Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Das Schicksalsproblem

Notwendigkeit

Es besteht augenscheinlich ein notwendiger Zusammenhang zwischen dem Menschen und den Begebenheiten seines Lebens, ein Zusammenhang des Innerlichen mit dem Äußerlichen. Sehen wir vom allgemeinen Charakter und Rahmen seiner Existenz und gewissen außerordentlichen, übrigens nur selten eintretenden Ereignissen ab, so trägt sehr weniges von dem, was dem Menschen begegnet, den Charakter des reinen Zufalls: das Meiste auch dessen, was von außen über ihn hereinbricht, scheint er vielmehr selbst berufen zu haben, so sehr stimmt es zu ihm. Das Glück erweist sich häufiger als Fähigkeit, denn als grundloses Göttergeschenk, das Missgeschick selten als unverschuldet. Die Menschen erreichen im Allgemeinen das, wozu sie berufen sind, und scheitert ihr Lebensschiff, so lag die Klippe gewöhnlich in ihnen selbst. Dieser Zusammenhang des Inneren mit dem Äußeren liegt so deutlich vor Augen, dass es begreiflich genug erscheint, wenn die Menschen von jeher geneigt waren, in allem Schicksal eine Absicht zu erkennen; so wenig es im Übrigen glücken mochte, diese Absicht festzustellen.

Dass nun Mensch und äußere Umstände nachträglich so intim verwachsen erscheinen, dass sie ohne einander kaum zu denken sind, ist freilich kein Wunder: jeder Mensch ist, wie er ist, nur unter den zeitlichen und sonstigen Umständen, in welchen er wirklich gelebt hat, überhaupt möglich und denkbar. Unter anderen Bedingungen, als sie tatsächlich vorlagen, hätte ein Bismarck nicht allein das nicht erreicht, was er erreicht hat: er wäre seinem inneren Wesen nach der Gleiche nicht geworden und gewesen. Der innere Mensch erwächst in Wechselbeziehung zu seinem Schicksal, so wie sich jeder Organismus korrelativ zu seiner Umwelt entwickelt. Wenn Leiden den Menschen vertieft, wenn äußere Erhöhung das Selbstbewusstsein umformt, so dass aus mehr denn einem schüchternen Prälaten ein gewaltiger Papst geworden ist, so spricht sich hierin nur jenes für alles Lebendige wesentliche Verhältnis aus, dass Lebewesen und Milieu eine unteilbare biologische Einheit bilden. Alles, was dem Menschen widerfährt, tritt als Baustein in sein Inneres ein, und wer den vollendeten Bau betrachtet, wird jedesmal feststellen, dass dieser, so wie er ist, aus anderem Material nicht hätte errichtet werden können. Aber der Bau liegt schon im Plane vorgebildet, dies ist das Merkwürdige, das Rätselhafte; es gibt eine Norm, die bestimmte Zufälle mit Notwendigkeit in den Umkreis eines bestimmten Lebens bannt. Wir entdecken nicht bloß nachträglich die Angepasstheit des Schicksals an den Menschen, den es überkam, wir können dieses Schicksal vorausahnen.

Sonderbarerweise ist das Problem von den Meisten, die sich in neuerer Zeit mit ihm befassten, auf solche Weise hingestellt worden, dass es seinem vollen Umfange nach nicht zu übersehen war. Unter der stoischen Voraussetzung, dass die Ereignisse an und für sich gleichgültig, ἀδιάφοϱα, wären, haben sie diese überhaupt nicht ins Auge gefasst, sondern sich ausschließlich mit ihrer Bedeutung auseinandergesetzt. Das Problem des Schicksals beginnt für sie mit dem Axiom: die Ereignisse des Lebens sind das, was sie für uns bedeuten. Zweifelsohne: im Reich des Geistes schafft die Bedeutung allererst den Tatbestand. Aber dieses Reich bildet nur einen Teil der Wirklichkeit, und das Schicksalsproblem umspannt die Welt. Gewiss, wer sich außerhalb des unmittelbaren Lebens hinstellt, dem können dessen Begebenheiten keine ernstlichen Momente bezeichnen, für den kommt es nur auf die Stellungnahme den Ereignissen gegenüber an, nicht auf diese selbst.

Si la fatalité l’eut voulu, schreibt Maeterlinck, Antonin le Pieux eût été incestueux et parricide peut-être, mais sa vie intérieure, loins de s’anéantir comme celle d’Oedipe, eût été affermie par ces désastres mêmes, et le destin eût pris la fuite, en abandonnant, tout autour du palais de l’Empereur, ses réseaux et ses armes brisées.

