Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Idealismus und nationale Erziehung

Ideal und Wirklichkeit

Ich werde gebeten, zur Frage des Geschichtsunterrichts Stellung zu nehmen: ob dieser national oder anational sein soll? Diese Frage für Deutschland zu beantworten, ist allerdings von prinzipiellem Interesse, denn in keinem anderen Lande stellt sie sich gleich akut, kann deren Entscheidung daher gleich viel bedeuten. Mich nun reizt das Problem gerade deshalb, weil es mich persönlich darum angeht: von Hause aus übernational, des Ausdrucks durch die verschiedensten Geistes- und Sprachmittel fähig, dem Deutschtum aus freier Wahl gleichsam verbunden, bin ich außerstande, nicht unparteiisch zu sein. Sollte sonach das, was ich ausführen werde, dem Nationalisten sympathischer klingen als dem Internationalisten, so bitte ich dringend, diesen Umstand objektiver Einsicht und nicht persönlicher Vorliebe gutzuschreiben. Ich bekenne offen, dass meiner universalistischen Natur jede Form von Nationalismus zuwider ist, während andererseits allerdings das Formverwischende des Internationalismus meinem Künstlersinne widerstreitet.

Der Sinn der Geschichte besteht in der fortschreitenden Verwirklichung des objektiven Geistes, hat Hegel gelehrt, und die gleiche Anschauung bekennen die idealistischen Pädagogen des heutigen Tags, in erster Linie Wyneken, dessen Ausführungen der Anlass dieser kurzen Studie sind. Gut. Diese Auffassung schließt die Anerkennung einer Skala absoluter Werte ein, und es ist gewiss, dass gegen deren Gültigkeit innerhalb des Umkreises möglicher Kulturforderungen wenig Stichhaltiges vorgebracht werden kann. Aber folgt hieraus, dass die empirische Wirklichkeit unmittelbar am Maßstabe des Absoluten zu messen sei? — Falls unsere Ideale einem selbständigen, von der Gegebenheit unabhängigen Reiche angehörten, falls das Seinsollende unabhängig vom Sein definiert und beurteilt werden könnte, dann allerdings wäre diese Folgerung berechtigt. Allein die Voraussetzung, unter welcher allein solches der Fall wäre, trifft nicht zu, sie ist philosophisch nicht zu halten. Unsere Ideale sind, sofern sie überhaupt einen objektiven Grund haben, Exponenten gegebener innerster Lebenstendenzen, sie sind nicht in sich selbst gegründet und können daher unabhängig von der empirischen Wirklichkeit weder verstanden noch definiert werden. Wohl sind die vornehmsten unter ihnen so tief in unserem Wesen begründet, dass kein jenseits derselben mehr denkbar scheint, und aus diesem Grunde hat man sie absolut genannt. Aber diese Absolutheit wird ausschließlich durch diejenige der Lebenstendenz garantiert, sie wurzelt nicht im Ideal als solchem, und deshalb ist ein Absehen vom Konkreten nicht möglich, ohne dass zugleich dem Ideal der Boden unter den Füßen entzogen würde. Unter diesen Umständen wüßte ich nicht, wie man die Frage, ob der Mensch in seiner Bedingtheit ein zu Überwindendes wäre, vernünftigerweise stellen kann: nur insofern er bedingt ist, hat sein Streben nach Unbedingtem Sinn, nur insofern die Wirklichkeit eine bestimmt gegebene ist, kann von Idealen überhaupt die Rede sein. Das Korrelationsverhältnis von Ideal und Wirklichkeit ist eine letzte, unübersteigbare Tatsache, dem alle Theorie und alle Praxis Rechnung tragen muss. Daher kann es im vorliegenden Fall nicht darauf ankommen, über den Wert oder Unwert des Gegebenen vom Absoluten her apodiktisch abzuurteilen, das Folgende allein muss entschieden werden: wie sich in Anbetracht der unüberwindlichen Wechselbeziehung von Ideal und Wirklichkeit das Seinsollende innerhalb des Seins am Besten verwirklichen lässt.

