Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Individuum und Zeitgeist

Balten

Was aus dem Menschen wird, hängt wesentlich von den Voraussetzungen des Zeitgeistes ab. Gestatten Sie mir, um abzuschließen, mich den Verhältnissen unserer eigenen, engeren Heimat zuzuwenden. Wir Balten rühmen uns mit Recht einer alten Kultur, einer bedeutenden Tradition. Der baltische Menschenschlag ist eigenartig, ausgeprägt. Dies fällt zumal dem auf, der so manches Jahr seines Lebens in anderen Breiten verbracht hat. Die Zahl übernormaler Begabungen bei uns ist eine hohe, höher vielleicht im Verhältnis, als drüben im deutschen Reich. Auch das Bildungsniveau ist, soweit unter Bildung Wissen verstanden wird, ein beträchtliches. Das ist schön und gut: aber leider stehen die positiven Leistungen der Deutschen unseres Landes hinter ihren Anlagen unverhältnismäßig zurück. Es ist für einen, der an die Intensität westeuropäischen Lebens gewohnt ist, kaum zu glauben, wie wenig mit dem reichen geistigen Material zuwege gebracht wird. Wir tun uns viel auf die Gelehrten von europäischem Ruf zugut, die dem Baltikum entsprossen sind: erstens sind sie nicht alle von so gewaltiger Bedeutung, als manche unter uns es gerne glauben möchten, dann aber ist die Zahl bekannt gewordener Namen im Verhältnis zu dem, was hier an Begabungen überhaupt produziert wird, viel zu gering. Auch möchte ich auf den merkwürdigen Umstand hinweisen, dass viele von denen, die es anderweitig weit gebracht haben, daheim keineswegs für bedeutend galten. Dies liegt gewiss nicht an etwaiger Missgunst gegen das Talent — diese ist hier geringer als irgendwo in der Welt; dies liegt nur zum Teil an der landesüblichen Unterschätzung intensiven Strebens und Überschätzung des ursprünglichen Mutterwitzes —: das heimische Urteil ist insofern ganz berechtigt, als es unter uns zweifellos stärkere Begabungen gegeben hat und wohl noch gibt, als die es waren, welche durch positive Leistungen hervorgetreten sind. Die überwiegende Mehrzahl der Begabten aus dem Baltenland leistet nichts auch nur annähernd ihren Gaben Entsprechendes. Woran mag das liegen? — Es liegt wiederum an dem, was wir in unseren bisherigen Betrachtungen als Zeitgeist bezeichneten. Man sagt gewöhnlich, es liege an den Verhältnissen. Das ist ein undeutliches Wort. Die materiellen Verhältnisse können hier nicht als besonders schwierige angesprochen werden, jedenfalls nicht als so schwierig, dass es sie anzuführen lohnte: denn leicht hat es das Talent im Anfang nirgends auf der Welt; das Lebensfähige kämpft sich eben durch. Auch der Einwand, die Verhältnisse seien hier zu klein, scheint mir nicht stichhaltig. Die Weite des Feldes ist es nicht, welche die großen Männer macht, eine intensive Durcharbeitung der Persönlichkeit gelingt in kleinem Rahmen nicht schlechter als in großem, und wo Intensität vorhanden ist, da schafft sie sich auch Luft. Nein, der Grund, weshalb aus den baltischen Talenten gewöhnlich weniger wird, als sie werden könnten und sollten, liegt nicht darin, dass die Verhältnisse hier zu schwierig, sondern an dem, dass sie zu leicht sind. Viel zu leicht. Wir bilden hier alle eine große Familie, wissen meist voneinander, kümmern uns alle umeinander und sorgen mit jenem schönen Gemeinsinn, der ausgesetzten Posten eigentümlich ist, für das Fortkommen des Einzelnen. Droht ein Schiff zu sinken, so hält es die Gesamtheit über Wasser, versagt ein Steuermann, es greifen hundert Hände zu; scheint aber einer zum Siegen geboren, dann freut sich seiner das ganze Land. Mit außerordentlichem Wohlwollen wird hier jedes Anzeichen von Tüchtigkeit begrüßt; mit jener Parteilichkeit, die in Familien so natürlich ist, wird das Talent hier von allen ein wenig überschätzt, und vom ersten Anfang an fühlt sich der junge Balte von ungewöhnlicher Begabung, bloß dieser ursprünglichen Begabung wegen, von der Atmosphäre der Anerkennung umgeben, die ihm anderweitig erst nach Jahren des Kampfes, auf Grund unzweideutiger Leistungen zuteil würde. Dieses Wohlwollen, diese Nachsicht mag ein schönes Zeichen unseres Gemeinsinnes, unseres Zusammenhaltens, unseres sozial-ethischen Charakters sein: jedenfalls ist es tödlich für das Individuum. Ich gebrauche absichtlich das extreme Wort. Denn es bedarf einer Willenskraft, die bei kaum einem Zwanzigjährigen schon entwickelt ist, um gegen diese Atmosphäre unverdienten Wohlwollens anzukämpfen und in harter Arbeit den Grund zu der Anerkennung zu legen, die ihm daheim von vornherein und ohne Grund so freigebig gespendet wird. Kämpft er aber nicht gegen sie an, überwindet er sie nicht, dann ist er für höhere Ziele verloren: denn der Mensch entwickelt sich überhaupt nur im Ringen mit Schwierigkeiten, ohne angespannte Betätigung schläft die lebendigste Begabung ein. Und wessen Ehrgeiz nicht groß genug ist, um nach dem Äußersten zu streben, wessen Blick nicht weit genug, um über die Landesgrenzen hinauszureichen und zu erkennen, wie unscheinbar sich aus gehöriger Entfernung so manches ausnimmt, was daheim den Eindruck des Grandiosen erweckt; oder wer in der Gestaltung seiner selbst kein so ernstes Ziel sieht, dass er allen anfänglichen Beifall missmutig überhört, ja, der gewinnt nur zu leicht ein verkehrtes Bild von seinem Wesen und Wert; der bleibt unfruchtbar, wie reich ihn die Natur immer ausstatten mochte. Fern sei von mir, die Selbstbescheidung zu tadeln, die viele der Besten unter uns bewogen hat, einem weiteren Tätigkeitsfelde zu entsagen und ihre ganze Kraft der Heimat zu widmen; fern sei von mir, für jenes Streben nach äußeren Erfolgen einzutreten, dessen Missachtung gerade zu unseren besten Charakterzügen gehört: weder der Heimatflucht, noch auch dem Strebertum will ich das Wort reden. Desto mehr aber dem Willen zur inneren Vollendung, zur intensiven Selbstkultur, aus welchem allein höheres Menschentum geboren wird. Und dieser Wille ist bei uns zu schwach.

