Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Das Schicksalsproblem

Zufall

Echte Wissenschaft kann es nur davon geben, was sich kausal erschöpfend begreifen lässt, und das Kausalgesetz, wie wir es handhaben können, erfasst nicht alles Geschehen. So lässt sich keine verständliche Formel ausdenken, welche die Natur des Menschen und die von außen und schlechterdings unabhängig von ihm über ihn hereinbrechenden Ereignisse auf einmal und eindeutig determinierte. Die Voraussetzungen, unter welchen ein Zusammenschauen voneinander unabhängiger Begebenheiten möglich erschiene, sind entweder wissenschaftlich unhaltbar, oder aber jeder möglichen Kontrolle entrückt. Der Zusammenhang der Dinge und Ereignisse ist tatsächlich kein solcher, wie ihn Auguren, Haruspices und Astrologen angenommen haben, die moralische Weltordnung ist eine unerweisliche Hypothese; die Karmalehre ist mit den Erkenntnismitteln des normalen Bewusstseins nicht nachzuprüfen, die Vorsehungsidee bleibt bestenfalls eine recht zweifelhafte Interpretation des Weltverlaufs, und eine ewige Gerechtigkeit nach menschlichem Maßstabe vollends gibt es nur im Reich einer unbeirrbaren Einbildungskraft. Der Mensch ist weder Mittel- noch Brennpunkt des Weltgeschehens, die Kausalreihe, die seine Seele verkörpert, wird von unzähligen anderen durchkreuzt, die in gar keiner nur irgendwie notwendigen Beziehung zu jener stehen, und da kann es nicht ausbleiben, dass ihm manches widerfährt, was kein endlicher Geist zu begründen, zu rechtfertigen und vorauszusehen vermöchte. Man spähe nach keiner erkennbaren Absicht in den oft Schlag auf Schlag das gleiche Individuum oder das gleiche Geschlecht heimsuchenden Glücks- oder Unglücksfällen: sie sind, soweit wir’s nachprüfen können, ohne persönliche Bedeutung. Der trägt unverschuldet an Leiden, die ohne Schuld über seine Eltern kamen, der erbt ein Glück, das ein Zufall einem Fremden in die Hände spielte. Diesen hebt die Welle des Geschehens in blindem Wohlwollen zu den Wolken empor, und diesen wiederum schleudert sie in blindem Grimm in Abgründe hinab. Nicht weil sie es auf den Einzelnen abgesehen hätte, sondern weil sie es auf niemand abgesehen hat, verfährt sie also; sie weiß nicht, was sie tut. Der Einzelne kann nichts dafür, in welcher Gestalt er geboren ward, er kann nichts für die Stellung der Sterne. Und die Stellung der Sterne, die ihm den Rahmen seines Lebens abmaß, bedingt nicht zugleich seinen Charakter. Wird der Notwendigkeitsbegriff im Geiste möglicher Wissenschaft gefasst, dann ist es Zufall, ob eines Mannes Anlagen mit Zeiterfordernissen zusammentreffen oder nicht, ob er zur guten oder zur schlechten Stunde geboren ward.

