Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit

Weisheit des Ostens

Der gewichtigste Vorwurf, der seitens der besten Männer des Orients allgemein gegen die westliche Zivilisation erhoben wird, betrifft deren materialistischen Charakter. Sie meinen, die Nationen des Okzidents wendeten soviel Aufmerksamkeit auf die Mittel zum Leben, dass sie das Leben selbst darüber vergäßen. Der Vorwurf ist berechtigt. Unser Erfolg auf den Gebieten der Wissenschaft, der Mechanik, des Lebenstechnik überhaupt hat es dahin gebracht, dass unsere ganze Aufmerksamkeit für den Augenblick nach auswärts gerichtet ist, welches zur Folge hat, dass das Eigentliche unter dem ungeheuer komplexen Apparat vergraben und verloren scheint. Selbstverständlich handelt es sich hierbei um nicht mehr als ein Übergangsstadium. Die meisten und besten unserer führenden Geister sind sich der Gefahr vollauf bewusst, sie setzen ihre ganze Kraft darein, einer Fortdauer oder gar Verschlimmerung des bedenklichen Zustands entgegenzuwirken, und die Zeit liegt nicht mehr fern, wo die Organe und Werkzeuge, die zeitweilig eine schier unabhängige Existenz geführt und sich nicht selten zu Selbstzwecken aufgeworfen hatten, dem zentralen Leben wieder untergeordnet und von diesem her beseelt sein werden. Doch dies nur nebenbei. Ich habe diesen Tatbestand, der Ihnen allen wohl geläufig ist, nur deshalb berührt, weil genau die gleiche Art Entwicklung in der Sphäre des Geistes stattgefunden hat; was Ihnen aufgefallen, ist also typisch für den Kurs westlichen Fortschreitens überhaupt. Betrachten wir das geistigste aller Gebiete, dasjenige des Fortschrittes der philosophischen Erkenntnis. Das Denken, gleich jedem Organisieren, ist ein Mittel, sich die Wirklichkeit botmäßig zu machen; zum Denken, wie zu jeder sonstigen Betätigung, bedarf es der Organe und der Werkzeuge, und hier wie überall hängt der Erfolg der Arbeit zum sehr großen Teil von der Qualität des Werkzeuges ab. Die Werkzeuge zum Denken sind die Begriffe. Verwende ich die entsprechenden Begriffe einer Erscheinung gegenüber, so verstehe ich sie ganz; sonst nur unvollständig oder gar nicht. Die Werkzeuge nun, dank denen allein das Denken im höchsten Sinn erfolgreich sein kann, sind im Westen zu sehr früher Zeit zu sehr großer Vollendung gebracht worden, zu einer Vollendung, die vom Osten nie auch nur annähernd erreicht worden ist. Die Griechen sind es, und unter diesen vornehmlich Platon und Aristoteles, denen wir die Erfindung jenes machtvollen Begriffsapparates verdanken, der es dem Menschen seither ermöglicht hat, sich die Außenwelt fortschreitend zu unterwerfen.