Nun könnte es ja sein, dass die Natur im Menschen in ihrem Sosein etwas schlechthin Gegebenes, Selbstverständliches wäre, um das man sich überhaupt nicht zu kümmern hätte, es sei denn, man wolle sie überwinden. In dem Fall würde dem Ideal wie der Wirklichkeit unzweifelhaft am Besten gedient, indem alles Streben sich von Hause aus und durchaus, so wie Wyneken z. B. dies will, auf das absolute Ideal (das Schöne, Wahre, Gute als solche) richtete. Aber diese Voraussetzung trifft nicht zu, und mit ihr fallen ihre sämtlichen Konsequenzen. Die Natur des Menschen, der eben ein bewusstes und durch Bewusstsein bestimmtes Wesen ist, entfaltet sich in Hinsicht auf ihr Ideal, woraus folgt, dass ein verfehltes die Natur verbiegen und verderben kann. Wann nun ist ein Ideal als verfehlt anzusprechen? Wenn es nicht in der Richtung einer möglichen aufsteigenden Entwicklung, wenn es abseits von dieser belegen ist, und hieraus ergibt es sich, dass in diesem Zusammenhange nur von der Wirklichkeit her über den Wert des Ideals, nicht von diesem her über jene entschieden werden kann. Die Ideale der Tanne können nicht die der Birke sein, sofern beiden Existenzberechtigung zuerkannt wird, weil die Grenzen und Möglichkeiten beider verschiedene sind. Solchen Überlegungen hält der Rationalismus sofort die Ideale entgegen, welche die Menschheit von je als unbedingt hat gelten lassen: die Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit usw.; diese sollen eben verwirklicht werden, gleichviel ob es je geschehen ist oder nicht. Nun kann gewiss kein Zweifel darüber bestehen, dass die genannten Ideale in weit höherem Grad als verpflichtend empfunden werden, als die des Standes, des Berufes, der Nation — aber woher der Unterschied? Im Vorhergehenden ist die Antwort schon enthalten: nicht weil es sich hier um die einzig wahren Ideale handelte, welchen die übrigen ohne weiteres aufzuopfern wären, sondern weil die Lebenstendenzen, deren Exponenten sie darstellen, so tiefe und folglich auch so allgemeine sind, dass ihre Aktion in jedem konkreten Falle nachzuweisen ist. Jeder Edle strebt nach Vollendung, gleichviel was er unter ihr verstehen mag, und alles Vollendete ist absoluten Idealen gemäß. Nun aber kommt eine Folgerung, die der Rationalismus niemals gezogen hat: sintemalen den höchsten Idealen Allgemeingültigkeit zukommt, umschreiben sie kein bestimmtes Gebiet einer möglichen konkreten Betätigung. Es gibt unendlich viel Formen der Wahrhaftigkeit (wenn es auch nur eine Wahrheit im Sinn der Wissenschaft gibt), und ebenso reich und vielgestaltig sind die Möglichkeiten ästhetischer und ethischer Vollendung. Was kann unter diesen Umständen gewonnen werden, wenn der Sinn auf das Ideale an sich gerichtet ist? Das Ideale als solches ist eine leere Form, diese muss mit Konkretem gefüllt werden, und alles nur mögliche Konkrete geht in dieselbe ein. Vielleicht gibt es begnadete Geister, die das Ideale in seinen sämtlichen Verkörperungen zu verstehen vermögen: es ebenso schaffend zu verwirklichen, geht über menschliche Kraft; als tätiges Wesen ist auch der Größte eng begrenzt. Nun geht aber alle Erziehung offenbar darauf aus, Menschen heranzubilden, die das Ideale in konkrete Wirklichkeit umsetzen; mit passiver Einsicht wäre gar nichts erzielt. Folglich kann es in keiner Hinsicht richtig sein, den Unterricht am Absoluten anheben zu lassen.

