Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Zur Einführung

Lebenskunst

Das Menschenleben, von der Geburtsstunde bis zum Tod, und im Fall der geistig Schaffenden über diesen hinaus, gleicht einer Tondichtung. Neue Melodien, neue Themen klingen einfallartig in gemessenen Abständen an, ein Tempo folgt unvoraussehbar auf das andere; und doch stellt das Ganze eine unverkennbare zeitliche Einheit dar. Die Grundtonart gibt aller möglichen Transponierung einen einigen ideellen Ursprungsort, der Grundmotive sind wenige, deren Zusammenhang, Abwandlung und Folge gehorcht einem Bildungsgesetz. Und war dieses machtvoll genug gegenüber dem Stoff, so kann die Schöpfung als vollendet gelten. Im Leben gelingt solch vollendete Schöpfung beinahe nie, weil es hierzu des seltensten Könnens bedarf: supremer Lebenskunst. Hier drängt sich der Stoff dem Gestalter wider sein Wählen auf; hier wird das innere Gesetz auf Schritt und Tritt vom Walten äußerer, oft machtvollerer durchkreuzt. Leichter gelingt sie erfinderischer Phantasie. Bloß in der Vorstellung lebendige Charaktere haben den Vorzug, dass ihr Schöpfer ihrem innerlichen Schicksal unwillkürlich auch äußerliche Vormachtstellung zuerkennt — weshalb Gestalten der Dichtung, gegenüber denen der Geschichte, meist wahrscheinlicher wirken. Trüge einer nun die Meisten von Künstlerart und -blick, ob sie mit ihrem verflossenen Lebenslauf zufrieden wären, so bekennten sie sicher: nicht ungern erfänden sie manches um an ihm. Manches hätte etwas anders kommen müssen, damit die Erscheinung des Geschehens Sinn unverzerrt offenbarte; manche Motive wären unausgearbeitet geblieben, bei anderen wieder hätten ärgerliche Zufälle die Ausdrucksmöglichkeit äußerlich behindert; auch die Tempi stimmten in ihrer Folge nicht allemal. Auf dass die grundsätzlich vorhandene symphonische Einheit rein zu Tage träte, täte eine Umarbeitung der Vergangenheit not.

Diese übersteigt im Fall der meisten Leben, darf die Exaktheit nicht beeinträchtigt werden, die stärkste Dichterkraft. Doch gibt das Werk hie und da die Möglichkeit dazu zur Hand. Nicht von der Summe der größeren Schöpfungen gilt dies zwar, als welche meist ein zu selbständiges Eigenleben in sich tragen, sondern von den kleinen, dies aber desto mehr, je besondereren Lebensansprüchen sie ihre Entstehung danken. Solche Gelegenheitsschöpfungen, ein Einzelmotiv behandelnd, das doch im Zusammenhang mit dem Grundmotiv des ganzen Schaffens steht, sind wie vorweggenommene Satzskizzen einer großzügigen Komposition. Deshalb kann es gelingen, sie dergestalt zusammenzufassen, dass ein sonst unsichtbar gebliebenes Ganzes durch sie in die Welt der Erscheinung tritt, und das Einzelne einen über seine Sonderheit hinausgehenden Sinn erhält. Aber freilich bedarf es hierzu, gemäß dem oben Gesagten, einiger Umformungen und Verschiebungen. — So hat die Zusammenstellung der folgenden Reden und Aufsätze aus verschiedener Zeit keine mechanische Arbeit für mich bedeutet: indem ich ihr oblag, ward mir der innere Zusammenhang meines Geisteslebens deutlicher als zuvor. Und es hat mir Freude bereitet, zu erfahren, dass ein klein wenig Architektensinn genügt, um zu erweisen, dass die selbständig bearbeiteten Bausteine von jeher zu diesem und keinem anderen Bau vorherbestimmt waren. Einem Bau, der zwar klaffende Lücken aufweist — wie sollte er nicht? —, aber trotzdem seine besondere, eigene Seele hat.

Friedrichsruh, im Februar 1920 Hermann Keyserling
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
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