Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Erscheinungswelt und Geistesmacht

Gottes Weisheit

Es hängt letztlich von uns selbst, von jedes Einzelnen freier Initiative ab, ob einer zu einem tiefen oder einem flachen Menschen wird. Objektiv, für den Außenstehenden, der tief genug zu blicken weiß, ist jeder tief, denn jede Oberfläche ist Ausdrucksmittel des tiefsten Sinns. Nicht aus dem Gelalle des Kindes allein, aus dem Gefasel des Narren spricht letztlich Gottes Weisheit. Aber wie Luther in der Erläuterung der Vaterunserbitte Dein Wille geschehe zwar ungeschlacht, aber überaus tiefsinnig sagt:

Gottes guter gnädiger Wille geschieht zwar auch ohne unser Gebet von ihm selbst, aber wir bitten in diesem Gebet, dass er auch bei uns geschehe —

so gilt es, das objektiv Vorhandene vom Subjekt her zu durchdringen, die Machtmittel der Natur zum persönlichen Ausdrucksmittel zu gewinnen. Immer scheint alles gegeben, damit der Geist sich manifestieren könne; tatsächlich offenbart dieser sich aber erst, nachdem der freie Wille des Subjekts ihn ergreift. Nur wo dieses geschehen, existiert der Mensch nicht allein für andere, wie das Tier ausschließlich, sondern auch für sich, und verfügt persönlich über die Geistesmächte, die faktisch hinter ihm stehen. Dies gilt sowohl im metaphysischen Hegelschen Sinn, als auch im rein praktischen der persönlichen, geistigen und politischen Selbständigkeit. Also muss jeder alle Kraft daran setzen, sein Bewusstseinszentrum aus der Äußerlichkeit in sein tiefstes Inneres zurückzubeziehen. Von außen her betrachtet scheint solche Bewegung nicht schwer: es gilt ja bloß, sich umzustellen, den Nachdruck auf das lebendig Schöpferische, das in jedem lebt, zu legen. Aber praktisch stellt es eine ganz ungeheuer mühsame Aufgabe dar, weil es dabei recht eigentlich gegen das natürliche Gefälle der menschlichen, und besonders der deutschen Lebens- und Denkgewohnheit zu arbeiten gilt. Die erforderliche Umkehr bedeutet nämlich das genaue Gegenteil jenes Umdenkens, auch-Anders-Könnens, in dem die Deutschen von heute Meister sind: sie besteht gerade darin, aus der Möglichkeit des Auf-viele-Weise-Könnens zu der Stellung zu gelangen, die in Luthers

hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, amen

zum Ausdruck kam. Im tiefsten Sinn, als sein tiefstes Selbst kann jeder Mensch immer nur auf eine Weise, weil es nur einer ist. Ist und tut einer dieses Eine und nur dies, so hat er das Weltall hinter sich, gleichviel, ob er siegt oder unterliegt: er lebt und handelt aus dem Herzen der Wirklichkeit heraus. Aber dieses wahrhaft Wirkliche muss jeder persönlich in sich entdecken, kein anderer kann es ihm von außen zeigen. Diesem Zweck diente von alters her die dogmatische Religion. Wenn jede Religion den Glauben an bestimmte Heilswahrheiten oder -tatsachen fordert, so bedeutet dies letztlich, dass jede einen besonderen Weg dazu weist, zur eigenen tiefsten Wirklichkeit zu kommen. Denn nur, wer persönlich glauben kann, ist subjektiv Herr seiner selbst. Aber bei der heutigen Zersetztheit aller Seelenformen durch den Verstand hat keine dogmatische Religion mehr die Macht, den Menschen dauernd in den persönlichen Besitz seiner Wirklichkeit zu setzen. Sehr charakteristischerweise ist es heute die Theosophie, oder die Religion als vermeintliche Wissenschaft, welche die größte werbende Kraft beweist. Heute muss der Mensch unmittelbar zu sich selbst gelangen, durch persönliche, erkenntnisgelenkte Selbstvertiefung. Heute muss jeder vor allem persönlich verstehen, dass jeder Einzelne letztlich Herr nicht eigentlich seines Schicksals, sondern, was mehr bedeutet, seines Wesens ist; dass bei jedem schließlich das in die Erscheinung tritt, was er in sich bejaht, betont. Dass aber die Erscheinung nie die letzte Instanz darstellt, sondern eine geistige Macht voraussetzt, die sie erschuf und im Dasein erhält. Diese kann außer uns, sie kann in uns liegen. Wo wir sie in uns nicht erkennen, nicht fassen, schlägt sie uns mit schicksalshafter Notwendigkeit von außen her in ihren Bann. Dies bedeutet das Nietzsche-Wort:

Dem wird befohlen, der sich nicht selbst beherrschen kann.

Es weist auf ein kosmisches Notwendigkeitsverhältnis hin. Dies wäre denn das praktisch Entscheidende der Erscheinungswelt liegt unter allen Umständen Geistesmacht zugrunde. An uns ist es, sie zu ergreifen, zu verkörpern. Tun wir es nicht, so tun es andere. Und in Deutschland haben es meistens andere getan.

