Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Germanische und romanische Kultur

Kulturtradition

Zunächst dürften einige historische Bemerkungen am Platze sein. Vielfach herrscht, zumal unter Romanen, die Meinung, die romanische Kultur sei die unmittelbare Fortsetzung und Verlängerung der lateinischen. Dies ist nur in bedingtem Verstande richtig. Ohne Zweifel ist das alte, von den Römern her sich fortvererbende Kulturblut, wie wenig es der Menge nach in Betracht kommen mag, das Ferment gewesen, dank welchem aus den Barbarenstämmen Italiens, Frankreichs und Spaniens so viel schneller Kulturvölker erwachsen sind, als aus den Eingeborenen des germanischen Europa: auf die Dauer erweist sich nämlich das höhergezüchtete Blut bei Kreuzungen zumeist als das stärkere, so dass das Edlere, nach noch so langwierigem Kulturrückschlag, zuletzt doch das Geringere sich unterwirft. Zweifellos hat in jenen Regionen auch der geistige Zusammenhang mit dem Altertum nie vollständig aufgehört, die Tradition ist wohl keinen Augenblick ganz unterbrochen gewesen. Dennoch scheitert der Versuch, die romanische Kultur als Teil oder gleichgeartete Erbin der lateinischen zu begreifen: sie ist ein selbständiges Gebilde, von der lateinischen spezifisch unterschieden, kaum weniger selbständig, als die germanische es geworden ist. Sie entstand durch Vereinigung, Vermählung, Verschmelzung der vielfältigsten Keime und Anlagen, in Gallien vorzüglich römisch-keltisch-germanischer, in Spanien römisch-gothisch-iberischer, auf der apenninischen Halbinsel italisch-germanischer Herkunft, die zuletzt durch Vererbung in einer bestimmten, freilich wesentlich vom lateinischen Bluteinschlage vorgezeichneten Richtung fixiert worden sind; doch gewann sie überaus langsam ihre heutige typische Gestalt, nicht ohne Umwege und langandauernde Aufenthalte.

Die romanische Kultur ist, prinzipiell gesprochen, ein ebenso junges Gebilde wie die der germanischen Völker, wenn sie auch um etliche Jahrhunderte älter sein mag. In Italien begann sie erst mit der Renaissance, denn die Klassiker, die vorher gelebt haben, so vor allem der gewaltige Dante, sind nicht Romanen, sondern deren Vorfahren gewesen, der höchste Ausdruck einer Zeit, wo es noch keine Romanen gab. In Dante treten uns die Elemente eines Römers, eines Gotenherzogs und eines großen italienischen Papstes entgegen, und diese erscheinen nicht verschmolzen zu einer neuen typischen Form, sondern zu einer individuellen Persönlichkeit unvergleichlicher und einziger Art, deren italienischer Gesamteindruck mehr daher rührt, dass das spätere Italien Dante als Vorbild vergöttert hat und dementsprechend von ihm beeinflusst worden ist, als dass Dante seinen späteren Landsleuten geglichen hätte. Und was Frankreich betrifft, so war noch im ausgehenden Mittelalter der Unterschied zwischen den gebildeten Schichten der Zonen, die heute einerseits von Deutschen, andererseits von Franzosen bewohnt werden, überraschend verschwimmend und gering. Die französischen primitiven Maler hätten, cum grano salis gesprochen, Kölner sein können, Burgund, nachmals ein Hauptherd romanischer Kultur, ist sehr spät erst französisch geworden, und was gar den Norden betrifft, aus dem so mancher erlauchte Geist gestammt hat, so sorgten schon politische Verhältnisse — zumal Englands langwierige Herrschaft — dafür, dass das Lateinertum nicht zum dominierenden Zuge wurde. Auch in Frankreich ist der lateinische Charakter, seiner Kultur erst in verhältnismäßig moderner Zeit zum unzweideutigen Ausdruck und zur Vorherrschaft gelangt. Wie sehr unterscheidet sich z. B. die altfranzösische Literatur von der modernen! Die Sprache der Dichter der Plejade, ja noch diejenige Montaignes erscheint ihrem Grundcharakter nach — wenn man vom Äußeren absieht und sich in ihren Geist versenkt — dem Deutschen Goethescher Zeit verwandter als dem Französischen Flauberts oder Maupassants.

