Schule des Rades
Hermann Keyserling
Kritik des Denkens
Vernunft und Weltordnung
Die Grenzen des Denkens
Der Zusammenhang der Grundnormen des Denkens mit der objektiven Ordnung der Dinge dürfte nunmehr so deutlich geworden sein, dass weitere Erklärungen meinerseits nicht nur überflüssig erscheinen, sondern das gewonnene Bild nur trüben würden. Wenden wir uns nun von den bescheidenen gesicherten Feststellungen, die wir festhalten konnten, den großartigen Forderungen und Erwartungen, denen der Wortlaut des Kapitel-Titels Ausdruck gab, zum Abschluss dieses Kapitels wieder zu. Es besteht kein Zweifel, dass jeder unbefangene Mensch im innersten Herzen der Überzeugung ist, dass sich Weltordnung und Vernunft in weitestem Verstand entsprechen müssten und sollten. Auch dies ist ein Tatbestand; folglich darf sich Kritik nicht damit begnügen, sachlich Unrichtiges zu widerlegen: will sie so vollständig sein, wie dies die Intention vorliegender Untersuchung fordert, dann muss sie auch den letzten Sinn des Glaubens an eine vernunftgemäße Weltordnung zu fassen und im Gesamtsinneszusammenhang ihres Weltbildes an richtiger Stelle einzufügen wissen. — Nun, der Sinn, welchen wir suchen, wurzelt im Primat des Denkens für das erkennende Bewusstsein, so wie es heute ist.
Der ursprüngliche Mensch — ich ziehe hier diesen Ausdruck dem des naiven vor, denn ich meine den von keiner Reflexion von seinem ursprünglichen Geist-Erleben abgelenkten — der ursprüngliche Mensch will es nicht wahrhaben, dass die Weltordnung nicht in zum mindesten vier Hinsichten vernunftgemäß sei: in Hinsicht lückenlosen rationalen Zusammenhangs, der Schönheit, der Erfüllung auf einen vorausgesetzten Weltzweck hin und der Gerechtigkeit. Dass diese vier sehr verschiedenen Forderungen gleichzeitig erhoben werden, beruht auf der Grundneigung des Verstandes, zu verallgemeinern, welchem Drang das Endpostulat entspricht, dass alle Formen der Vollendung zusammenfallen müssen. Insofern ist das, was wir heute Aberglauben heißen, die Urform jeglicher Verstehen-wollenden Zusammenschau. Für den Abergläubischen gibt es kein zufälliges Nebeneinander: was immer an gleichem Orte oder zu gleicher Zeit geschieht, muss einem einheitlichen Sinneszusammenhang angehören. Jede Erklärung, die einen noch so willkürlichen Zusammenhang zwischen verschiedenen Gegebenheiten herstellt, erscheint primitivem Gemüt plausibler, als der geglückte Nachweis des nicht-Bestehens eines Zusammenhangs, und am plausibelsten die, welche schlechthin alles, alles Wirkliche wie alles Mögliche, einheitlich erklärt. Daher das ursprüngliche und allgemeine Einleuchten der Ideen eines Weltregiments, einer Vorsehung und einer ausgleichenden Gerechtigkeit. Was man also Uraberglauben heißen mag, liegt aller monistischen Weltdeutung zugrunde. Abendländer des zwanzigsten Jahrhunderts glauben im allgemeinen nicht mehr, wie Sokrates, das, was wahr ist, auch gut und schön sein müsse, was gut, wahr und schön, was schön, gut und wahr; auch nicht, wie die alten Chinesen, dass moralische Obligation die Weltkörper zusammenhält, was eine Identifizierung der moralischen mit der physikalischen Weltordnung bedeutet; auch nicht, dass jedes Unglück, das einen Menschen befällt, gerechte Vergeltung oder wohlmeinende Prüfung sei. Alle jedoch neigen nach wie vor dazu, nach irgendeiner Richtung hin unbegrenzte Verallgemeinerungsmöglichkeit und Einheit zu postulieren, so wie die Gültigkeit der logischen transienten Normen, wozu auch das Kausalgesetz zu rechnen ist, anzunehmen. Wäre es anders, so hätten spätgeborene Denker wie Husserl, Heidegger und Jaspers nicht vom Denken her so über das Sein Behauptungen aufstellen können, wie sie es getan haben. Die hiermit beschriebene Grundneigung des Menschen fordert ursprünglich nicht rationalen und logisch haltbaren Zusammenhang, sondern Zusammenhang überhaupt, und seien dessen Elemente noch so heterogen; ebendarum wählten wir den Aberglauben zum Prototyp des Verallgemeinerungsbedürfnisses. Je mehr aber das Denken sich herausdifferenziert und je mehr es in der Ökonomie des Menschengeistes vorherrscht, desto mehr lässt des Menschen Urtrieb zum Aberglauben den letzten Grund aller Gegebenheit in einer Weltvernunft suchen und desto leichter finden. Denn desto leichter hindert der Zensor im Unbewussten alles ihm Entgegentretende vom Bewusstwerden. Daher der Rationalismus aller frühen Philosophie und der Intellektualismus aller späten und aus Vitalitätsmangel oberflächlich gewordenen. Entsprechen der Nous des Anaxagoras oder der frühchristliche Logos intensiver Zusammenschau echten Tiefenerlebens auf der Projektionsfläche des Denkens, so sind moderner Materialismus, Moralismus, Pragmatismus, Behaviorismus, Psychologismus und Biologismus Ausdrücke innerer Abkehr von allem, was unverzügliche Befriedigung des Verallgemeinerungstriebes hindern könnte.
