird.
Jetzt steht folgendes fest: die Antinomie Kontinuität-Diskontinuität löst sich in rein formaler Beziehung, insofern als ein mathematisches Kontinuum zugleich auch diskontinuierlich dargestellt werden kann; in jeder materialen Hinsicht dagegen bleibt sie unüberbrückbar — das Wort material
im Sinne eines Inhaltes der Vorstellung angewandt. Und dieses deshalb, weil Anschauung und Denken, wie Sein und Werden, zwei völlig verschiedene Seiten desselben Zusammenhanges betreffen. Der Anschauung ist das unendliche Kontinuum eine Tatsache der Erfahrung; der Blick, zum Himmel gerichtet, sucht vergebens nach Grenzen; was er erschaut, ist ein stetiges All, eine synthetische Einheit. Diese selbe Einheit vermag das Denken nicht zu fassen, da es analytisch verfährt und nur mit Grenzen zu operieren weiß, das Denken ist an Grenzen gebunden. Zwischen Anschauung und Denken, in materialer Hinsicht betrachtet, gibt es aber keinen kontinuierlichen Übergang, wie ihn in formaler Hinsicht die Infinitesimalrechnung schafft. Denn ein Erkenntnisinhalt ist entweder Anschauung oder Begriff: was wir sehen, das können wir nicht begreifen, und was Begriff ist, das lässt sich nicht erschauen. Und wenn Kant sagt:
Begriffe ohne Anschauung sind leer,—
Anschauung ohne Begriffe ist blind
so verleiht er damit nur der Tatsache Ausdruck, dass Denken und Anschauung korrelativ, aber nicht ineinander überzuführen sind.
Wir haben jetzt eine Reihe von Antinomien aufgedeckt, die eine fortlaufende Proportion darstellen. Stellen wir sie nach dem Schema der geometrischen Progression zusammen:
Kontinuität | = | Geometrie | = | Anschauung | = | Sein |
Diskontinuität | Arithmetik | Denken | Werden |
In formaler Hinsicht bedeuten sie alle nur ein Wechselverhältnis, zwei Seiten desselben Zusammenhanges: die Kontinuität drückt sich im Diskreten aus, die Geometrie in der Analysis, die Anschauung im Denken. Und dass das Sein, das Beharrende, nur im Werden, im Wandel in die Erscheinung tritt, das erfährt jeder Mensch an sich selbst: die Einheit des Ich im Wechsel der Zeiten, Zustände und Vorstellungsinhalte bedeutet nichts anderes. Da aber die Inhalte dieser formal korrelativen Begriffe einander ausschließen, so müssen wir uns bei dieser letzten Erkenntnis des formalen Zusammenhangs material unterschiedener Erscheinungen bescheiden. Weiter können wir nicht.
1 | l. c. p. 239. |
---|---|
2 | l. c. 140 |
3 | Folgender Satz desselben Autors dürfte zur weiteren Bekräftigung des hier Gesagten noch am Platze sein:
|
4 | Stetigkeit und irrationale Zahl §§ 3 u. 5 |
5 | l. c. 270. |
6 | Met. A. 9, 992 a. |
7 | Eine gemeinverständliche Darstellung dieses Zusammenhangs findet der Leser im mathematischen Exkurs des Descartes-Vortrags von H. S. Chamberlains Kant-Werk. |
8 | Vgl. hierzu auch Couturat 119. |
9 | Diese Unterscheidung ist so wichtig, dass ich etwas ausführlicher auf sie eingehen muss, um so mehr, als sie bisher nicht allgemein anerkannt zu sein scheint. Da es möglich ist, unabhängig von aller Anschauung, auf rein-analytischem Wege ein numerisches Kontinuum zu konstruieren, so glauben viele, dass dieses letztere Kontinuum nun tatsächlich mit dem geometrischen identisch ist. Wie wenig Berechtigung aber diese Auffassung hat, das zeigt die verschiedene Bedeutung, welche das Unendliche in beiden Fällen annimmt: für die Geometrie, die Anschauung im allgemeinen, ist das Unendliche ein aktuell Gegebenes — denn wir sind ja fähig, eine Allheit intuitiv zu erfassen, mit einem Blick zu umspannen, ohne auf die Teile überhaupt acht zu geben (was den synthetischen Überblick, da ihre Zahl eben unendlich ist, unmöglich machen würde); für die Analysis bedeutet es bloß eine Möglichkeit, wie denn J. Tannery in bezug auf diese Wissenschaft mit vollem Rechte bemerkt (Introduction à la théorie des fonctions d’une variable, préface VIII):