Aufgabe der Erziehung ist, die idealen Forderungen, deren äußerste allerdings unbedingt gelten, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten der Verwirklichung zuzuführen. Diese Aufgabe wird keiner schwerer erfüllen als der, welcher der Jugend abstrakte oder in ihrem Ausdruck fremdartige Ideale vorhält. Wird dem Jüngling gelehrt, dass er sein Streben auf das Wahre, Gute, Schöne als solche richten soll, so wird er, falls er nicht gerade Philosoph ist, oder (was glücklicherweise meist geschieht) die Lehre missversteht und ins greifbar Relative umdeutet, schlechterdings nicht wissen, was er anfangen soll, und dies mit Recht. Und im gleichen Sinn wird er an fremdartigen Verkörperungen des Idealen weniger Förderung erfahren, als an solchen, die seiner eigenen Natur verwandt sind. Allerdings: jeder Knabe, jedes Volk wird sich an Griechenlands Helden begeistern, denn die früheste Begeisterung geht auf das Generelle und bemerkt das Besondere nicht. Aber kommt der Knabe in die Jahre, wo er sein eigenes Leben bewusst gestalten will, dann wird er zu seinem Befremden entdecken, dass so mancher Heros ihm wenig zu sagen hat. Der deutsche Jüngling, der sich an Sokrates orientiert, wird, sobald er sich vom ganz allgemeinen Zuge der Überzeugungstreue Bestimmterem zukehrt, gewahr werden, dass er ihm bis ins Letzte, d. h. bis ins eigentlich Sokratische nicht folgen kann, und das Gleiche wird gelten vom Nacheiferer Cäsars, Shakespeares, Pascals oder Tolstois. Das Ideale, das ihn an diesen Erscheinungen fesselt, ist nämlich in einer Form verkörpert, die er seinerseits nie finden würde, die er nicht immer ganz verstehen kann; und so weist ihn das Ideal, das ihn hinanziehen sollte, im entscheidenden Augenblick auf ihn selbst zurück. Wie anders liegen die Dinge, wenn er sich Schiller, Bismarck oder Luther zu Vorbildern wählt! Hier hat das Allgemeingültige, sofern vorhanden, einen Ausdruck gefunden, der als solcher jedem Deutschen gemäß ist, und der Deutsche, der sein Leben an diesen orientiert, wird besser seine Bestimmung erfüllen als der, welcher unmittelbar das Absolute will. Wohl lässt sich darüber streiten, ob eine gegebene nationale Persönlichkeit als Verkörperung eines Menschheitsideals gelten darf — von vielen Vielverehrten gilt dies im Letzten nicht; bei manchen kommt Idealisierung in Betracht. Aber ersprießlicher entschieden als Entnationalisierung des Nationalen ist, für pädagogische Zwecke, die Nationalisierung des Fremden, wie solche von Franzosen und Engländern so gern betrieben wird. Das wirklich Fremde kann die Jugend nicht fördern. Man führt hier gern das Übernationale großer Geister an, und das oft nur recht lockere Band, welches diese mit Volksgenossen und Vaterland verknüpft hat: diese Erwägung entspringt einer falschen Fragestellung, denn Ausnahmemenschen kommen nicht, insofern sie verschieden von der Norm sind, als Beispiel für diese in Betracht, sondern sofern sie ein mit ihr Gemeinsames zu gesteigertem Ausdruck bringen. So wäre es höchst unglücklich, wenn jeder Deutsche sein Leben an demjenigen Goethes orientieren wollte, weil dessen Stil jenseits der äußersten Möglichkeiten der meisten liegt und diese daher nur verführen könnte, während das Maximum allgemein deutscher Geistesart, die Goethe verkörpert, jedem ein Ideal sein kann. Nur das Normale an den Großen ist im nationalen Sinne produktiv. Wie sollte es unter solchen Umständen ein Fehler sein, das Vaterland vor anderen zu bevorzugen?

Es kommt ja nicht darauf an, die Kulturwerte in ihrer letzten Abgeklärtheit der Jugend vor Augen zu führen, in welcher Form sie kaum mehr begriffen werden, auch nicht darauf, dass die vorgewiesene Verkörperung im absoluten Sinn die höchste sei: ausschließlich darauf kommt es an, das Ideale in solcher Verkörperung vorzustellen, dass es dem Einzelnen als erfüllbare Aufgabe erscheint, und die in diesem Sinn zweckmäßigste Inkarnation wird immer und überall die nationale sein. Brauche ich jetzt noch besonders anzuführen, inwiefern aus dem Gemeinplatz, dass es mehr sei, ein höherer Mensch als ein guter Preuße oder Bayer zu sein, überhaupt keine praktischen