Der äußere Rahmen eines Lebens hängt vom allgemeinen Gang der Ereignisse ab, von den Möglichkeiten, die dieser mit sich bringt; der ursprüngliche Charakter eines Menschen von Ursachen, die vor seiner Geburtsstunde wirksam waren. Kein notwendiges Band lässt sich zwischen der Seele und ihrem Schicksal feststellen, wofern unter Schicksal der Nexus verstanden wird, der den ursprünglichen Charakter des Menschen sowohl als die Ereignisse bedingen soll, die von außen über ihn hereinbrechen. So verstanden ist jedes Schicksal zufällig. Allerdings reizt es gerade dort am Meisten zum Nachsinnen und zur Theorie, wo es jeder nachweisbaren Ursache entbehrt, denn der Zufall ist als solcher unbegreiflich, erscheint ungeheuerlich, absurd; instinktiv weist der Mensch seine Möglichkeit ab. Ja er glaubt desto eher an die persönliche Bedeutung eines Geschehnisses, je schwerer diese Bedeutung festzustellen ist. Daher ist das Schicksalsproblem zu allen Zeiten besonders gern mit der Frage identifiziert worden, welches Band wohl die reinen Zufälle des Lebens untereinander verketten möge. Aber das Schicksal, auf diese Weise verstanden, bietet überhaupt kein Problem im wissenschaftlichen Sinn, da dieses in der gemeinten Fassung nur unter zwei gleich falschen Voraussetzungen bestehen kann: erstens, dass der einzelne Mensch Mittel- und Brennpunkt des Weltgeschehens sei, und zweitens, dass es in keiner Hinsicht Zufälle geben könne. Es gibt ohne Zweifel reine Zufälle in dem Verstand, dass die Ursache des Eintretens vieler Ereignisse ohne jeden Zusammenhang mit der Kausalreihe ist, welche der Mensch, den sie überkommen, verkörpert. — Wird unter Schicksal der Charakter des Menschenlebens überhaupt, wie es sich aus Notwendigkeit und Zufall farbig zusammensetzt, begriffen, so bietet es zwar auch kein lösbares Problem, da es Beziehungen zusammenfasst, die untereinander in gar keiner Beziehung stehen, aber doch wenigstens das Bild eines wirklichen Tatbestandes. Hierher rührt das Pathos der griechischen Schicksalsidee. Die μοῖϱα war den Hellenen, wie Burckhardt sagt,

nichts anderes als eine von allem bewussten Willen unabhängige Notwendigkeit der Dinge, möge sie als vereinzelte Tatsache oder als Nexus von Beginn der Welt an aufgefasst sein, je nachdem, ob Volk oder Weiterdenkende davon reden.

Sie war ihnen einerseits unlogisch und blind, dummer Zufall oder launischer Götterneid, andererseits wiederum die innere Logik des Bluts und die rächende Nemesis. Sie war ihnen unabänderlich, von Ewigkeit vorausbestimmt, und doch räumten die Griechen ein, dass gewisse Ereignisse auch trotz dem Schicksal, ύπέϱμοϱον, eintreten könnten. Das Schicksal, wie die Griechen es verstanden, ist ein ungeheurer Tatbestand, jedoch kein möglicher Begriff; daher hüteten jene sich wohlweislich, den bloßen Versuch einer Definition zu unternehmen. Nur das kann dem Verstande ein Problem sein, was als Problem der Lösung grundsätzlich fähig ist, und von der μοῖϱα gilt dies nicht. In den meisten ihrer historischen Fassungen bietet die Schicksalsidee kein mögliches Problem, und entspreche sie noch so sehr einer transzendenten Wirklichkeit. Denn mit den Erkenntnismitteln der Wissenschaft, die an den Satz vom zureichenden Grunde gebunden ist, ist ihr nicht beizukommen.

Doch es gibt einen Schicksalsbegriff, welcher wahr und gegenständlich ist und zugleich ein lösbares Problem in sich beschließt. Es besteht unter anderen ein notwendiges Band zwischen der Seele des Menschen und seinem Geschick. Dies ist freilich nicht die grandiose, weltumspannende Beziehung, welche die Sterndeuter zu fassen glaubten, es ist kein kosmisches, sondern ein psychologisches Band. Den Rahmen, in welchen die ererbte Natur, der allgemeine Gang der Ereignisse und der reine Zufall den Menschen eingestellt haben, den müssen wir als letzte Tatsache hinnehmen, denn seinerseits zu begründen ist er für unsere Begriffe nicht. Aber innerhalb dieses Rahmens herrscht wirklich eine notwendige Beziehung zwischen dem Inneren und dem schlechthin Äußeren, zwischen der Seele und ihrem Geschick, eine Beziehung, die ebenso deutlich als bedeutsam ist. Wir entdecken da, dass die Zufälle, die uns in unserem Lebensrahmen überkommen, überraschend gut zu unserem Wesen stimmen, dass unser äußeres Erleben fast immer von innerer Bedeutung ist. Es erweist sich, dass bestimmte Vorfälle nur bestimmten Menschen begegnen, dass jedes Leben eine bestimmte Linie verfolgt. Ja, diese Linie erweist sich als so eindeutig und scharfgezogen, dass es nicht unmöglich ist, die Zukunft vorauszusehen. Vom Schicksal in diesem Verstand und in diesem allein will ich im Folgenden handeln.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Das Schicksalsproblem
© 1998- Schule des Rades
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