Wahrscheinlich; aber damit, dass es für den Weisen kein äußeres Schicksal gibt, weil er von vornherein über ihm steht, ist nicht bewiesen, dass dessen Begriff überhaupt keinem Tatbestande entspricht; damit, dass in bezug auf das eigentliche Schicksal des Weisen alle äußeren Vorfälle gleichgültig sind, ist nicht dargetan, dass dieses immer der Fall sein muss. Das Schicksalsproblem betrifft die allgemeine Beziehung, die zwischen dem Innern und dem Äußern des Menschen herrscht; die Art, wie das Problem sich dem Weisen stellt, bedeutet einen seltenen Sonderfall. Gewiss ist es auch im Allgemeinen wahr, dass die Ereignisse nur das sind, was sie für uns bedeuten — aber dann in einem so allgemeinen Sinn, dass diese Aussage dem Sachverhalt keine neue Bestimmung hinzufügt. Nur die Vorfälle, die das Leben unmittelbar in Mitleidenschaft ziehen, sind für das Leben überhaupt existent, und nur das vermag es zu affizieren, was sich dem Rahmen seiner Eigenart einfügen kann. Wir erfahren nur das, zu wessen Erfahrung wir Organe besitzen. Insofern gibt es natürlich überhaupt nur bedeutsame Vorfälle für uns. Aber dann hat es ersichtlich wenig Sinn, auf der Bedeutsamkeit besonders zu bestehen, da deren Begriff sich hier mit dem des bloßen Daseins deckt. Wird indessen der Satz, dass die Ereignisse nur das sind, was sie für uns bedeuten, in einem engeren Sinn verstanden, so ist er im Großen nicht mehr wahr. In allen Fällen, außer dem des betrachteten Weisen, sind die äußeren Begebenheiten an sich von Bedeutung, sie sind nicht ἀδιάφοϱα; nicht allein das subjektive, auch das objektive Erleiden hat seinen inneren Grund. Wir müssen also den unmittelbaren Sinn der Ereignisse mit ins Auge fassen: nur dann ist das Schicksalsproblem seinem vollen Umfang nach zu übersehen.

Es erweist sich nun, dass das äußere Schicksal des Menschen, soweit der Rahmen, in welchen er hineingeboren ward, und der reine Zufall dies irgend gestatten, mit wunderbarer Genauigkeit die Umrisse des inneren Wesens spiegelt. Diese projizieren sich nicht bloß auf das hinaus, was er tut, sie projizieren sich auch auf das, was ihm widerfährt, auf alles Geschehen überhaupt, das ihm begegnet; so sehr, dass es nur wenige äußere Erlebnisse geben mag, die nicht unmittelbar auf den Charakter des Erlebenden schließen ließen. Wo der Umfang der Seele ein weiter ist, dort erscheint auch das Schicksal weitherzig. Umgekehrt erweist es sich, dass dort, wo ursprüngliche innere Schranken vorliegen, sei dies geistiger oder moralischer Natur, diese Schranken zugleich den Spielraum der äußeren Existenz beschränken, dass die inneren Grenzen zugleich den äußeren Lebensmöglichkeiten die Grenze setzen. Wo der Mensch den Sinn der Ereignisse ganz erfasst hat, vermag er sich ihnen auch anzupassen; dort vermögen sie nichts über ihn. Wo sein Verständnis versagt, dort wird er von den Ereignissen niedergeworfen. Dieses äußere Missgeschick bedeutet aber nichts anderes, als dass der Mensch in seinen eigenen Grenzen erstickt ist. Und dieses langsame Ersticken ist nicht etwa passiver Vorgang, er ruft und führt es meistens selbst herbei. So habe ich noch keinen von seinem Beruf erdrückt gesehen, der nicht unter den meisten Umständen einen Beruf ergriffen hätte, der ihn erdrücken musste, sei es aus Grundsatz, Selbstverleugnung oder Unverstand; noch keinen in der Ehe Verzweifelnden erblickt, der nicht, sofern ihm der Zufall nicht geradezu unter die Arme griff, unfehlbar an falscher Stelle gefreit hätte. Menschen von wirklichem Überblick verlieren selten ihre ökonomische Existenz, großzügige Menschenkenner werden selten dauernd verkannt, die meisten der Künstlertragödien wären mit ein wenig Philosophie und Disziplin zu umgehen gewesen, und wer selber kleinlich ist, wird sein Lebtag von kleinlichem Missgeschick verfolgt. Es gibt weit weniger unberechenbare Ereignisse, als es den Anschein hat, das Allermeiste wäre bei genügendem Weitblick vorauszusehen.