So ist die tiefste Ursache von Deutschlands heutigem Tiefstand in allen Hinsichten keine andere als Mangel an Verantwortlichkeitsgefühl. Das, was neuerdings als ekelhafte Fröhliche Pleite-Stimmung in die Erscheinung trat, war schon viele, viele Jahre da. Hiergegen ist von außen nichts zu tun, nur im Wachstum der Selbstverantwortung liegt Heil. Und da müssen Sie allezeit Folgendes beherzigen: es ist nicht gleichgültig, wie einer, wie jeder Einzelne zu sich selbst steht. Gedanken sind positive Mächte, sie wandeln den Menschen sich selbst entsprechend um. Wer sich nicht selbst achtet, wird verächtlich, ganz objektiv; wer kein Verantwortungsbewusstsein hat, wird im tiefsten metaphysischen Sinne unverantwortlich. Das Äußere ist immer nur ein Ausdruck des Innerlichen, im tiefsten Verstand symbolisch. Deshalb helfen äußere Reformen als solche nie. Was wird heute in Deutschland nicht alles reformiert: Kirche, Schule, Universität, Gesellschaftsstruktur, Verfassung, Armee! Und schon heute sieht man, dass nicht das Mindeste dabei herauskommt — im Gegenteil: das gelockerte Gefüge der Gewohnheit raubt dem Deutschen den letzten Rest von Halt. Das Wesentliche, worauf es ankommt, nämlich, dass die Deutschen andere, tiefere Menschen werden, wird überhaupt nicht erfasst. Warum fehlt heute jeder Glaube, jeder sittliche Ernst, fehlt heute dem sogenannten Volk der Denker jede Tiefe? Weil die Deutschen sich selbst nicht mehr ernst nehmen. Vor anderen wie vor sich selbst verleugnen und erniedrigen sie sich mit offenbarer Wollust, und geht irgend etwas gar zu schief aus, dann wird über die gerade Führenden geschimpft oder geschrieen nach dem großen Mann. Wenn man immer vom Äußerlichen abhängt, dann ist man gar nicht. Jeder Einzelne, gleichviel in welcher Lebensstellung, ist im selben Sinne voll verantwortlich, wie sich ein Bismarck fühlte. Dass dessen Werk heute zerschellt am Boden liegt, beruht darauf, dass er allein nicht nur zu seiner Zeit, sondern bis zum heutigen Tag die volle Last der Verantwortung gefühlt hat. In England waren und sind es Hunderttausende, die, ob noch so klein, im Verhältnis zu ihren Möglichkeiten, ähnlich fühlen. Dieses Gefühl der vollen Selbstverantwortung müssen Sie in sich großziehen. Sie müssen sich jeden Augenblick dessen bewusst sein, dass die Erde genau nur so erscheinen kann, wie ihre Bewohner sie haben wollen; dass alles Äußerliche wesentlich innere Gründe hat. Glauben wir an uns selbst, im Lichte richtiger, angemessener Selbsterkenntnis, so erwachen ungeheuere Kräfte in uns. Glauben wir an die Übermacht der Erscheinungswelt, so schlägt diese uns hohnlachend in Ketten. So hat das kleine Serbien durchgehalten, weil es sein inneres Wollen höher schätzte als den äußeren Schein; so hat sich Deutschland seit 1918 allmonatlich preisgegeben, weil es ständig vor dem momentanen Schein kapitulierte und sich einer inneren Wirklichkeit überhaupt nicht bewusst erschien. Finden wir persönlichen Kontakt mit unserem wahren Wesen, so sind wir eins mit einer kosmischen Macht. Es sind die Mächte, die der Berge versetzende Glaube bannt. Zu dieser Vereinigung muss sich jeder von Ihnen bewusst erziehen. Deutschland, äußerlich betrachtet, noch immer das Land der ehrlichsten Leute, ist heute tatsächlich das der tiefsten metaphysischen Unaufrichtigkeit. Die Meisten denken und glauben gar nicht, was ihnen entspricht — wie hätten sie sonst am 9. November 1918 so guten Gewissens die Front wechseln können? —, sie sind Statisten oder Schauspieler unfrei übernommener Bindungen. Dann steht natürlich keine Geistesmacht hinter ihnen, und wir brauchen uns wahrlich nicht darüber zu wundern, dass Deutschlands rein mechanische Macht, das Geschöpf äußerlicher Organisation, solang sie vorhielt, überall nur Hass und Verachtung weckte. Aber besinnen wir uns auf uns selbst. Jeder trägt, ob er es weiß oder nicht, einen göttlichen Funken in sich. In jedem lebt etwas, was schöpferische Initiative werden kann. Jeder weiß nur ein Bestimmtes für sich, kann nur auf eine Weise denken, fühlen, wollen. Erziehen Sie sich dazu. Finden Sie den Kontakt mit Ihrem tiefsten Lebensquell. Und Sie werden entdecken, dass eben die Welt, die Sie jüngst noch übermächtig in Bande schlug, in stiller Verwandlung zu Ihrem Werkzeug wird1.

1 Den hier zum ersten Mal skizzierten Weg zur Verinnerlichung unter Voraussetzung unserer wesentlichen Freiheit beschreibt genau mein im Mai 1922 erscheinendes bzw. erschienenes Einführungsbuch in die Schule der Weisheit Schöpferische Erkenntnis.
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Erscheinungswelt und Geistesmacht
© 1998- Schule des Rades
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