Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Entwicklungshemmungen · Ein Mahnwort an diese Zeit

Wendepunkt der Geschichte

An einem Wendepunkte der Geschichte, nicht minder bedeutsam als es der heutige ist, ragen zwei große Gestalten, deren Gegensatz für alle Zeiten symbolisch bleiben wird: Cato und Julius Cäsar. Cato verkörperte das alte, nun sterbende Rom. Er erkannte die Baufälligkeit des alten Gefüges, er sah den Verderb der Gegenwart, ihm lebte die Größe der Vergangenheit, und sein edles Herz schmachtete nach einer größeren Zukunft. Allein sein starrer Verstand wusste keine andere Größe zu denken, als die von einst. Auch Cäsar liebte sein Vaterland, auch Cäsar begriff die Fäulnis seiner Zeit; auch er war erfüllt von der Glorie verflossener Tage und sehnte sich nach ihrer Wiederkehr. Aber Cäsar begriff etwas, was Cato entging: er begriff, dass Roms Größe nicht an vergängliche Formen gekettet war. Roms Geist war ihm ewig, nicht aber die römische Republik. Cäsar erkannte, dass der Weltgeist neuen Verkörperungen zustrebte, dass das Alte, noch so Ehrwürdige, nicht mehr lebensfähig war. Er hatte den Mut, über Gräber fortzuschreiten, über den Tod hinaus dem ewigen Leben voran. Cato ist gestorben mit seiner Zeit, als ihre letzte und ausgeprägteste Inkarnation, ehrwürdig als Überzeugter, aber schließlich doch nur ein Römer des letzten Jahrhunderts vor Christo, eine zeitliche Erscheinung, späteren Epochen eine Antiquität, für das Leben belanglos. Cäsar ward zum Heiland der neuen Weltära. Cäsar war mehr als ein Römer, mehr als ein Kind seiner Zeit, ja mehr als seine eigene Person. Sein Geist ward zum Geiste ungeborener Völker, sein Schicksal schwoll zu dem Europas an. Cäsar lebt und wird fortleben, solange die Welt nicht stillesteht.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Entwicklungshemmungen · Ein Mahnwort an diese Zeit
© 1998- Schule des Rades
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