So bin ich überzeugt, dass es einem tiefen Kenner des Menschen Napoleon schon zum Beginn von dessen Siegeslaufbahn hätte möglich sein müssen, ihr Ende vorauszukünden: denn die Katastrophe in Russland war nichts als der unter den gegebenen politischen Verhältnissen einzig mögliche Ausdruck für die ausgesprochenste Grenze von Napoleons Intelligenz: seinen Mangel an ethnologisch-historischem Sinn. Die Grenzen des Menschen zeichnen sich haarscharf auf seinem äußeren Schicksal ab, daher ist dieses aus jenen vorgreifend zu erschließen; mit unbeirrbarem Instinkte wählt er sein Leben lang unter hunderten die Zufälle aus, die ihm gemäß sind; und fast immer wird er genau an dem Punkt vom Verhängnis ereilt, wo seine Beschränktheit ihn wehrlos macht. Dieses gilt sogar von solchen Ereignissen, die als typisch gelten für völlig sinnloses Zufallsspiel. So erscheint die Tragödie des Ödipus als klassisches Beispiel eines unbegreiflichen Missgeschicks: in Wahrheit stellt sie, bis auf den einen allerdings außerordentlichen Zufall, der ihn den Laios im Gebirge erschlagen ließ, die logische und daher leicht vorauszusehende Folge aus den Glaubensvoraussetzungen der damaligen Zeit und dem Charakter des Thebanerkönigs dar. Die wunderbaren Begegnungen, die das Schicksal so vieler entschieden haben, sind meistens gar nicht wunderbar: sie bedeuten lediglich, dass die Affinitäten der Betreffenden unbestimmt an und für sich und unausgesprochen in bezug auf das Ziel ihrer Wünsche gewesen sind; wer der Einzig-Möglichen durch reinen Zufall begegnet ist, dem hätte wohl auch ein anderer Zufall eine solche zugeführt. Es sind nämlich fast immer nur unbedeutende, der Einbildungskraft ermangelnde Menschen, denen außerordentliche Zufälle in den Weg kommen; das will sagen, die gleichen Zufälle wären im Zusammenhang eines großen Lebens wahrscheinlich nicht deutlich, jedenfalls nicht schöpferisch geworden. Das äußere Leben großer Geister erscheint bloß deshalb in der Regel uninteressant und ereignisarm, weil sie zu sehr in der Tiefe leben, um von den Wellen der Oberfläche berührt zu werden. Die großen Menschen sind auch zu bewusst, um durch Zufall auf etwas zu kommen, was mit Notwendigkeit zu ihnen gehört, zu hellsichtig, um, was die Liebe betrifft, in einer partiellen Übereinstimmung, welcher zu begegnen auf die Dauer nicht gut zu vermeiden ist, da jeder Mensch einem fern hin kenntlichen Typus angehört, eine totale zu erblicken. Freilich gibt es auch für große Menschen außerordentliche Begegnungen, die nur einmal möglich waren und für ihr ganzes Leben entscheidend geworden sind: George Sand und Alfred de Musset, Richard Wagner und Franz Liszt, Robert Browning und Elisabeth Barrett, Goethe und Schiller scheinen geradezu füreinander bestimmt gewesen zu sein. Gewiss; aber solche Geister erfahren notwendig voneinander, ihr Ruf verbreitet sich schnell. Und sollten sie nichts voneinander wissen, so erkennen sie sich doch am fernsten Horizonte. Der Mensch ist weit weniger den Ereignissen unterworfen, als er glaubt. Der Verstand vermag Bergstürze unschädlich zu machen. Wessen Lebensumrisse vom Zufall gezeichnet wurden, der hat diesem selber die Hand geführt.