Seit den Griechen sind wir auf dem eingeschlagenen Wege stetig vorwärts gekommen — ich sage stetig, weil die Perioden des Stillstandes und des Rückschritts, die gewiss nicht ausblieben, auf dem Gesamtbilde kaum ins Auge fallen. Unsere Werkzeuge sind stetig vervollkommnet worden, und schon heute dürfen wir ohne Übertreibung behaupten, dass sich kaum eine äußere Erscheinung mehr denken lässt, deren Meisterung im Prinzip nicht möglich erschiene. Allein die Außenwelt umfasst nicht die ganze Wirklichkeit. Wenden wir uns dem zu, was übrigbleibt, wenn man die Außenwelt abstreicht — der inneren Wirklichkeit, dem Geiste, dem Leben, wie immer man es heißen mag —, so erweist es sich, dass die westliche Entwicklung nicht nach allen Richtungen hin in positivem Sinn verlaufen ist; der Fortschritt im Erfassen und Realisieren der inneren Wirklichkeit hat mit dem im Erfassen der Außenwelt nicht Schritt gehalten. Wohl redeten die frühesten griechischen Denker aus tiefster Seele heraus, und ein Gleiches gilt von den frühesten Meistern der Christenheit. Die späteren, die einen ausgebildeten Begriffsapparat als Erbe überkamen und von der Schule auf dazu erzogen wurden, ihre Hauptaufmerksamkeit diesem zuzuwenden, sich ganz auf diesen zu verlassen, verloren immer mehr und mehr ihre unmittelbare Beziehung zur inneren Wirklichkeit. Da sie sich dessen aber doch bewusst blieben, dass eine solche Wirklichkeit existiert, so suchten sie nach ihr dort, wo sie sich zu Hause fühlten: nämlich außer sich. Nun ist es aber schlechterdings unmöglich, sein innerstes Selbst zu entdecken, indem man nach außen blickt. Jene frühen Philosophen verkannten diesen Umstand — genau im gleichen Sinn, wie dies die modernen Sozialpolitiker tun, die nicht zu begreifen scheinen, dass Glück etwas Innerliches ist und daher durch Verbesserung der äußeren Lebensumstände nicht herbeigeführt werden kann. Gleich diesen gingen auch jene von der Voraussetzung aus, dass innere und äußere Wirklichkeit auf einer Ebene belegen sind, und da die innere Wirklichkeit in der den Sinnen zugänglichen Sphäre nachweislich nicht Platz findet, so lokalisierten sie dieselbe im Reiche der abstrakten Ideen. So ward die metaphysische Wirklichkeit zuletzt ganz mit den äußeren Begriffen identifiziert, welche die Grenze nicht der Welt, sondern des menschlichen Abstraktionsvermögens bezeichnen. — Was bedeutet dieser Prozess? Er bedeutet, dass die Denkmittel mit der Substanz verwechselt worden sind. Es bedeutet mithin eben das, was der Osten der westlichen Zivilisation im Allgemeinen zum Vorwurf macht: dass der Westen vor lauter Interesse an den Lebensmitteln des Lebens selbst vergisst. Es ist also wirklich ein einheitliches Prinzip, das die gesamte westliche Entwicklung vom Altertum an zu beherrschen scheint. — Nun, vom konkreten Leben handelten wir bereits.

Ich sagte Ihnen, dass die Zeit nicht mehr fern ist, wo das Leben die entseelte Maschinerie von Neuem durchseelen wird, wo die emanzipierten Organe aufs Neue vom Geiste unterworfen sein werden, und will in diesem Zusammenhange gewissen, im Osten sowohl als im Westen verbreiteten Anschauungen gegenüber nur noch kurz bemerken, dass wenn dies geschehen ist, der erreichte Zustand unzweifelhaft als ein höherer anzusprechen sein wird, als es derjenige war, wo die Seele zwar herrschte, doch der Organe und Werkzeuge entbehrte. Die Reaktion nun, die sich auf dem Gebiet des konkreten Lebens erst seit Kurzem bemerkbar macht, hat auf demjenigen der Religion und Philosophie schon vor Jahrhunderten eingesetzt. Hier begann sie mit dem Augenblick des endgültigen Sieges der hellenistisch-christlichen über die antike Bewusstseinsform. Das Christentum — ich gebrauche das Wort hier als zusammenfassende Bezeichnung für alle geistesverwandten Strömungen jenes Zeitalters (Gnosis, Neo-Platonismus usw.), weil sie alle an der Gestaltung des Christentums teilgenommen und andererseits nur insofern fortgelebt haben, als sie Bestandteile dieser Religion geworden sind — das Christentum lehrt, das Himmelreich sei inwendig in uns, jede einzelne Seele habe teil an der Unendlichkeit. Diese Lehre bedeutete die unantastbare und auch unangetastete Voraussetzung aller Denker der frühchristlichen Ära. Da diese jedoch, ihren klassischen Meistern treu, nicht minder fest von dem Anderen überzeugt waren, dass jenes Unendliche in der Sphäre der abstrakten Ideen zu finden ist, so konnten ihre Denkbemühungen nicht umhin, zu dem Ergebnis zu führen, das seither unter dem Namen Scholastik bekannt ist — einem System, das in absonderlicher, ja ungeheuerlicher Weise echte Tiefe unter einem haltlosen Begriffsgebäude verbirgt. Die Scholastik hat gewähnt — ich erlaube mir, da es uns um historische Exaktheit im Augenblick nicht zu tun ist, das Problem der Deutlichkeit halber ein wenig zu vergewaltigen —, die empirische Wirklichkeit könne von der Gottesidee nach formallogischen Gesetzen geleitet, und umgekehrt Gott von der Natur her aufsteigend erschlossen werden. Nun hat die Logik mit der Mathematik den großen Vorzug gemein, dass jede Möglichkeit sehr schnell erschöpft werden kann (da ja sämtliche Möglichkeiten und Grenzen mit dem Problem zugleich gesetzt und gegeben sind), daher erwies es sich vor allzulanger Zeit, dass das ganze Unterfangen auf einem Urteilsfehler beruhe. Es geht nicht an, auf induktivem Wege zum Absoluten aufzusteigen, noch ist es möglich, vom Absoluten durch Deduktion das Einzelne abzuleiten.

