Schule des Rades
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst
Für und wider die Theosophie
Der kritische Philosoph
Der Schreiber dieser Zeilen ist nicht Theosoph und wird so leicht keiner werden. Der kritische Philosoph oder der, welchem Leben Forschen und Forschen Prüfen bedeutet, dem deshalb jede erwiesene Wahrheit, sei diese noch so betrüblichen Charakters, einen größeren Lebenswert verkörpert, als die willkommenste Wahrscheinlichkeit, würde seinem innersten Wesen untreu werden, falls er irgend etwas gläubig akzeptierte, was er nicht wüßte. Nun weiß ich sehr wohl, dass nicht wenige unter den unwahrscheinlichen Tatsachen, deren Wirklichkeit die Theosophie behauptet, Tatsachen sind; doch habe ich mich bisher nicht veranlasst gesehen, die Deutung, welche jene diesen zuteil werden lässt, zu übernehmen. Alle die Phänomene, deren objektive Wirklichkeit schon heute unbestreitbar ist, scheinen mir auch auf andere Weise zu erklären; was aber die betrifft, welche die Annahme der theosophischen Lehre erheischen könnten, insofern als sie anders nicht zu verstehen wären, oder die Wahrheit letzterer unmittelbar erwiesen, so weiß ich nicht mit Gewissheit bisher, inwieweit sie statt-, und ob sie wirklich den Sinn haben, welchen die Theosophie ihnen beilegt. Freilich könnte ich eine Ansicht äußern, und wahrscheinlich erwartet man solches hier von mir. Allein ich habe keine Ansicht über diese Fragen. Man sollte überhaupt nie Ansichten haben, sondern so lange mit allem Urteilen aussetzen, bis dass man weiß; dann wird das Ergebnis, zu dem man gelangt, keiner subjektiven Meinung, sondern objektiver Einsicht Ausdruck verleihen.
Ich weiß also nicht, was die Theosophie, als allgemeine Seinslehre verstanden, wert sein mag, deshalb lasse ich dies Problem ganz beiseite. Indessen gestehe ich, dass sie es mir angetan hat. Es liegt so nah, denen Bewunderung zu zollen, die das wagen, was man selbst zu unternehmen nie gewagt hätte, und die Theosophie ist überdies wirklich überaus anziehend. Sie ist so reizend jung und unerfahren, so alt und erfahren sie sich gibt, sie wirkt wunderbar anregend auf mich in ihrer Tollkühnheit, und gleich manchem jungen Rittersmann, welcher auszog, das Unmögliche zu vollbringen, mag sie’s schließlich noch — bis zu einem gewissen Grad wenigstens — als möglich erweisen. Deshalb möchte ich ihr gern, soweit meine Kompetenz dies erlaubt, in ihrer Weiterentwicklung behilflich sein. Persönlich uninteressierte, aber wohlwollende Zuschauer sind manchmal zu erkennen fähig, was dem Handelnden entgeht. Vielleicht ergeht es mir so im Fall der Theosophie. Diese ist noch nicht arrivée, wie es im Französischen heißt, und dies nicht allein im Verstand des äußeren Erfolges, sondern auch im wichtigeren der inneren Vollendung. Mehr noch: falls ich mich nicht sehr irre, so macht sie eben jetzt eine Krisis durch, möglicherweise die große Krisis ihres Lebens. Falls sie sich heute in der Richtung ihres weiteren Vorgehens irrt, was ihr gar leicht geschehen kann, so mag sie ihre Laufbahn für lange Zeit verfahren. Allein dies braucht ihr nicht zu passieren. Sieht sie nur rechtzeitig einige einfache Wahrheiten ein, die ihr bisher offenbar nicht aufgegangen sind, die ihr aber, falls sie zu sehen willens ist, sobald sie ihr vorgehalten werden, einleuchten müssten, dann wird die Theosophie aller Wahrscheinlichkeit nach ans Ziel gelangen und zu einer wahrhaft wohltätigen Lebenskraft erwachsen. Um hierbei mitzuhelfen, übergebe ich die folgenden Bemerkungen einer weiteren Öffentlichkeit.