Es ist kaum eine Übertreibung zu behaupten, dass die Hälfte dessen, was zum Grundcharakter des Romanischen gehört, im 16. Jahrhundert (als ganzen betrachtet) noch fehlte, wie ausgeprägt es in einzelnen Individuen immer sein mochte; ja die Auffassung hat viel für sich, dass die französische Kultur dem lateinischen Typus eher zustrebt, als dass sie von diesem ausgegangen wäre. Die Seele ihrer Klassiker war keltisch, nicht römisch, wie immer sie sich ausdrücken mochte, die Komödie Molières hat mit der antiken fast nichts gemein. Die fortschreitende Latinisierung des französischen Geistes erklärt sich vielleicht aus folgender Überlegung: jedes menschliche Entwicklungsstadium wird zur Zeit von der Anlage beherrscht, die am Leichtesten Ausdruck gewinnt; beim Jüngling überwiegt die künstlerische Seite, beim Vierziger das Macht- und Herrschaftsbedürfnis. Im gleichen Sinne konnte das lateinische Erbe beim Franzosen erst dann zur Grundkraft heranreifen, als ein Grad der Differenziertheit erreicht war, der demjenigen des späten Römers entsprach; solange dies nicht der Fall war, dominierten gallisch-fränkische Züge. Es ist fast unmöglich zu bestimmen, seit wann Frankreichs Kultur sich mit Grund als im heutigen Sinn romanisch bezeichnen darf. Deswegen lohnt es sich nicht, auf die Ursprünge viel Gewicht zu legen. Halten wir uns bei unserer Betrachtung streng an den aktuellen Ausdruck, an das, was heute typisch ist, gleichviel was es einstmals bedeutet haben mag; suchen wir festzustellen, was heute das Romanische im Verhältnis zum Germanischen auszeichnet.

Die Gewinnung eines klaren Bildes wird dadurch nicht wenig erschwert, dass die romanische Kultur einerseits die ältere Schwester der germanischen ist, entwickelter, reifer erscheint als diese und zum Teil das zur Vollendung gebracht hat, was bei uns erst im Werden begriffen ist. Die französische Sprache ist nicht bloß anders als die deutsche, sie ist ausgebildeter, bezeichnet im Sinn der begrifflichen Präzision, auf welche hin alle europäischen Kultursprachen sich entwickeln, das vollkommenere, leistungsfähigere Instrument. Und im gleichen Verstande erscheint die romanische Kultur weniger anders, als reifer überall, wo die objektive Fortsetzung der klassischen Kulturtradition in Frage steht. Nichts z. B. ist dem Geist nach weniger romanisch als die griechische Kunst, und doch darf sich die romanische dem Ausdruck nach eher mit ihr vergleichen, als die deutsche in ihrer Gesamtheit, weil jene dem Ausmaß ihrer Möglichkeiten nach die formale Meisterschaft bereits erreicht hat, um derentwillen allein schon Hellas ein ewiges Vorbild bleibt. Denn es ist in erster Linie nicht richtig, sondern falsch, in den formalen Vorzügen der Romanen Oberflächlichkeit zu sehen: sie sind ein Beweis höherer Kultur. Auch die deutsche Sprache und die deutsche Kunst geht den Weg der Verfeinerung, den die französische bereits durchmessen hat, und es wäre Verrat am Geiste, zu behaupten, dass dieser Weg an und für sich Entartung bedeute. Wenn der deutsche Philosoph im Allgemeinen dunkel schreibt, und der französische klar, so beweist dies zunächst das Eine, dass das französische Gehirn differenzierter ist als das deutsche; auch der Deutsche wird einmal dahin gelangen, vollendet klar zu sein, und erst dann wird er seinen Zenith erstiegen haben. Es wäre doch höchst betrübend, wenn ihm allein nie gelingen sollte, was doch jedes reife Kulturvolk auf seine Weise erreicht hat, um so mehr als eine rein germanische Nation, die britische, schon heute dahin gelangt ist. Der englische Geist, als Ganzes vor nicht gar langer Zeit noch schwerfällig und unbeholfen genug, darf jetzt als Muster der Abgeklärtheit hingestellt werden, und was gar das englische Leben betrifft, so stellt es einen so vollendeten Ausdruck möglichen Lebensstils dar, dass ein weiterer Fortschritt angesichts der immerhin beschränkten Rassenveranlagung kaum wahrscheinlich und denkbar erscheint. Nein, darüber kann kein Zweifel bestehen: die romanische Kultur ist einerseits die ältere, reifere Schwester der germanischen, und insofern vorbildlich für sie; wo von spezifischen Differenzen gehandelt werden soll, muss das von vornherein ausgeschaltet werden, was ein höheres Stadium bedeutet. — Aber andererseits sind beide Schwestern als Individuen doch so grundverschieden, dass sie sich kaum überhaupt verständigen können. Jede von ihnen verwirklicht Möglichkeiten, oder kann solche verwirklichen, wie sie für die andere nicht vorhanden sind.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Germanische und romanische Kultur
© 1998- Schule des Rades
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