Nun ist kein Zweifel, dass das Denken in der Ökonomie des menschlichen Geisteslebens durchaus nicht alles überwiegen muss. Es hat nicht immer überwogen, es gibt Erkenntnismittel und Erkenntnisarten anderer Art, und da Erfahrung von Gegebenem die eine Quelle alles Wissens ist, so kann eine Überwertung des Denkens über bestimmte Grenzen hinaus vor kritischer Besinnung nicht bestehen. Zumal aller wirkliche und wesentliche Erkenntnisfortschritt nachweislich in genau entgegengesetzter Richtung verlaufen ist, als dies der Urtrieb fordert: in der Richtung wachsender Einsicht in das einzigartige jedes jeweils Gegebenen, so wie wachsender Kraft, die Unmöglichkeit, nach Herzenslust zu verallgemeinern, auszuhalten. Alles Wissen im Gegensatz zu Meinen und Wähnen ist von jeher Ergebnis der Unterscheidung und der Abgrenzung gewesen. Eben hier wurzelt die epochale Bedeutung von Kants Kritik. Aber Kant ist nicht weit genug gegangen. Als ausgesprochene Denker-Natur stellt er nicht in Frage, dass alle höchste Gewissheit Denkgewissheit sei. Das ist sie nicht. Darum kann das von Kant Intendierte nur dann als erreicht gelten, wenn seine Kritik der Vernunft in die Kritik des Denkens eingemündet ist, welche die Grenzen des Denkens überhaupt bestimmt.
Diese Kritik betrieben wir von Anfang dieser Untersuchungen an. Doch nur schrittweise können wir dabei voranschreiten. So sei hier zunächst genauer gezeigt, inwiefern Kant sein Problem zu eng gefasst hat. Sein Erkenntnishorizont war unüberschreitbar umfriedigt durch den einen Satz:
Begriffe ohne Anschauung sind leer,
Anschauungen ohne Begriffe sind blind.
Daraufhin konnte er nicht nur — er konnte nicht umhin über den Gegenstand der Religion zu sagen:
Ich musste dem Wissen Grenzen setzen,
um dem Glauben Platz zu machen.
Unter diesen Umständen ist es verständlich, dass er vom Geist Gefordertes, doch von keiner Naturnotwendigkeit Begründetes, auf einer Soll-Vorstellung der Vernunft zu fundieren versucht hat und sich bei jener seltsamen Freiheitslehre beschied, gemäß welcher empirische Determiniertheit und intelligible Freiheit zusammenfallen — bei welcher Bestimmung denn das, was Frei-Sein evidentermaßen bedeutet, außer Betracht bleibt.1 Kants Fehler und Irrtümer haben dann, wie es zu gehen pflegt, in allen nach-kantischen Philosophien weit mehr als seine wahren Einsichten fortgezeugt. Hält der dem unkritischen so naheliegende, in seiner Urbedeutung vor aller Bestimmung unabhängige Vernunftbegriff mit dem, was er an Postulaten voraussetzt und mit den Forderungen, die er teils ausdrücklich stellt, teils impliziert, der Kritik stand oder nicht? Dies ist die erste Frage, die es zu beantworten gilt, wofern Philosophieren über Kants Grenzen hinausführen soll. Nun, die Antwort lautet völlig unzweideutig: der traditionelle Vernunft-Begriff hält der Kritik nicht stand.
