Schule des Rades
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst
Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit
Altindien und Altchina
Altindien und Altchina sind uns Westländern so außer ordentlich interessant, weil wir dort — auf ganz anderen Wegen freilich, als wir sie zu wandeln gewohnt sind — eben das erreicht und verwirklicht finden, wonach wir noch suchen und streben. An der indischen Kultur haben wir ein Beispiel der vollendeten Selbstverwirklichung in der Sphäre des Psychischen, die das höchste Ideal von Philosophie und Religion bezeichnet; an der chinesischen ein Beispiel der vollendeten Selbstausprägung im konkreten Leben, die das erhabenste Ziel des sozialen Fortschreitens bedeutet. — Was das für uns bedeutet, dürfte Ihnen nach dem bisher Gesagten nicht zweifelhaft sein; ich brauche mich nicht zu wiederholen. Uns ist das Glück zuteil geworden, im richtigen Augenblick das vollendet dargestellt zu sehen, was in uns selbst halb bewusst nach Vollendung strebt, so dass wir nunmehr durch zielbewusstes Wollen dem Naturprozess zu Hilfe kommen können, was dessen Ablauf außerordentlich beschleunigen wird. Die Bedeutung nun, welche unsere neue Stellung zum Osten für diesen selbst besitzt, ist schwerlich geringer zu veranschlagen. Der Idealzustand, dem unsere Bewunderung gilt, gehört einer leider schon ferneren Vergangenheit an; es scheint ausgeschlossen, dass er in seiner ursprünglichen Gestalt je wiederkehren könnte. Viele unter Ihnen wähnen daraufhin, die Welt habe den Idealen von einst für immer den Rücken gekehrt.
Sie gewahren, wie die westliche Zivilisation, dem östlichen Geiste innerlich fremd, in vielen Hinsichten verdächtig, doch den Erdkreis erobert, wie es selbst den Konservativsten auf die Dauer unmöglich wird, sich gegen sie abzuschließen; und die Radikalen unter Ihnen ziehen daraus den Schluss, dass die Ideale von einst widerlegt sind, dass der Orient sich von Grund aus verwandeln muss, wenn er weiterbestehen will. Aber wie nun, wenn der Westen, dessen der östlichen antipodisch entgegengesetzte Zivilisation die Welt erobert, in Ihrer großen Zeit sein eigenes Ideal verwirklicht erkennt? Dann kann er Ihnen innerlich nicht so fremd sein. Dann müssen Osten und Westen doch aus gemeinsamer Wurzel sprießen, zu gemeinsamen Idealen sich bekennen. Dann haben die Traditionalisten unter Ihnen keinen Grund, sich dem Einfluss der modernen Welt aus Prinzip entgegenzustemmen, noch die Fortschrittlichen, das Alte grundsätzlich zu verleugnen. Ja dann muss es einmal dahin kommen, dass Ost und West, anstatt einander entgegen, wie bisher, Seite an Seite stehen werden, Hand in Hand der Zukunft entgegenschreitend. Meine Herren, das ist keine Utopie. Schon haben wir den Punkt erreicht, wo das Verschiedensein das Verständnis nicht mehr hemmt. Schon wissen wir, dass wir auf noch so verschiedenen Wegen doch einem gleichen idealen Ziele zustreben. Schon sind Orientale und Okzidentale in der Lage, ineinander den Menschen zu würdigen, und dies ohne Sentimentalität. Hiermit aber tritt — ich deutete es Ihnen bereits an — eine weitere Möglichkeit der Verwirklichung nahe, eine Möglichkeit, die es noch niemals gab. Wir haben erkannt, dass die noch so verschiedenen Kulturgestaltungen doch einen gleichen letzten Sinn haben. Ziehen wir Europa, Indien und China auf einmal in Betracht, so hätten wir, mathematisch gesprochen, drei Koordinaten, die auf den gleichen Mittelpunkt bezogen sind. Diesen Mittelpunkt als solchen zu bestimmen, ist fortan keine unlösbare Aufgabe mehr. Bisher besaß jedes einzelne Volk seine eigene äußerste Wahrheit, sein eigenes höchstes Ideal, jeder Ausdruck vom anderen verschieden, und es wollte und konnte nicht gelingen, vom einen zum anderen zu gelangen, den Sinn der Gestaltung zu erfassen, sich wirklich gegenseitig zu verstehen. Jetzt können wir hinter den Ausdruck blicken, erkennen, was er innerlichst bedeutet. Und erweist es sich hierbei, wie es sich in der Tat erweist, dass der Mannigfaltigkeit eine Einheit zugrunde liegt — dann sind wir in der glücklichen Lage, jeder Erscheinung ganz gerecht zu werden, im Erreichen das Bestreben zu würdigen und diesem, wo es irregeht, vom Zentrum her den Weg zum Ziel zu weisen.