Jetzt begreifen wir ganz, weswegen das Schicksal dem Weisen gegenüber ohne Macht ist: der Weise ist innerlich unbegrenzt. Dem Weisen gilt es gleich, was vorfällt, sein Leben fließt oberhalb der Ereignisse dahin. Daher sind die Umstände seines äußeren Lebens niemals typisch für ihn, sie sind wirklich ἀδιάφοϱα; daher vermag nichts Äußeres ihn zu binden oder zu bestimmen. Seine Seele bleibt vom Äußeren unberührt. Der Weise muss, soweit er innerlich dazu fähig ist, unter allen Umständen glücklich sein, denn seine rein geistige, allgemeine, mehr kosmisch als persönlich zentrierte Natur leidet nicht allein unter keinem Missgeschick so, wie andere darunter leiden, sie vermag auch das höchste persönliche Glück nicht im üblichen Sinn persönlich zu empfinden. Der Weise lebt nicht in der Wirklichkeit, die sich ihm aufdrängt, der brutalen Wirklichkeit des Alltags, er transponiert sie von vornherein in eine geistige Welt, und in dieser erscheint die Trübsal oft schöner, als das ungetrübteste Erdenglück. Der Weise verkörpert freilich einen extremen Fall, so gleichgültig wie er steht kein anderer zu seinem Leben. Aber im letzten Grunde ist jeder, der sich überhaupt zu verinnerlichen gewusst hat, der Macht des Geschickes entrückt; es ist nicht nötig, abseits vom Leben zu stehen, um von den Ereignissen nicht abzuhängen. So hat jeder Held über seinem Schicksal gestanden, die äußeren Umstände recht eigentlich beherrscht. Freilich scheint es anders: der äußere Lebenslauf großangelegter Naturen ist selten ein glücklicher gewesen. Die Hellenen zumal haben ihre Heroen überall als Dulder dargestellt, sie haben es sogar verschmäht, ihre Leiden in Freude ausklingen zu lassen. Der sonnige Achilleus tritt uns zuletzt im Hades als klagender, zu ewiger Freudlosigkeit verdammter Schatten entgegen, Herakles endet elend als Opfer eines Missverständnisses, und von endlosen Irrfahrten endlich heimgekehrt, muss Odysseus, den grimmen Meergott zu versöhnen, alsbald eine neue beschwerliche Wallfahrt unternehmen, wobei Homer geflissentlich verschweigt, ob mit dieser wenigstens seine Leiden ihr Ziel erreicht hätten. Die wunderbare Exaktheit ihres Schauens bewahrte die Griechen davor, die Wahrscheinlichkeit dem Gerechtigkeitssinn zu opfern. Aber was bedeutet der Tatbestand, dass Größe und Leiden meistens zusammenhängen? Durchaus nicht, wie meistens geglaubt wird, dass in dieser schlechten Welt das Leiden der Größe notwendig auf dem Fuße folge; diese moralische Interpretation, wie alle anderen, ist verfehlt. Es bedeutet, dass Leiden und Kampf die Atmosphäre bilden, in welcher Großes am Ehesten zur Reife gelangt. Wir wissen bloß deshalb nur von wenigen größten Menschen, deren Leben durchgängig ein gesegnetes gewesen wäre, wir finden nur deshalb die Sagen vor allem tiefsinnig und lebenswahr, deren Helden vom Missgeschick verfolgt werden, weil Größe im Glück sehr schwer erstehen, noch schwerer sich behaupten kann. Nur in mühevoller Arbeit entwickeln sich die Kräfte, nur im Leiden vertieft sich die Seele, nur in der Anfechtung stählt sich der Charakter. Voll ausgewachsene, bis ins Innerste durchgearbeitete Menschen, deren Werdegang ohne Widerstand verlief, hat es vielleicht niemals gegeben. So sind denn bei den großen Duldern die Leiden nicht die Folgen, sondern umgekehrt die Bedingungen ihres Heldentums gewesen; sie bedeuteten nicht hemmende und vernichtende, sondern gestaltende und schöpferische Mächte. Deshalb ist das Schicksal der Helden wohl oft ein tragisches, kaum jemals ein unglückliches zu nennen. Als innerlich bedingte Menschen waren sie unabhängig von der Außenwelt, ihre Seele erkannte sich in den Umrissen ihres äußeren Lebens nicht wieder. Ist Cäsars Leben ein glückliches oder ein unglückliches gewesen? Wer nur den äußeren Verlauf desselben skizziert, wie ihn ein Magier aus den Sternen hätte herauslesen können, der gewinnt kein Bild des Glücks: eine unharmonische Jugend, Widerwärtigkeiten in der Familie, häufiges Umschlagen des Glückes, langsames Vordringen, viele und mächtige Feinde, langjährige, an Gefahren reiche Verbannung, zuletzt ein jäher Tod. Aber Cäsars Geist hing nicht ab von den äußeren Verhältnissen, er wusste sich in alle zu schicken, sie alle zuletzt zu unterwerfen, und alles dies mit Heiterkeit:

Si nous pouvions sortir un instant de nous-mêmes, fragt Maeterlinck, et goûter le malheur du héros, combien de nous reviendraient sans regrets à leur bonheur étroit?