Er hält darum nicht stand, weil der Vernunft-Begriff ein ausschließliches Produkt des Denkens ist und weil die lebenswichtigsten Einsichten, um derentwillen der Vernunft-Begriff erdacht ward, durch Denken überhaupt nicht zu gewinnen sind. Wie grotesk die Voraussetzung ist, dass Gewissheit im Sinn des Denkens die höchste aller Gewissheiten sei, erhellt aus der einen Erwägung, dass der Beweis oder genauer die Bewiesenheit die spezifische Denkgewissheit schafft. Aber der Beweis kann ja nur nach-weisen, nur nach-denken auch auf der Ebene, wo Abstraktion logische Ketten bildet; er kann nur das feststellen, was sonst als Erfahrung unmittelbar gewiss ist oder sein kann! Freilich ist gelegentlich zu beweisen, dass eine als solche gewisse Erfahrung falsch gedeutet ward. Ferner ist auch auf dem Gebiet, wo die Denknorm dem Wege der Natur entspricht, gelegentlich mit Gewissheit zu erschließen, was niemals Sinnes-Erfahrung werden kann. Nie jedoch schafft Bewiesenheit die Evidenz unmittelbarem Erlebens, vor allem aber: nie sind die für den Menschen wesentlichsten Dinge überhaupt denkerisch zu beweisen. Es gibt keinen möglichen Gottesbeweis, keinen möglichen Beweis der Unsterblichkeit; ja die Existenz keines einzigen der geistigen Werte, welche jedermann unwillkürlich anerkennt, ist überhaupt zu beweisen. Diese wesentliche Unbestimmbarkeit geht sogar noch weiter: das ganze weite Gebiet des wesentlich Irrationalen gehört hierher. Wird dieser Umstand meist verkannt, so beruht das auf der Verwechselung der ratio cognoscendi mit der ratio essendi: der Erkenntnisweg, auf dem an sich Unbegreifliches festgestellt wurde, lässt sich selbstverständlich denkgerecht nachkonstruieren und an der Konstruktion nachprüfen. Doch nun endlich zur Hauptsache: wenn der Mensch die Wahrheit
will, so strebt er nie nach einer Formel, sondern nach gewissem Wirklichkeitserleben. Dieses nun ist allemal ein Konkretes, Einmaliges, als bestimmtes Erlebnis Unwiederholbares (so oft ähnliche Erlebnisse wiederkehren mögen). Also ist die ganze Voraussetzung, dass das Denken das für den Menschen letztentscheidende Erkenntnismittel sei, hinfällig.
Die Antike sah, trotz allem, was gegen ihre Begriffe sonst einzuwenden sei, in diesen Dingen klarer als unsere Zeit. Der Nous oder Logos war in der ganzen vorchristlichen Zeit wesentlich betrachtend. Nun ist freilich schwer einzusehen, wie sich die Betrachtung Gottes oder der lebendig vorgestellten Weltvernunft in Form von Leben und Erleben, Handeln und Leiden ausdrücken könne. Demgegenüber ist aber Wichtigeres unumgänglich nötig: dass der Begriff einer Weltvernunft überhaupt Hypostasierung der Ebene der Betrachtung zu der des eigentlichen Seins voraussetzt und fordert. Denken ist ausschließlich von der Einstellung des Betrachters her möglich: wie sollte da durch Denken und vom Denken her die lebendige Wahrheit erfasst werden, auf die es dem Wahrheitshungrigen einzig ankommt? Es war kein Zufall, dass die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in ihrem Geistesleben immer theoretischer werdende Antike zuletzt von einer Welt des Köhlerglaubens vernichtet ward: Denken kann niemals Sein feststellen. Glauben hingegen geht unmittelbar auf das Sein. Insofern ist Glauben die Quelle größerer Gewissheit als das Denken.2
1 | Dieses Wesentliche bestimmt auf das konkrete Leben hin das Kapitel Freiheitmeines Buchs vom persönlichen Leben(1936) und von der Sinneserfassung her, freilich in vorläufig-fragmentarischer Form, der in Wiedergeburt1927 veröffentlichte Freiheits-Zyklus der Darmstädter Weisheits-Tugung des Jahres 1925. |
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2 | Dass der Glauben und das Glauben allein von allen Geistfunktionen unmittelbar auf das Sein geht, habe ich schon in meiner derUnsterblichkeit(1907) festgestellt. Meine letzten ausführlichen Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Glauben und Wissen enthält das Kapitel Die Traurigkeit der Kreatur Südamerikanischen Meditationen. |