Konsequenzen zu ziehen sind? — Es ist nun einmal Tatsache, dass der geborene Preuße oder Bayer im Rahmen seiner Volksart sicherer und leichter zum höheren Menschen heranwachsen wird, als wenn er wurzellos gen Himmel strebt oder fremden Göttern opfert. Jedem Volk wie jedem Einzelnen sind durch seine Anlagen und Erbschaften Grenzen gesetzt, aus welchen er schlechterdings nicht hinaus kann. Der Rationalist hat gut behaupten: die Natur soll eben überwunden werden, der Menschengeist muss der biologischen Gebundenheit entwachsen und an einen Punkt gelangen, wo er, im Gegensatz zu seiner ganzen Vergangenheit, ausschließlich Ideen, geistigen Gesetzen und Zielen nachstrebt: in diesem Postulat tritt sowohl ein philosophisch-methodischer Irrtum als Mangel an Blick für die Wirklichkeit zutage. Ein Ideal, dessen Korrelations­verhältnis zur Wirklichkeit zerrissen ward, entbehrt nicht allein des Grundes, sondern direkt des Sinns. Nicht als absolute Geister, andern als bestimmtgeartete Individuen können wir überhaupt den idealen Forderungen Rechnung tragen. Welcher Sachverhalt sich praktisch nur zu deutlich darin erweist, dass jeder Versuch des Menschen, aus dem Rahmen seiner konkreten Kulturmöglichkeiten herauszutreten, ihn kulturell herabdrückt, anstatt seine Kultur zu steigern. Mit seinen empirischen Grenzen gibt er zugleich seine Ausdrucksmöglichkeiten fürs Ideale preis. Der Kosmopolit ist — falls seine ursprüngliche Naturanlage keine so weite war, dass ihn jeder nationale Rahmen beengen muss — allezeit weniger als der typische Vertreter seines Stammes. Leben ist eben nur innerhalb von Grenzen möglich; wo diese fehlen, kann nichts Gestalt gewinnen. Deshalb ist es viel wichtiger, auf Charakter als auf Vorurteilslosigkeit hinzuarbeiten. Vorurteilsfrei wird man die Masse niemals machen, es kommt darauf an, dass sie möglichst günstige Vorurteile habe. Andererseits stellt sich Vorurteilsfreiheit bei denen von selber ein, bei welchen sie produktiv werden kann, so dass erfahrungsgemäß keine Gefahr besteht, durch nationalgesinnte, d. h. theoretisch nicht vorurteilsfreie Erziehung der Allgemeinheit die Sonderfälle, d. h. die wenigen, bei welchen eine übernationale Gesinnung wünschenswert scheint, am Entstehen und am Heranreifen zu hindern. Der Erzieher hat ein gegebenes Material zur größtmöglichen Vollendung zu bringen. Da dieses Material ein spezifisches ist, so wird es nur einer spezifischen Vollendung fähig sein; sucht er anderes oder mehr aus ihm zu machen, als was seine Natur gestattet, so verdirbt er es in den meisten Fällen ganz. — Nein, um die Frage nochmals kurz zu präzisieren: nicht darauf kommt es an, zu entscheiden, ob den Völkern, Rassen und Nationen absoluter Wert zukommt oder nicht, sondern darauf, der Verwirklichung absoluter Ideale den günstigsten Boden zu bereiten, was nur durch Steigerung im Sinne der Natur geschehen kann, d. h. durch national gesinnte Erziehung.

Hieran anschließend dürfte eine kurze Betrachtung darüber nicht überflüssig sein, woher es kommt, dass gerade in Deutschland der abstrakte Idealismus heimisch ist, während der Idealismus aller anderen Kulturvölker der Gegenwart und auch der Vergangenheit ein ganz konkretes Gepräge trägt und trug. Es liegt an der Vieldeutigkeit der deutschen Naturanlage im Gegensatz zu derjenigen anderer Volkstypen. In jedem Engländer präexistiert sozusagen ein spezifisches Nationalideal (d. h. die Idee der lebendigen Form, welche die Grundtendenzen der gegebenen Natur zur höchsten Vollendung bringen kann), das sich als solches überall gleichbleibt. So erscheinen hier auch die allgemeinsten Ideale konkretisiert, und kein Idealismus versteigt sich (es sei denn in Worten) bis zu lebensferner Abstraktion. Des Deutschen weitere, farbigere, einigermaßen chaotische, schwer zu umgrenzende Naturanlage bringt es mit sich, dass es für ihn eine bestimmte, spezifische, für jeden gültige Seinsform nicht oder noch nicht gibt. Daher kann sein Nationalideal nur ein konstruiertes sein, und Konstruktionen sind immer abstrakt. Hieraus erklärt sich nun mancherlei: erstens, dass die typische Form des deutschen Idealismus