Der Zeitgeist treibt den Balten nicht; er zwingt ihn nicht zur Durcharbeitung seiner selbst. Das Wohlwollen, das Wenig-Verlangen, das wir unseren Brüdern gegenüber an den Tag legen, ermutigt sie eher dazu, sich gehen zu lassen. Der Rohstoff wird hier so hoch bewertet, dass die Meisten es ganz aufrichtig für unnötig erachten mögen, noch etwas aus ihm zu schaffen. Man ist klug, und damit basta; das Weitere leistet die Zeit. Aber diese Auffassung entspringt einem verhängnisvollen Missverständnis. Nicht das, was ein Mensch an Gaben mit auf den Weg bekommt, sondern ausschließlich das, was er aus ihnen zu machen weiß, entscheidet über seinen kulturellen Wert. Nur das Material, das im Geiste neugeboren ward, ist zur Dauer bestimmt. Denken Sie an Griechenland, das Land der ewigen Schönheit, von welchem wir heute ausgingen und dessen segenspendender Sonne wir uns zum Schluss wieder zuwenden wollen — was ist es, das seiner Kultur Unsterblichkeit verlieh? Nicht die Natur, so freigebig sie war, sondern menschliche, eiserne Arbeit. Und denken Sie andererseits an die Romantiker von Jena, jene überreichen, begnadeten Geister: die sind unwiederbringlich dahin; ihr Tod war nicht die Schwelle zum ewigen Leben. Sie haben es nicht verstanden, ihre Natur zu meistern; wer das nicht vermag, für den ist kein Bestehen. Auch unsere kulturelle Zukunft wird davon abhängen, ob wir die Kraft aufbringen werden, das reiche Erbe, das unsere Väter uns vermacht, wirklich produktiv zu machen. So wüßte ich denn diese Rede nicht besser zu beschließen, als mit dem Wunsch, der Geist unseres Landes möge seine Söhne zwingen, ihr Äußerstes dranzusetzen. Dann brauchten wir vor keiner Zukunft bange zu sein. Wir würden weder zugrunde gehen noch vergessen werden1.

1 Die hier gewünschte Prüfung ist seither in furchtbarster Form über uns hereingebrochen… Aber ich bin überzeugt, dass wir Balten sie bestehen werden. Wie ich unsere neue Aufgabe sehe, habe ich in einem in Politik, Wirtschaft, Weisheit wiederabgedruckten Aufsatz Die baltische Einheitsfront auseinandergesetzt.
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Individuum und Zeitgeist
© 1998- Schule des Rades
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