Allerdings fußt nun die Analysis, wie es Couturat meines Erachtens überzeugend nachgewiesen hat, wenigstens in erkenntniskritischem, wenn nicht in logischem Verstande, auf der Idee der (räumlichen) Größe und nicht der Zahl, insofern sie erst durch die Anwendung auf geometrische Gebilde (Vektoren z. B.) einen konkreten Sinn erhält, nur eine begriffliche Fassung des anschaulich Gegebenen darstellt, aber das geometrische Kontinuum tatsächlich, unmittelbar auszudrücken, das vermag sie nicht. Sie zeigt bloß die Möglichkeit, das Diskontinuum in ein Kontinuum überzuführen, aber es tatsächlich zu tun, dazu ist sie völlig außerstande, wie oft auch das Gegenteil behauptet wurde. Den wahren Tatbestand mögen folgende Worte Gaston Milhauds (Essai sur les conditions et les limites de la certitude logique, 1898, p. 82) verdeutlichen:
Mit anderen Worten: die Analysis gibt zwar das Gesetz an, nach welchem aus dem Diskontinuum ein Kontinuum werden kann; aber sie ist völlig unfähig, dieses selbst, in seinem aktuellen Sein, auszudrücken. Eine Möglichkeit ist mit einem Faktum niemals identisch: erstere stellt, erkenntniskritisch gesprochen, ein Werden, letzteres ein Sein dar; darum können sie nie tatsächlich miteinander zur Deckung gebracht werden. In diesem Sinne verhalten sich Geometrie und Analysis zueinander wie Sein und Werden. |
10 | Diese wie so manche andere Einsicht verdanke ich H. S. Chamberlain. Der Plato-Vortrag seines Kant-Werkes handelt hauptsächlich von dieser Antinomie; auf Chamberlains Darstellung möchte ich hier noch ausdrücklich hinweisen. Nur folgendes sei zur Erläuterung beigebracht: der Mensch — gleich allem Lebendigen — wird, d. h. wächst, entwickelt und verändert sich in der Zeit, entsteht und vergeht; zugleich ist er aber durch alle Wandlungen hindurch ein und derselbe, sein Ich beharrt durch alle Zustände hindurch, sein Charakter modifiziert sich nicht im Wesentlichen, er bleibt mit sich selbst stets identisch. Dieses Verhältnis ergibt für das Denken notwendig eine Antinomie, welche Plato als erster dadurch aufzulösen suchte, dass er unter Seinein Ideelles, die Idee, das Gesetz des Werdens verstand, welches als solches natürlich vom Wandel innerhalb des Erscheinenden unberührt bleibt. |
11 | Die moderne Logik, auf welche ich bereits hinwies, sucht gerade diese ursprüngliche Einheit nachzuweisen. Es scheint ihr auch zu gelingen; nur ändert das nichts an der Tatsache, dass jener gesetzmäßige Zusammenhang des sich Widersprechenden dem eigentlichen Denken ein ewiges Paradox bleibt. |
12 | So sagt auch Cournot (1. c. p. 373) im selben Zusammenhange:
Simultaneität und Sukzession aber, deren Zusammenwirken schon Goethe als das Wesen des Lebens erkannte, denen das platonische Sein und Werden entspricht und deren Verhältnis sich wohl metaphorisch, aber keineswegs tatsächlich, wie Leibniz es wollte, auf Raum und Zeit übertragen lässt, spiegeln wiederum unverfälscht die Dualität wieder, welcher der Mensch durch immer gesteigertere Abstraktionen zu entgehen strebt. |
