Schule des Rades

Hermann Keyserling

Kritik des Denkens

Begreifen und Innewerden

Sinn und Ausdruck

Immerhin: Tatsachenerfahrung und Sinneserfassung sind zweierlei. Und es ist nicht dasselbe, ob dem Bewusstsein Geistiges oder Materielles offenbart wird. Um hier nun richtig zu unterscheiden, legen wir uns zunächst Rechenschaft darüber ab, wie das Leben überhaupt — nicht nur das geistbestimmte Leben — mit der materiellen Welt zusammenhängt. Vorurteilslos und unbekümmert um alle Begriffsspalterei und Wortklauberei beurteilt, unterscheidet sich das Lebendige von dem, was wir das Leblose nennen, grundlegend dadurch, dass keine Tatsache losgelöst von ihrem Sinn verstanden werden kann. Diese Charakteristik ist die entscheidende, denn sie zeigt vor allem auch, inwiefern die unter den heutigen Gelehrten moderne Scheidung zwischen Leben und Geist verfehlt oder irrelevant ist. Sterne und Steine sind, soweit die Erfordernisse des Menschengeistes kompetieren, als die rein äußerlichen Phänomene ohne Innenseite beschrieben, als welche sie uns erscheinen, auch verstanden. Das Verständnis der kleinsten Zelle eines lebenden Körpers jedoch setzt die Kenntnis dessen voraus, welche Rolle sie in jenem Körper spielt. Hier ist nicht die Erscheinung das Letzte, noch lässt sich ihr Seinsgrund im Bereich der Gesetze von Ursache und Wirkung oder der Funktion in beliebigem äußerlichen Verstande nachweisen: hier liegt die lebendige Wurzel der Erscheinung in etwas, was selbst nicht Erscheinung ist, in einer nichtmateriellen, schöpferischen Wesenheit, die man beliebig nennen mag, die aber nur als Sinneszusammenhang zu verstehen ist. Andererseits lässt sich die nicht-materielle Quelle materieller Lebenserscheinungen so tatsächlich verstehen. Dies hat zwei sehr einfache Gründe. Zunächst ist der Mensch selbst lebendig und das Bewusstsein spiegelt in erster Linie lebendige Wirklichkeit. Vor allem aber reicht das Verstehen als solches zum lebendigen Sinn hinab und ist zugleich dessen Ausdruck; hier erscheint das Grundprinzip des Lebens in einer spezifisch menschlichen Eigenschaft verkörpert und wie in einem Brennpunkt gesammelt. Jedermann weiß, dass der Sinn eines Satzes als Sinn in den ihm zum Ausdrucksmittel dienenden Buchstaben nicht enthalten ist. Desgleichen kann jeder mittels kurzer und klarer Überlegung feststellen, dass der Sinn allemal vor seinem Ausdruck da ist und diesen aus sich selbst heraus schafft. Bevor einem ein Gedanke einfiel, kann von einer Materialisierung und Artikulierung seiner nicht die Rede sein. Insofern ist im Bereich möglicher Geistesgestaltung das Ganze immer vor den Teilen da. Nun, genau das Gleiche gilt von der Artikulation und dem Funktionieren organischer Körper. Auch hier besteht das Ganze vor den Teilen; auch hier lenkt das Ganze alle Sonderprozesse von innen her, und dieses schöpferische Ganze ist an sich nicht materiell — es ist eine Wesenheit grundsätzlich gleicher Art wie die, welche inspirierten Kunstwerken als Einheit zu Grunde liegt. Betrachten wir nun, aus dem Gesichtswinkel dieser Einsicht, beliebige Lebenserscheinungen, so finden wir, dass das Verhältnis, dessen Urbild das des Sinnes eines Satzes zu den ihn ausdrückenden Worten und Buchstaben ist, auf schlechthin allen Ebenen gilt. Jeder einzelne Mensch muss sein Leben als sinnhaft sehen können, nicht allein damit es ihm lebenswert erscheine, sondern damit es überhaupt dauere; Menschen ohne Lebensziel, oder Völker, die ihre Götter oder ihre Ideale verloren, neigen ausnahmslos, über kurz oder lang, zum Selbstmord. Gleichsinnig beruht die soziale Stellung eines bestimmten Menschen auf seiner Bedeutung innerhalb seines Kreises, nicht auf seiner Tatsächlichkeit. Nicht anders liegt in der Bedeutung, nicht in der Tatsächlichkeit das Wesen historischer Größe: ein bestimmter Menschentypus gelangt nur dann zur Macht, wenn seine persönlichen Tendenzen für das Ganze repräsentativ sind, und jeder unmittelbar einleuchtende Begriff eines Schicksals setzt voraus, dass das empirische Leben einen Sinneszusammenhang zum Hintergrunde hat. Hier rekapituliere ich nur kurz das in vielen Schriften ausführlich Dargelegte. Darum sollte schon aus diesen wenigen skizzenhaften Sätzen klar hervorgehen, inwiefern bei wesensgerechter Fragestellung die übliche Scheidung zwischen Leben und Geist verfehlt ist.