Cäsars Glück lag in ihm, auch wo er mit der Krone spielte, sein äußeres Geschick begrenzte seine Seele nicht. Unter allen Umständen wäre er wohl im gleichen Sinne glücklich gewesen, unter allen Verhältnissen wäre sein Schicksal ein großes geworden, sein Unglück war niemals symbolisch für ihn. Auch Cäsar, gleich Antoninus, war innerlich unbegrenzt. Nicht ganz freilich: er war immer ein Spieler gewesen, ein Abenteurer zumal in der Generosität. Und diese seine innere Grenze setzte seinem Leben zuletzt das Ziel. Hätte Cäsar weniger mit seinen Feinden gespielt, hätte er sie ernster genommen, der Dolch der Verschwörer hätte ihn vielleicht nicht ereilt.

Woher aber kommt es, dass die Zufälle, an welchen der Mensch kraft seiner Begrenztheit scheitern könnte, in der Regel auch wirklich eintreten? Denn das brauchte doch nicht der Fall zu sein, das äußere Geschehen geht unabhängig vom Einzelnen seinen Lauf. Auch dieses ist kein solches Wunder, dass es nur unter der Voraussetzung einer moralischen Weltordnung begriffen werden könnte. Der allgemeine Naturverlauf ist nämlich überaus gleichmäßig, er ändert sich im Großen nie. Es ist kaum gewagt zu behaupten, dass alle nur möglichen Zufälle in jedem Augenblicke enthalten sind und nur des Stichwortes harren, um in das Leben einzugreifen. Andererseits sind die wesentlichen Anlagen des Menschen jederzeit in Betrieb, die Hauptzüge seines Wesens prägen sich jeder Strecke seiner Laufbahn auf. Wie soll es da ausbleiben, dass gerade die Zufälle, die im Guten oder Schlimmen zum Menschen passen, über kurz oder lang über ihn hereinbrechen? Denn wenn sie eine Gelegenheit versäumen, so findet sich bald eine andere. Man kann seinem Schicksal nicht entgehen, heißt es; dieser Erfahrungssatz besagt nur, dass es dem Menschen beinahe unmöglich ist, das Milieu zu verlassen, in welchem der verhängnisvolle Zufall ihn treffen könnte. Wer wirklich auswandert, im übertragenen wie im eigentlichen Sinne, der entgeht seinem Schicksal immer. Aber es wandert kaum einer unter Tausenden aus. Der Mensch bewegt sich sein Lebtag in den gleichen Kreisen, und treibt ihn bewusste Einsicht zeitweilig aus ihnen hinaus, so gängelt ihn unbewusster Instinkt nur zu bald wieder zurück. Und da findet er die alten Zufälle wieder. Der heiratet trotz allem die Frau, die sein Leben knicken muss, der kehrt trotz aller Vorsätze zum Abenteurerleben zurück, der spürt noch in letzter Stunde das Geschäft auf, das sein Vermögen verschlingt, oder die Freunde, die ihn verraten werden. Nicht minder sicher aber treffen die günstigen Zufälle ein. Wer wesentlich Staatsmann ist, greift sicher einmal in die Geschichte ein, wer Geschäftsgenie besitzt, entdeckt unfehlbar die Konjunktur, die seinen Reichtum begründen muss, und wer Herzen erobern kann, zu dem drängen sich die Frauen. Denn was des Betreffenden Sein nicht vermag, das bewirkt der Glaube der Anderen. Wer einmal Glück gehabt oder Geschicklichkeit bewiesen hat, dem traut man es immer zu, wer einmal das Vertrauen täuschte, dem wird nimmermehr geglaubt. So wird das ursprüngliche Wesen durch Suggestion gesteigert oder umgeformt, der Einzelne wird das, was die Anderen von ihm denken, und die Anderen sehen das in ihm, was sie zu sehen erwarten. Manche haben bloß deshalb immer Glück, weil keiner ihr Unglück sieht, viele sind nur deshalb schlecht, weil niemand ihr Gutes bemerkt. Der Glaube als solcher schon schafft eine wirksame Realität, ja es gibt zuletzt keine lebendige Kraft, die sich als stärker erwiese, als ein festgegründetes Prestige. Durch das Ansehen Ludwigs XIV. als solches sind Ereignisse möglich geworden, die sich aus den Tatsachen an und für sich durchaus nicht ergeben hätten, der bloße Glaube an Hannibals Glück hat lange die Kraft der Römerheere gelähmt. Daher bricht das ganze Glück großer Emporkömmlinge fast immer in der Stunde zusammen, wo der Glaube an sie ernstlich ins Wanken geriet. Der Momente sind viele, die es bedingen, dass uns meistens symbolische Zufälle heimsuchen, das Ergebnis ist eines und unerschütterlich. Deutlich erscheint es nicht überall; die Zufälle stimmen desto besser zum Menschen, je ausgeprägter dessen Wesen ist und je selbstherrlicher er sein Geschick zu gestalten vermag. Wäre Napoleon nicht Kaiser gewesen, sein Ende wäre wohl weniger typisch für ihn geworden, hätte Cäsar das Ziel seines Strebens nicht erreicht, er hätte wahrscheinlich vorsichtiger gespielt. Aber dass nur deutliche Existenzen bedeutsame Zufälle bannen, ist schließlich auch nicht ohne Sinn: wer ohne Charakter ist, hat es schwer, seine Person der Außenwelt aufzuprägen.