Die erste Konsequenz dieser Entdeckung war eine Periode traurigster Verflachung. Die Denker des 18. Jahrhunderts gingen soweit, alles Sein zu leugnen, das sich durch die Sinne nicht nachweisen und den an der Erfahrung orientierten Verstand nicht erschließen lasse, und da in der Tat nichts auf Dasein Anspruch erheben kann, das den Gesetzen der Natur und des Geistes in deren Sphäre widerstreitet, so schien es zeitweilig wirklich, als sei die Seele und mit ihr alle Metaphysik als Wahngebild und Schattenspiel entlarvt. Da jedoch erstand jener größte Heros des kritischen Gedankens, den die Welt je hervorgebracht: der Deutsche Immanuel Kant. Kant gelang es, sowohl dem Sensualismus als dem Rationalismus den Todesstoß zu versetzen, indem er nachwies, dass die Vernunft Grenzen hat, dass die Sphäre der Wirklichkeit weiter ist als diejenige der Begreiflichkeit. So ward denn durch ihn, auf dem Wege der Elimination, die Richtung zur Quelle des Lebens zurückgewiesen. Diese selbst ward freilich nicht sofort bestimmt. Kant selbst missglückte es, von der metaphysischen Wirklichkeit einen gegenständlichen Begriff zu bilden. Seine unmittelbaren Nachfolger: Fichte, Schelling und Hegel gingen ursprünglich wohl vom richtigen Ansatz aus, doch eilten sie zu stürmisch voran und so verirrten sie sich. Sie übertrugen die Kantischen Kategorien, die nur als Erkenntnisrahmen für die Erscheinungswelt gültig sind, auf das metaphysische Sein, sie induzierten und deduzierten, wo die Logik nicht mehr kompetiert, und gelangten so schließlich dahin, unter neuem Namen den alten Irrtum der Scholastik wieder zu begehen: die gegebene Welt aus reiner Vernunft a priori zu konstruieren. Dieser Missgriff rief seinerzeit eine Reaktion hervor, ein abgeschwächtes Echo der Denkbewegung des 18. Jahrhunderts. Doch hiermit war die letzte Etappe auf der Bahn des Irrtums durchmessen. Im Lauf der letzten dreißig Jahre sind wir der Wahrheit stetig näher gerückt. Den Sinn unserer Missgriffe haben wir schon eingesehen, die Richtung künftigen Fortschreitens erkannt. Schon wissen wir, was Wissenschaft leisten kann und wo sie versagt, was Metaphysik bedeutet und wo ihre Grenzen liegen. Immer näher kommen wir der Lösung des ungeheuren Problems: was es mit der absoluten Wirklichkeit für eine Bewandtnis hat, an welche die Menschheit von jeher geglaubt. Und siehe: in dem Augenblick, da uns unser innerstes Sein seinem objektiven Charakter nach deutlich zu werden begann, da ward uns zugleich der Sinn der Weisheit des Ostens offenbar.

Mit einem Male ward uns klar, dass der Osten Jahrhunderte entlang im Besitz eben der Wahrheiten und Wirklichkeiten gewesen ist, die uns jetzt endlich auch deutlich zu werden beginnen. Früher hätten wir diese Entdeckung nicht machen können: wie ich Ihnen bereits auseinandergesetzt habe, ist es unmöglich, ein von außen her Gegebenes innerlich zu verstehen, das wir nicht unbewusst schon wüßten oder wären. Aber in dem Augenblick, da uns unser eigenes Sein deutlich zu werden begann, da verstanden wir auch den Seinsausdruck, den die Weisheit des Ostens verkörpert. Nun, meine Herren, werden Sie wissen, weshalb die Tiefen, die Ernst- und Wesenhaften unter uns so fasziniert durch den Orient sind: er bedeutet uns ein verdeutlichendes Bild, einen antizipierten Ausdruck unserer selbst. In unserem Verständnis aber ist uns der Schlüssel zu einem ganz Großen, noch nie Erreichten, kaum Geahnten in die Hand gegeben: dem, was jenseits von Osten und Westen weist — dem Grunde des Menschentums.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit
© 1998- Schule des Rades
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