Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Vom Interesse der Geschichte

Historischer Zusammenhang

Hieraus erklärt sich der Fluch, der auf den Zeiten ruht, welchen der historische Sinn abhanden kam, in welchen abstrakte Überlegung das Leben zu meistern sich vermaß. Gewiss, die Französische Revolution bedeutet, ihrem tiefsten Sinn nach aufgefasst, ein berechtigtes und fruchtbares Entwicklungsstadium. Das Leben war den einstigen Rahmen entwachsen, und da diese von selbst nicht zerfallen wollten, so mussten sie wohl zersprengt werden. Aber was haben die Ideologien von 1789 bewirkt, deren Verwirklichung das bewusste Ziel der Bewegung war? — Die Dezimierung des wertvollsten Menschenschlages, den Frankreich besaß, die Erstickung unzähliger sozialer Lebenskeime, die zeitweilige Unterbrechung der normalen Rassenentwicklung, kurzum, eine Vergewaltigung schlimmster Art. Die dauernde Wirkung der Verirrung war freilich zunächst gering; in dem Sinn, auf welchen es abgesehen war, hat vielleicht gar keine stattgefunden, denn da das Volk seinem Kerne nach gesund war, so setzte es seine natürliche Entwicklung fort, unbeirrt durch die Vorspiegelungen der Theorie. Aber jetzt, wo es seiner physiologischen Erschöpfung nahekommt, so jugendfrisch sein Geist noch immer sei, treten konkrete Folgen der jakobinischen Abstraktionen an den Tag, und diese sind schlimm. Man lasse sich durch zeitweiligen Lebensfrenetismus nicht beirren: Frankreich stirbt. — Was steht unserem ganzen Zeitalter bevor, in dem das Streben immer mehr die Oberhand gewinnt, aus reiner Vernunft heraus, ohne Berücksichtigung der wirklichen Verhältnisse, dem Menschengeschlecht eine bessere Zukunft anzubahnen? — Ohne Zweifel das Gegenteil des erstrebten Glückszustandes, falls das Leben sich nicht noch einmal stärker erweisen sollte, als das tote Gewicht der Theorie, und die Macht, die dem Bösen zustrebt, zum Guten zu ablenkt. Denn der historische Zusammenhang lässt sich nicht zerreißen, ohne dass das Leben selbst dadurch vernichtet oder wenigstens verstümmelt würde. Versetzen Sie einen Wilden plötzlich in das Großstadtleben hinein — Sie bringen ihn um in kürzester Frist. Reißen Sie den Bauern von heute auf morgen aus seinem gewohnten Lebenskreis heraus, und er wird nur zu bald degenerieren. Rauben Sie einem Volk seinen altbewährten Lebensrahmen, zerbrechen Sie ihn aus noch so plausiblen theoretischen Gründen, das praktische Ergebnis wird immer ein verderbliches sein: denn die Geschichte lässt sich nicht spotten. Wie aus dem Kinde durch kein Dekret ein Mann zu machen ist, es muss ihm Zeit gelassen werden, so lässt sich auch die historische Entwicklung nicht wesentlich abkürzen, und wird sie durchschnitten oder in eine falsche Bahn gelenkt — nun, so endet das Leben mit dem Tod. Durch Abstraktionen ist nichts Gutes zu erreichen. Die vollkommensten aller Gesetze, einem Volke aufoktroyiert, das aus Gründen seiner Eigenart unfähig ist, sie als selbstverständliche Lebensformen anzunehmen, erweisen sich als Quellen des Verderbens. Deshalb sind gar häufig Institutionen, die in abstracto höchst mangelhaft erscheinen, besser und zweckmäßiger als alle, die Vernunft je hervorbringen könnte. In England, dem politisch am Höchsten entwickelten Land der modernen Welt, gibt es kaum überhaupt Gesetze in unserem Sinn: die Lebenserfahrung unbegrenzter Generationen, in organische Gepflogenheiten gebannt, gibt dort dem Geschehen die Richtung, und als lebendige Form bringt sie mehr und Besseres hervor, als alle noch so einwandfreie Theorie.

Wir leben allerdings in einer Zeit, in der das Leben durch Abstraktionen sehr ernstlich gefährdet ist. Wir gehören über dies zu einem Reich, dessen Bewohner zum größten Teil noch nicht genügend durchgebildet sind, um sich selbständig organisch zu entwickeln, und das will sagen: um historisch zu fühlen und zu denken. Gesetze werden auf Gesetze getürmt — nehmen wir an, eines besser als das andere; doch der Wert, der sich in der Praxis erweist, steht selten im Verhältnis zu den Vorzügen der Theorie. Sie werden jetzt alle verstehen, dass dem nicht anders sein kann. Aus der Lebensfremdheit heraus ist das Leben nicht zu verbessern. Aber zugleich muss Ihnen allen auch unsere, die baltische Kulturaufgabe deutlicher denn je ins Bewusstsein getreten sein. Wir sind ein Volk, das sich organisch entwickelt hat, wir fühlen historisch, wissen historisch zu denken. Mehr denn je gilt es heute, angesichts immer drohender sich ballender Begriffsgebilde, den historischen Sinn wach zu erhalten und, wo dieser schlummern sollte, zu wecken, denn im Chaos, das uns umgibt, stellen wir einen wenn auch noch so kleinen lebendigen Organismus dar, und das ist gewiss: nur das Volk geht den Weg des Lebens, das sich lebendig fühlt, und nur das darf unbekümmert in die Zukunft blicken, das sich seiner Vergangenheit stolz und kraftvoll bewusst ist.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Vom Interesse der Geschichte
© 1998- Schule des Rades
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