Betrachten wir jetzt eine andere Seite des gleichen Problems. Wie verkörpert sich der Sinn in den Buchstaben? Von innen nach außen zu. Wir müssen den Buchstaben selbst von innen her einen Sinn geben, falls sie welchen zum Ausdruck bringen sollen. Und dies gilt genau so vom Leser oder Hörer wie vom Schöpfer: soll ersterer einen gemeinten Sinn erfassen, so muss er ihn in die Buchstaben selbst hineinlegen; denn was ihm von außen geboten wird, ist nur eine Verbindung von Druckerschwärze und Papier. So existiert Sinn nur als schöpferische Aktualität; hört deren Dynamik auf, dann ist es, als habe aller Sinn die Erde verlassen. Von hier aus wird besonders deutlich, wie vollkommen die Analogie zwischen dem Verhältnis von Gedanken und Alphabet einerseits und dem von Leben und Materie andererseits ist. Auch das physische Leben dauert nur so lang, als die Prozesse der anorganischen Natur von innen her vitalisiert werden; sobald dies aufhört, wird der lebendige Körper zur Leiche; dann benutzt der sich selbst überlassene Naturprozess die gleichen Kräfte, die den Organismus aufbauten, zu seiner Zerstörung. Gleichsinnig ist der zum toten Buchstaben geronnene Gedanke tatsächlich tot — handele es sich um religiösen Glauben oder bestimmtes Gesetz als Ausdruck anerkannter Gerechtigkeit oder auch nur um dem Hörer unverständliche Ideen; allenfalls vermag das Geistige alsdann in der Richtung der Selbstvernichtung zu wirken. Dies führt uns denn zu einem weiteren Aspekt des Problems. Das Grundgesetz des geistbestimmten Lebens ist das der Korrelation von Sinn und Ausdruck. Dieses Gesetz bedingt einerseits, dass jeder Sinn, soll er vollständig in die Erscheinung treten, den ihm gemäßen Ausdruck gefunden haben muss; andererseits, dass jeder neue Sinn neue Tatsachen schafft. Genau wie sich jede neue Idee in einer neuen Anordnung der Buchstaben, Worte und Sätze manifestiert, genau so findet neuer historischer Geist seinen Ausdruck in neuen Institutionen. Machen wir von hier aus einen Gedankensprung zum Extremausdruck des fraglichen Sachverhalts: der Idee der Auferstehung des Fleisches. Nach Paulus selbst bedeutet diese, dass der Geist sich am Ende der Zeit einen neuen Körper bildet, der nicht umhin kann, der gleiche zu sein wie der alte, sofern die Seele sich nicht verändert hat. Grundsätzlich handelte es sich hier um nichts anderes, als was wir alle tun, so oft wir einen Gedanken neu aussprechen, der eine Weile im Reich der Worte nicht vorhanden war. Ist letztere Tatsache Wirklichkeit, dann ist gegen die Möglichkeit jener anderen grundsätzlich wenig einzuwenden. Ich denke natürlich nicht daran, an dieser Stelle auf das betreffende christliche Dogma näher einzugehen. Ich belichtete so unvorbereitet-plötzlich den denkbar seltsamsten Ausdruck möglichen schöpferischen Lebens nur, um meinen Lesern auf allerwirksamste Art, das ist durch den Schock der Überraschung, folgendes zum Bewusstsein zu bringen: ist das Verhältnis zwischen Leben und Materie überall grundsätzlich das gleiche, wie das eines Gedankens zu den ihn ausdrückenden Buchstaben; ist ferner der Sinn und nicht die Tatsache das Primäre, und wird ersterer durch von innen heraus wirkende Sinngebung in die Erscheinungswelt hineingeboren — dann bedeuten Tatsachen auf dem Gebiet des Lebens grundsätzlich nie letzte Instanzen.

Von hier aus gewinnt manches Bekannte einen neuen Aspekt. Während der letzten hundert Jahre glaubten die Menschen an Tatsachen, denen sie sich nur anzupassen hätten, nicht anders, wie religiöse Zeitalter an das Imperative der Erfüllung von Gottes Gebot glaubten. In Wahrheit hat kein früheres Jahrhundert so viel neue Tatsachen geschaffen, was allein schon dem Menschen hätte beweisen sollen, dass sie ihm nicht die letzte Instanz sein können. Und zwar hat er diese Tatsachen, vom Standpunkt seiner eigenen Weltanschauung, aus dem Nichts geschaffen; denn materialisierter Sinn — das ist ein Nicht-Materielles, dessen Existenz er ja bestritt — war der Urquell jener ganzen gewaltigen materiellen Produktion; alle großen Erfindungen waren zunächst reine Einfälle aus dem Reich des Geistes, welche erst später zu Tatsachen gerannen. So war denn der Zauberer der Vorzeit, der im Ganzen wohl weniger fertig brachte als der moderne Erfinder, in seiner Einstellung der Wahrheit näher als dieser. Unsere heutige Herrschaft über die Natur ist Magie; sie ist nichts anderes als zu Tatsachen gewordene Phantasie. Ist uns dieses nun klar, dann geht uns zugleich eine überaus wichtige weitere Wahrheit auf; nämlich dass der letzte Satz des letzten Abschnitts nicht etwa ein Bild darstellt, sondern die Wahrheit im Sinne kritischer Exaktheit. Indem der Mensch lernte, sich der Naturgesetze zu bedienen, hat er gewissermaßen die Grammatik der Natur erlernt. Doch seine Erfindungen bedeuten ein von jeder Grammatik durchaus Wesensverschiedenes: sie sind das, was der Mensch in der von ihm erlernten Sprache selbst zu sagen hat.

Hermann Keyserling
Kritik des Denkens · 1948
Die erkenntniskritischen Grundlagen der Sinnesphilosophie
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME