Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit

Psychologischer Moment

Ihnen allen wird es wohl, mehr oder weniger deutlich, bewusst sein, dass das ungeheure Interesse, welches neuerdings bei uns im Westen für die Kulturerscheinungen des Ostens zutage tritt, etwas anderes bedeutet, als eine bloße Verbreiterung jenes Interesses am Fremdartigen, das uns beweglichen Okzidentalen von jeher eigentümlich gewesen ist. Mit diesem haben Sie niemals sympathisiert. Mit Recht haben Sie immer gemeint, dass das Interesse nicht allein des Globetrotters, sondern auch des wissenschaftlichen Forschers letztlich auf Neugier beruht, und in solcher einen Vorzug, ja nur ein Berechtigtes anzuerkennen, dazu wollen Sie sich nicht leicht verstehen. Rein sachliches Interesse, so hoch es über persönlichem stehe, ist doch noch kein wesentliches Interesse; wesentlich ist immer nur das, welches das Wesen, das innerste Selbst, das überpersönliche Subjekt zum unmittelbaren Hintergrund hat. Und wer nur Wesentliches gelten lässt, wer überall vom Wesen her urteilt, wie der Orient dies immer getan hat, den muss aller Sinn für die Erscheinung als solche allerdings als ein Zeichen der Unwesenhaftigkeit anmuten. Bei dem Interesse nun, das neuerdings im Westen für den Osten erwacht ist, und das, wenn zunächst auch nur von wenigen innerlichst empfunden, doch schon demjenigen der Mehrzahl seine eigentümliche Färbung verleiht, haben Sie das instinktive Gefühl, dass es sich um Wesenhaftes handelt. So fühlen Sie sich — wohl zum erstenmal, seit Sie uns kennen — getrieben, uns entgegenzukommen. Ihr Instinkt ist richtig. Die Männer, die sich heute am Brennendsten für den Osten interessieren, sind von allen die, welche am Wenigsten mit Neubegier behaftet sind; sie gehören einem Typus an, der noch vor wenigen Jahrzehnten nicht im Traum daran gedacht hätte, über die Grenzen des westlichen Kulturkreises hinauszublicken. Es sind die Männer, die gleich allen Wesenhaften, Ernsthaften, Tiefen ausschließlich mit sich selbst (im metaphysischen Sinn) beschäftigt sind. Wie kommt es, dass diese jetzt nach außen blicken — etwas, was Ihre Weisen doch nie getan haben? Wie kann es sein, dass sie um ihrer selbst willen — denn so ist es doch wohl — eine fremde Kulturerscheinung studieren? Das ist es, was Ihnen rätselhaft bleibt, so wenig Sie am Tatbestande zweifeln können. Ich will versuchen, diese Ihre stumme Frage, so gut ich’s vermag, zu beantworten.

Gewiss: das, worauf es ankommt, kann keinerlei Außenwelt einem geben. Die ganze reiche Natur liegt ausgebreitet vor uns, und wir schauen sie nicht; das gewaltigste Geschehnis bricht über uns herein, und es verwandelt uns nicht; die größten Männer treten uns in den Weg, und wir erkennen sie nicht; die tiefsten Gedanken vernehmen wir, und wir verstehen sie nicht. Verständnis kann nimmer von außen kommen. Deswegen hatte Ihr großer Weiser Konfuzius es sich zum Grundsatz gemacht, seinen Ausspruch nicht zu wiederholen, wenn er auf eine Seite eines Verhältnisses hingewiesen hatte und sein Zuhörer die übrigen drei nicht von selbst entdeckte; er meinte, wo das Verständnis nicht entgegenkommt, dort sei überhaupt nicht darauf zu rechnen. Das Äußere bedeutet immer nur so viel, als der innere Mensch daraus zu machen weiß — was aber dieser daraus machen kann, hängt von seiner Bewusstseinslage ab, die einer unmittelbaren Beeinflussung von außen her nicht zugänglich ist. So haben sogar Buddha und Christus, deren Botschaft doch die ganze Menschheit betraf, die Einfältigen nicht minder als die Weisen, so wie sie’s meinten, nur auf ganz wenige Auserwählte gewirkt, nämlich auf die, deren Inneres die äußere Erfahrung antizipiert hatte. Den Übrigen blieben sie Exponenten dunkler Ahnungen, wie andere Götter auch; der Masse hat der neue Glaube genau nur insoweit zum Fortschreiten verholfen, als er eine Verbesserung der Lebensführung nach sich zog, die dann ihrerseits dem spontanen Wachstum der Seele zugute kam. Jeder ist, wie er sich auch stelle, auf sein eigenes Denken, sein eigenes Erfahren, sein eigenes Streben und Vollbringen im Letzten angewiesen.

Doch nun bitte ich Sie, die Kehrseite des gleichen Zusammenhangs ins Auge zu fassen. Es sei, dass einer zu einer Zeit, da eine Erkenntnis (philosophischer, religiöser oder ethischer Natur) in ihm aufzudämmern beginnt, einer Persönlichkeit oder einer Geistesgestalt begegnet, welche die gleiche Erkenntnis klar und vollendet zur Darstellung bringt — was dann? In diesem Falle wird die äußere Begebenheit von außerordentlicher Bedeutung sein; sie kann die innere Entwickelung auf kaum glaubliche Weise beschleunigen; sie kann dort zur Selbstverwirklichung führen, wo solche sonst überhaupt nicht zu gewärtigen war. Da nämlich unsere psychischen Organe ursprünglich nach auswärts gerichtet sind, so wird uns an uns selbst immer nur das Fertige deutlich bewusst — der Gedanke, der seinen Ausdruck gefunden, der Entschluss, der schon zur Tat geführt, die Wandlung, die bereits vollzogen ist; was, erst im Werden, unsere Entwicklung von innen her bestimmt, davon wissen wir nicht, das können wir nicht zum Motiv bewussten Strebens machen. Aber da wir unsere Zukunft doch schon leben, obschon sie noch nicht in die Erscheinung getreten ist, obschon sie noch kaum ihren Schatten auf das Bewusstsein vorausgeworfen haben mag, so erkennen wir uns sofort in dem Anderen wieder, der unser Streben vor uns verwirklicht hat. So gelangen wir oft, dank äußerer Anschauung, mit einem plötzlichen Ruck zu eben dem Ziel, dem sonst nur langwierige, gradweis verlaufende Entwicklung uns zugeführt hätte. In diesem Sinne haben sich die Auserwählten zu Christi und Buddhas Zeiten in diesen wieder- oder genauer vorauserkannt, in gleichem Sinne hat jeder von uns es erfahren, wie eine längstbekannte, bisher aber kaum gewürdigte Gedankenreihe mit einem Mal grundlegende Bedeutung gewann: es war jedesmal genau in dem Augenblick, da wir im Verlauf natürlichen Wachstums den Punkt erreicht hatten, wo wir den Gedanken ganz fassen konnten. Empirisch betrachtet, hängt sonach der lebendige Wert einer äußeren Begebenheit ganz von dem psychologischen Momente ab, in dem sie uns betraf. — Meine Herren, einem solchen psychologischen Momente ist es zu verdanken, dass die östliche Kultur — an sich vom Standpunkt des Westens ein rein Äußeres, das ihn nicht das Mindeste angeht — mit einem Male gerade für die Tiefen, die Ernst- und Wesenhaften unter uns eine schwer zu überschätzende Bedeutung gewonnen hat.

Um Ihnen den Tatbestand, um den es sich hier handelt, ganz deutlich zu machen, müsste ich Ihnen in einer kurzen Stunde die Gesamtgeschichte der okzidentalischen Geistesentwicklung auseinandersetzen, was offenbar unmöglich ist. So werde ich mich auf eine einzige Seite des Problems beschränken. Gelingt es mir, diese wirklich stark zu beleuchten, so wird einiges Licht auch auf die übrigen hinüberstrahlen, so dass Sie nachher vielleicht von selbst auf manches von dem kommen werden, was ich heute Ihnen mitzuteilen unterlassen muss.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit
© 1998- Schule des Rades
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