Schule des Rades

Hermann Keyserling

Kritik des Denkens

Epilog:Der Sündenfall

Durchschauen

Mythen als vielen Sinnen auf einmal einen Körper verleihende Sinn-Bilder sind immer noch unerreicht als Vermittler von Einsicht in die letzten Dinge. Und trotzdem das Wort Mythos neuerdings wieder häufiger als manches andere rechts und links verwandt wird, trotzdem die analytische Psychologie das, was Mythen überhaupt bedeuten, deutlicher herausgearbeitet hat, als früher je gelang, steht es mit denn praktischen Mythos-Verstehen jämmerlich. Denn dieses besteht im unmittelbaren, keinen Kommentar erfordernden selbstverständlichen Lesen-Können gerade dieser Sprache. Dies geht so weit, dass sogar der eine allgemein-menschliche Mythos, den doch jeder ursprünglich verstehen können sollte, kaum je mehr verstanden wird: ich meine den, welchen die Sprache als solche darstellt. Vom zur Denkfähigkeit erwachten Bewusstsein her geurteilt, ist das Wort einerseits der primäre Sinnes-Körper, andererseits der einzige, dessen primäre Intention auf Übertragung geht. Kein Ur-Wort entstand als Scheidemünze für Handel und Wandel, jedes bedeutete ursprünglich unmittelbare Sinnesverwirklichung im gleichen Sinn, wie die Götter Griechenlands unmittelbare Sinnesverwirklichungen darstellten. Darum steckt in jedem solchen Urwort mehr ewige Wahrheit, als in allen späteren Philosophien zusammengenommen. Darum führt die Meditation von Urworten weiter, als alles Studium expliziter Gedankengänge. Denn von der Außenwelt her geurteilt, liegt das Wesen des Geistes im Implizieren, nicht im Explizieren, so wie es vom delphischen Gott hieß: er sagt nichts, verschweigt auch nichts, sondern deutet an. Des Geistes Daseinsdimension ist die der reinen Intensität. Was am äußerlichsten von der mathematischen Formel gilt, die in Form weniger zu einander in Beziehung gesetzter abstrakter Symbole Milliarden konkreter Möglichkeiten prädeterminiert, gilt in desto tieferem und wesentlicherem Verstand, um je Tieferes und Wesentlicheres es sich handelt. Denn gäbe es auch letzte Worte — tatsächlich gibt es auch sie nicht — letzte Sinne kann es garnicht geben, denn eine weitere Dimension des Geistes ist die Unendlichkeit nach innen zu. Aus dieser ergibt sich denn die wesentliche Vieldeutigkeit jedes das Wesen des Wirklichen und nicht nur Fiktionen des Intellektes verkörpernden Sinnes. Nie und nirgends ist solcher Sinn ein für allemal und letztgültig zu fassen: auf jeder Etappe, die durch Tiefer-Versenken erreicht wird, offenbart sich ein neuer und reicherer Geisteskosmos. Doch dessen Daseinsform ist nicht die Entfaltetheit, sondern die Konzentration. Geist ist desto mehr und desto wirklicher Geist, je konzentrierter er ist.

Die obigen noch so kurzen Bestimmungen sollten genügen, auf dass jedermann einleuchte, dass das Wort Urausdruck des Geistes ist. Jedes Ur-Wort verdichtet in sich unendlich viele Sinne. Jedes impliziert ganze Philosophien. Darum meditierten die Geistesschüler großer Zeiten Worte, nicht Theorien. Eben darum enthalten die Worte wirklich großer Geister mehr, als je aus ihnen herausgedeutet werden kann. Die tiefsten Worte eines Goethe sind insofern Mythen in genau dem gleichen Sinn, wie es die Griechengötter waren. Demgegenüber hat die Mehrheit keinerlei Wortwissen und Wortgewissen mehr. Worte sind diesen nie mehr als das, als was sie jeweils definiert werden; ja sogar auf Definitionen wird verzichtet — völlig verständnislos werden sie übernommen und weitergereicht, dank dem sie freilich unbeanstandet all das Unheil anrichten, was ihrem Sinn entspricht. Denn auch nicht-verstandener Geist wirkt, und der Geist des Missverständnisses ist eins der gefährlichsten Gifte. Nur noch alleroberflächlichster Sinn, der überdies meist Un- oder Irr-Sinn ist, wird überhaupt als Sinn aufgenommen; dank der wachsenden Unfähigkeit zur Konzentration bringt es die Mehrheit nicht mehr über sich, die Anstrengung zu machen, die jedes echte Verstehen nun einmal erfordert. Es wird überhaupt nicht mehr verstanden, sondern nur mehr mechanisch gedacht. Und so nimmt denn die Fähigkeit unaufhaltsam ab, die allein von oberflächlicher zu tiefer Sinneserfassung führt: die des Durchschauens. Zu explizieren ist ein Mythos nie; durch Auseinanderlegung auf der Ebene, auf welcher Verstand kompetiert, verliert er sein Leben wie ein zerlegter Leib. Wohl aber kann er, zuerst als letzte Instanz in seine Ganzheit aufgenommen und meditiert, aufhören letzte Instanz zu sein nach innen zu: er wird selber zum Ausdrucksmittel tieferen Sinnes, der nunmehr — wiederum vorläufig — die letzte Instanz darstellt. Eben darin besteht das Durchschauen.

Alle echte Philosophie bedeutet Durchschauen des Mythischen vom verstehenden Geiste her. Solche Sinneserfassung ist ihr einziger Beruf, in ihr liegt ihre einzige Existenzberechtigung. Dass sie ihre Erkenntnis verstandesgemäß artikuliert herausstellt, liegt einfach am Gesetz der Korrelation von Sinn und Ausdruck, welch’ letzterer in diesem Falle den Denknormen gemäß zu sein hat. Doch die Vollendung in der Artikulation bedeutet garnichts gegenüber Vorhandensein von Sinneserfassung. Mag ein echter Sinneserfasser stammeln und lallen, mag er sich tausendfältig widersprechen — seine Philosophie ist mehr wert, als die jedes nur-Logikers. Was aber natürlich nicht hindert, dass das Ideal der Philosophie, wie das jeder anderen Kunst, in der Kongruenz von Sinn und Ausdruck liegt. Ich will es nun zum Schluss dieser Kritik des Denkens unternehmen, einen der tiefsten Mythen zu durchschauen und dessen Ergebnis allgemein verständlich darzustellen: gelingt mir das, so wird sich aus dem einen durchschauten Mythos ein unmittelbar einleuchtendes abrundendes Bild der Gesamtheit dessen ergeben, was unserer Untersuchung letztes Ziel ist. Der fragliche Mythos ist der des Sündenfalls.

Hermann Keyserling
Kritik des Denkens · 1948
Die erkenntniskritischen Grundlagen der Sinnesphilosophie
© 1998- Schule des Rades
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