von jeher ein absoluter Idealismus gewesen ist, denn die Abstraktion findet erst am Absoluten ihre Grenze. Zweitens, dass es für ihn zunächst im selben Sinne notwendig sein dürfte, absolute Ideale zu bekennen, wie für Engländer und Franzosen, sich an spezifisch nationale zu halten, denn wo absolute Ideale ihm fehlen, dort läuft er Gefahr, aller Idealität überhaupt verlustig zu gehen. Endlich erklärt es sich aus der unbestimmten Naturanlage des Deutschen, die ihn der abstrakten Ideale als Direktiven bedürftig macht, weshalb es dem Deutschen nicht im gleichen Maße wie dem Engländer frommt, Nationalist zu sein: das Nationale als solches kann ihm kein Ideal bedeuten, weil seine ursprüngliche Idealität das Konkrete verneint oder sprengt. Was also Idealismus sein soll, wird tatsächlich keiner sein. Was Theorie a priori deduzieren kann, bestätigt Erfahrung nur zu sehr: während der Engländer auf die Idee des Britentums stolz ist und beim empirisch Zufälligen kaum verweilt, klebt der Alldeutsche gerade am Empirischen, am Beschränkenden, am kleinlich Eigentümlichen, eben weil er kein spezifisches Volksideal besitzt und daher innerlich vor der Alternative: absolutes Ideal — Tatbestandskultus steht. Nun lässt sich dieser Sachverhalt so deuten, dass die Deutung auf eine Apotheose des Deutschen hinausläuft: er sei eben von Natur jener höchste Mensch, dessen empirische Grenzen mit den absoluten zusammenfallen, dessen Volksideal mit dem höchsten Menschheitsideal identisch ist; allein ich fürchte, solche Deutung schlösse ein Missverständnis ein. Kein Zweifel: der spezifisch deutsche Idealismus hat, wo er von einem großen Geist bekannt wurde, zu Schöpfungen geführt, welchen kein Volk Ähnliches zur Seite zu stellen hat. Aber nicht minder gewiss ist ein anderes: dass dieser Idealismus überhaupt nur beim großen Geiste produktiv wird. Beim Durchschnittsmenschen ruft er lediglich das hervor, was der Ausländer am Deutschen mit Recht als öde Ideologie, Kulturmangel und Formlosigkeit tadelt. Bei diesem kann er nur ein imaginäres, kein wirkliches Lebenszentrum sein. Somit ist das, was den Rationalisten als unbedingter Vorzug des Deutschen gilt, seine abstrakt-ideale Gesinnung, in Wahrheit der Ausdruck eines Gebrechens: dass dem Deutschen ein spezifisches Volksideal noch fehlt. Es fehlt ihm das Prinzip, das sein ganzes Wesen schöpferisch beseelen könnte, der ideale und doch konkrete Mittelpunkt, der dem Deutschen, und nur ihm, die letzte Vollendung gäbe. Und dieser Mittelpunkt muss geschaffen, muss heranerzogen werden. Des Deutschen Naturanlage, so weit sie auch sei, ist nicht unendlich, sie ist bloß noch unbestimmt; sonst ist sie sicher ebenso konkret und eigenartig, wie die nur irgendeines Volks. Deshalb gibt es ohne Zweifel eine Form, die dem deutschen Geist gemäßer wäre als das nationalistische Ideal. In der Entdeckung, in der Schöpfung dieser Form sehe ich die idealste und wichtigste Aufgabe der deutschen Volkserziehung, denn erst nachdem jene gefunden ist, wird der ganze Reichtum der deutschen Anlage produktiv werden. Ja mehr noch: erst dann werden die Ansätze hochgesinnter Erzieher, der Jugend den Sinn für absolute Werte zu eröffnen, ganz fruchtbar werden. Internationalismus als Volksgesinnung ist ein Unding. Juden frommt sie insofern, als deren einzig starke völkische Sonderart, dank dem Parasitentum, zu dem das Schicksal sie gebildet, die Negation der übrigen Volksgrenzen verlangt. Aber in ihrer Mehrzahl sind die Deutschen doch nicht Juden. In ihrer Mehrzahl sind sie erst recht nicht übernational, sie sind einfach unternational. Noch heute sind sie, trotz Bismarck, keine eigentliche Nation. Zu einer solchen aber müssen sie werden, falls sie als Volk, nicht bloß als Einzelne, etwas bedeuten wollen1.

1 Über das Übernationale im Gegensatz zum Unternationalen habe ich mich ausführlich in der Einleitung zu Politik, Wirtschaft, Weisheit ausgesprochen, ebendort meine persönliche Stellung präzisiert.
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Idealismus und nationale Erziehung
© 1998- Schule des Rades
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