13 | Dass die Anschauung und nicht das Denken das Kontinuum zu begreifen vermag, das folgt schon aus Chamberlains Darstellung (l. c.); für dieselbe Erkenntnis hat Couturat erschöpfende Argumente ins Feld geführt, und dem Mathematiker bedeutet sie überhaupt nichts Neues. Anders steht es mit denjenigen, welchen die mathematische Betrachtungsart fremd oder wenigstens ungewohnt ist, und da freut es einen um so mehr, wenn man auf so treffliche Einsichten stößt, wie sie etwa folgender Satz Stallos (l. c. 273) bezeugt:
Tatsache ist, dass alle Gegenstände der Wahrnehmung, einschließlich aller Daten der Sinne, an sich d. h. beim Akt der Wahrnehmung wesentlich stetig sind. Sie werden bloß dadurch diskret, dass sie willkürlich oder notwendig mehreren Akten der Wahrnehmung unterworfen und dadurch in Teile geschieden oder anderen auf ähnliche Weise als Ganzes wahrgenommenen Gegenständen beigeordnet werden Also der Augenblick der Apperzeption, der Anschauung eröffnet uns immer nur das Kontinuum, und erst durch In-Beziehungsetzen verschiedener solcher Augenblicke, was im Denken geschieht, entsteht das Diskontinuum. Diese Tatsache besteht auch psychologisch, nicht nur erkenntnistheoretisch zu Recht:
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14 | Cf. Couturat 205. |
15 | Couturat 195; allerdings trifft diese Auffassung nicht immer zu, so z. B. dann nicht, wenn man von der Gleichung der Ellipse zu derjenigen der Hyperbel übergeht. Immer aber behält der imaginäre Ausdruck einen konkreten räumlichen Sinn — so als Richtungsproportionale zwischen + 1 und — 1. |
16 | Couturat 205. |
17 | l. c. 212. |
18 | Couturat 280. |
19 | Man wende mir nicht dagegen ein, dass beide Begriffe, wenn man sie, wie es in der Analysis geschieht, als an den entgegengesetzten Enden gelegene Grenzen der natürlichen Zahlenreihe betrachtet, sich sehr gut mit obengenannter Definition vertragen: das Wesen der Grenze im analytischen Sinne besteht darin, dass sie nie erreicht wird; die Grenze bedeutet hier also eine bloße Möglichkeit, die nie verwirklicht wird, und ein Begriff, der nur auf eine derartige Möglichkeit hinweist, hat in tatsächlichem Zusammenhange, in aktuellem Sinne gar keinen Inhalt. |
20 | Darum unterscheiden die Mathematiker mit Recht zwischen zwei Gattungen des Unendlichen: dem infini d’extension und dem infini de comprehension. Ersteres ist der Anschauung unmittelbar zugänglich; letzteres durch den Verstand gar nicht zu begreifen, weil das diskursive Denken, das von Grenzen zu Grenzen, von den Teilen zum Ganzen fortschreitet, das Grenzenlose niemals fassen kann. Abstrakt (im Gegensatz zur Anschauung) ist dieses Unendliche nur unter dem regulativen Denkprinzip, der Idee der Allheit zu begreifen, welche ihrerseits dem logischen Denken entgeht und nur durch synthetische Ideenbildung mehr erschaut als gedacht werden kann — durch reine Anschauung, wie Kant sagen würde. Wahrscheinlich lässt sich dem extensiven Unendlichen überdies noch ein intensives gegenüberstellen, welches mit ersterem wiederum in gewisser Hinsicht unvergleichbar ist. Henri Bergson hat in seinen données immédiates de la conscience überzeugend dargetan, dass die intensive mit der extensiven Größe nur kraft einer unbewusst vollzogenen petitio principii zu vergleichen ist; vermutlich gilt das auch für unendliche Größen. |