So scheint es, dass in diesem amoralischen Weltverlauf doch eine Art Gerechtigkeit zum Ausdruck kommt. Wenn die eigenen Grenzen dem Menschen sein Schicksal vorzeichnen, so bedeutet das nichts anderes, als dass er vom Geschick am Maßstabe seiner eigenen höchsten Vollendung gemessen wird; und dieser Maßstab dürfte gerechter sein als der jeder nur erdenklichen abstrakten Moral. Die universelle Gerechtigkeit äußert sich allerdings nur in solchen Fällen, die ihr wichtig dünken, und diese sind nicht gerade dicht gesät. Über die meisten Schicksale sieht sie hochmütig hinweg. Aber wo sie überhaupt ein Urteil spricht, dort beweist sie bewunderungswürdigen Scharfblick. Denn es zeigt sich, dass das vergeltende Schicksal dann ausschließlich nach dem Wesen fragt. Den gemeinen Mordgesellen hat es, wo es ihn überhaupt beachtete, jedesmal an den Galgen gebracht. Weshalb aber hat es die Untaten großer Staatsmänner kaum jemals als solche geahndet? Weil diese gar keine Verbrecher waren; was sie verbrachen, geschah zu höheren Zwecken, ihre Seele blieb vom Blute unbefleckt. So scharfsichtig und tiefsinnig urteilt das Schicksal meistens, wo es überhaupt ein positives Urteil fällt. Beim Großen bleibt das Kleine ohne Folgen, dem Kleinen wird nichts Großes angerechnet, dem wesentlich Guten pflegt die böseste Einzelhandlung nicht dauernd zu schaden. Was einer abseits von seiner Seele getan, oder ohne direkten Bezug auf sie, dafür spricht ihn das Schicksal nicht schuldig. Daher empfinden wir es auch nicht als gerecht, sondern als tragisch, wenn ein hochgestellter, bedeutender Mann, dessen Leben auf Großes gerichtet war, durch einen kleinen Fehltritt zu Fall gebracht wird, denn in einem höheren Sinn ist solche Vergeltung unbillig. Die indische Weisheit lehrt, vom Wissenden fallen die Handlungen ab, und in der Tat, sie berühren nicht sein Wesen. Jesus Christus hat verheißen, dass dem Wiedergeborenen seine Sünden vergeben würden, denn wirklich, sie hängen mit ihm nicht mehr zusammen. Und das blinde, amoralische Schicksal urteilt meist nicht anders, als die erhabenste menschliche Weisheit. Was Paulus und Augustinus Übles getan, geschah in Unkenntnis ihrer Seele, und die Welt hat sie heilig gesprochen; dass Faust ein Gretchen ins Unglück stieß, hat ihm in den Augen der Menschheit seine vorbildliche Bedeutung nicht geraubt. Das Schicksal beurteilt den Menschen nach seiner Wirkung, und diese spiegelt sein tiefstes Wesen. So mag es sein, dass jene höchste kosmische Justiz, die den Menschen im Zusammenhang des Weltgeschehens beurteilt, nach seiner Fähigkeit an sich, sich zu behaupten, trotz aller Unzulänglichkeiten auch für unsere Begriffe eine höhere Gerechtigkeitsnorm verkörpert, als alle unsere Gesetzbücher.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Das Schicksalsproblem
© 1998- Schule des Rades
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